Mnterhaltungsblatt des vorwärts Nr. 70. Sonnabend den 8. April 1911 (RflOtinia Ntsoten.) 81 Das Sememäekincl. Erzählung v. Marie v. Ebner- Eschenbach . Pavel sah. daß die alte Dame das Kind an sich gezogen hatte, und daß es in ihren Armen weinte. Dieses Weinen ging ihm jmrch Mark und Bein: dieses Weinen mußte aufhören, dem «nußte er ein Ende machen. Da stieß er auf einmal einen Jauchzer aus, wie er dem Uebermütigsten nicht besser gelungen wäre, und begann in gehöriger Entfernung von der Kutscheipeitsche bärcnplump und emsig Räder und Purzelbäume zu schlagen. Wenn der Atem ihm auszugehen drohte, stand er still, lachte zu der Kleinen hinüber, machte Zeichen und schnitt Gesichter, bis sie endlich in ein fröhliches Gelächter ausbrach. Ach. wie hüpfte ihm das Herz im Leibe, als er einmal wieder ihr liebes Lachen vernahm!— Die Entfernung stoischen ihm und dem Wagen wuchs und wuchs. Pavel lief und sprang nicht mehr: er schritt nur noch, und als er am großen Berge angelangt war. erklommen die Schimmel eben desien steilen Gipfel. Mühsam keuchte er die Höhe hinan, und oben brach er zusammen, mit hämmernden Schläfen, einen rötlichen Schein vor den glühenden Augen. Zu seinen Füßen breitete die sonnenbcglänzte Ebene sich aus, und dort in der Ferne lag die Stadt: einzelne ihrer Häuser schimmerten schneeweiß herüber: die vergoldeten Spitzen der Kirchtürme glitzerten wie Sterne am blauen Tageshimmel. In der Richtung gegen die Stadt schlängelte sich die Straße durch die grünen Fluren, und auf der Straße glitt ein schwarzer Punkt dahin, und diesen Punkt verfolgte Pavel so inbrünstig mit den Blicken, als ob das Heil seiner Seele oavon abhinge, daß er ihm nicht entschwinde. Als es ge- schah, als die Schatten der Auen den kleinen Punkt auf- nahmen und ihn nicht zum Vorschein kommen ließen, streckte sich Pavel flach aus die Erde und blieb so regungslos liegen wie ein Toter... Seine Schwester mar ein Fräulein ge- worden und war fortgefahren in die Stadt. Wenn er jetzt ans Gartentor kam. mochte er nur vorübergehen: mit der Breude, nach der Kleinen auszulugen, war es nun nichts mehr. erb und trostlos fiel der Gedanke an den Verlust seines einzigen Glückes dem Jungen auf die Seele. Gern hätte er geweint, aber er konnte nicht: er wäre auch gern gestorben, gleich hier auf dem Fleck. Er hatte oft seine Existenz vcr- wünschen gehört, von seinem eigenen Vater wie von fremden Menschen, und nie. ohne innerste Entrüstung dabei zu empfinden: jetzt sehnte er sich selbst nach dem Tod: und wenn es einmal so weit gekommen ist mit einem Menschen, kann auch das Ende nicht mehr ferne sein, meinte er. Und steht es einem nicht frei. cS zu beschleunigen? Es gibt allerlei Mittel. Man hält zum Beispiel den Atem an, daS ist keine Kunst: es handelt sich nur darum, daß es lange genug ge- fchieht. Pavel unternimmt den Versuch mit verzweifelter Entschlossenheit, und wie er dabei den Kopf in die Eroe wühlt, regt sich etwas in seiner Nähe, und er vernimmt ein leises Geräusch, wie es durch das Aufspreizen kleiner Flügel hervorgebracht wird. Er schaut... Wenige Schritte von ihm fitzt ein Rebhuhn auf dem Nest und hält die Augen in unaussprechlicher Angst auf einen Feind gerichtet, der sich schräg durch die jungen Halme an- schleicht. Unhörbar, bedrohlich, grau— eine Katze ist's. Pavel sieht sie ganz nah dem Neste stehen: sie leckt den lippenlosen Mund, krümmt sich wie ein Vogen und schickt sich an zum Sprung auf ihre Beute. Ein Flügelschlag, und der Vogel wäre der Gefahr entrückt: aber er rührt sich nicht. Pavel hatte über der Besorgnis um das Dasein deS kleinen Wesens alle seine Selbstmordgedanken vergessen:— So flieg, du dummes Tier! dachte er. Aber statt zu entfliehen, duckte sich das Rebhuhn, suchte sein Nest noch fester zu umschließen und verfolgte mit den dunklen Aeuglein jede Bewegung der Angreiferin. Pavel hatte eine Scholle vom Boden gelöst, sprang plötzlich auf und schleuderte sie so wuchtig der Katze an den Kopf, daß sie sich um ihre eigene Achse drehte und geblendet und niesend davonsprang. Der Bursche sah ihr nach: ihm tyar weh und wohl zu Mute.— Er hatte einen großen Schmerz erfahren und eine gute Tat getan. Unmittelbar, nachdem er sich elend, Verlasien und reif zum Sterben gefühlt, dämmerte etwas wie das Be- wußtsein einer Macht in ihm auf... einer anderen, einer höheren als der. die seine starken Arme und sein finsterer Trotz ihm oft verliehen. Was war das für eine Macht? Unklar tauchte diese Frage aus der lichtlosen Welt seiner Vorstellungen, und er verfiel in ein ihm bisher fremdes, mühe- volles und doch süßes Nachsinnen. Ein lauter Ruf:„Pavel. Pavel, komm her, Pavel," weckte ihn. Auf der Straße stand der Herr Lehrer, den einer seiner beliebten Nachmittags-Spaziergänge bis hierher geführt hatte, und der seit einiger Zeit den Jungen beobachtete. Er trug einen Knotenstock in der Hand und versteckte ihn rasch hinter seinem Rücken, als Pavel sich näherte. „Du Unglücksbub. was treibst Du?" fragte er.„Ich glaube. Du nimmst Nebhühnernester aus?" Pavel schwieg, wie er einem falschen Verdacht gegenüber immer pflegte, und der Schulmeister drohte ihm: „Aergere mich nicht, antworte... Antworte, rat ich Dir!" Und als der Bursche in seiner Stummheft verharrte. hob der Lehrer plötzlich den Stock und führte einen Schlag nach Pavel, dem dieser nicht auswich, und den er ohne Zucken hinnahm. Im Herzen Habrechts regten sich sofort Mitleid und Reue. „Pavel," sagte er sanft und traurig,„um Gottes willen, ich hör nur schlinimes von Dir— Du bist auf einem schlechte» Weg: was soll aus Dir werden?" Diese Anrufung rührte den Buben nicht, im Gegenteil: eine tüchtige Dosis Geringschätzung mischte sich seinem Hasie gegen den alten Hexenmeister bei, der ihn betrogen hatte. „Was soll aus Dir werden," wiederholte der Lehrer. Pavel streckte sich, stemmte die Hände in die Seiten und 5. Die Frau Baronin kam noch am Abend desselben Tage« nach Hanse, aber allein. Ihre Fahrten nach der Stadt wiederholten sich jede Woche den ganzen Sommer hindurch, und man wußte bald im Dorfe, daß ihre Besuche dem Kloster der frommen Schwestern galten, init deren Oberin sie sehr befreundet war. und denen sie die kleine Milada zur Erziehung anvertraut hatte. Das Institut stand in hohen Ehren, und als Pavel hörte, daß seine Sck>wester dort untergebracht war. durchströmte ihn ein Gefühl von Glück und Stolz und von Dankbarkeit gegen die Frau Baronin. Er widerstand auch einige Zeitlang den Aufforderungen Vinskas und der eigene» Lust. Raubzüge in den herrschaftlichen Wald zu unternehmen. Nur eine Zeitlang. Seitdem der alte Förster pensioniert und sein Sohn an desien Stelle gekommen, war der Eintritt in den Wald jedem Unbefugten ein für allemal verboten worden. Das neue Gesetz machte böseL Blut und reizte ge» wältig zu Ucbertretungen. Es bildete sich eine Bande von Buben und Mädeln, lauter Hönslerkindern. deren Führerschaft Pavel übernahm wie ein natürliches Recht. In kleinen Gruppen wanderten sie hinaus, lustig, kühn und schlau. Sie kannten die Schlupfwinkel und gedeckten Stege besser als selbst die Heger und gingen mit köstlichem Gruseln ihren Abenteuern entgegen, die u»r auf zweierlei Weise enden konnten. Entweder glücklich heimkehren. daS gestohlene Holz auf dem Rücken, mit der Aussicht auf Lob und ein warmes Abendessen, oder erwischt werden und Prügel kriegen, an Ort und Stelle wegen Diebercr, und daheim, weil man sich hatte erwischen lassen. Das letztere Schicksal traf selten einen anderen als Pavel, dem es oblag, den Rückzug zu decken, und den man immer im Stiche ließ. weil man seiner Verschwiegenheit sicher war. Der Pavel ver» riet keinen, und hätte er es getan, dem schlechten Buben würde man nicht geglaubt haben. Sein Ruf verschlimmerte sich von Tag zu Tag. Fand sich im Walde irgendeine böswillige Beschädigung vor. fie war sein Werk. Entdeckte man eine Schlinge, er hatte sie ge- legt: fehlten Hühner. Kartoffeln, Birnen, er hatte sie ge- stöhlen. Traf ihn jemand cm und drohte ihm, dann stellte es
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28 (8.4.1911) 70
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