Unterhaltungsblatt des VorwärtsNr. 97.Sonnabend � den 20. Mai.1911lSiachdruck verdslen.)32]Das Gememäekinä.Erzählung v. Marie v. Ebner- Eschenba H.Am Ende der Stadt, in unmittelbarer Nähe der Brücke,stand ein Einkehrhaus und dnvor eine breitästige Linde, dieein paar mit den dünnen Füßen in die Erde eingelasseneTische und Bänke beschattete. Pavel nahm auf einer derletzteren Platz: er war hungrig und durstig und rief nachBier und Brot: aber als das Verlangte ihm gebracht ward,vergaß er zu essen und zu trinken.Im Hofe des Gasthauses ging es lebhaft zu. Ein Stell-tvagen war angekommen und hatte einige Reisende abgesetzt,Von denen sich zwei in lebhaftem Streit mit dem Kutscherwegen des von ihm geforderten Trinkgeldes befanden. Einealte Frau vermißte ein Bagagestück und durchstöberte, zumWerdruß der anderen Fahrgäste, den kleinen Berg von Mantel-säcken und Bündeln, der unter dem Türbogen zusammen-getragen worden war.Diesen Vorgängen schenkte Pavel anfangs nur eine flüch-tige Aufmerksamkeit: aber sie wurde sehr rege, als ihm plötzlichein Kofferchen, ein Pelz und ein Knotenstock auffielen, die erneben dem Eckstein auf der Erde liegen sah. Das waren jadrei alte Bekannte!... besonders der Stock, der hatte ihmeinmal recht lustig auf dem Rücken getanzt.Ohne sich zu besinnen, rief er laut:„Herr Lehrer, HerrLehrerl sind Sie da?" sprang auf und wollte ins Haus stürzen... da trat ihm Habrecht schon mit ausgebreiteten Armenentgegen.„Alle guten Geister! Pavel..."„Woher? wohin?" fragte der Bursche.„Wohin? zu Dir: Dich wollte ich besuchen und treffe Dichauf meinem Wege. Ein glücklicher Zufall, ein gutes Omen!"„Sie haben mich besuchen wollen— das ist schön, HerrLehrer."„Schön? I. warum nicht gar... Aber sag mir nicht,Herr Lehrer— ich bin kein Lehrer mehr... das ist allesvorbei: ich bin ein Jünger geworden, und"— er spitzte dieLippen und zog die Luft mit tiefem Behagen ein, als ob ervon etwas Köstlichem spräche,„und ein neues Leben beginnt."Pavel war erstaunt und sprach:„Hat denn das neueLeben nicht längst begonnen?"„— War nichts, ist durchaus mißraten." erwiderte Hab-recht kopfschüttelnd,„sollst hören, wie. Komm ins Haus.Unter der Linde— ein schöner Baum... werde mich viel-leicht sehr bald nach dem Anblick einer solchen Linde sehnen—ist's mir zu frisch... Komm, lieber Mensch, ich habe vielfür Dich auf dem Herzen und will auch viel von Dir hören,che wir uns trennen, voraussichtlich— auf Nimmerwiedersehen."Er bestellte ein Mittagessen für sich und Pavel, ließ dasbeste Zimmer des ersten Stockes aufsperren und erklärte sichungemein zufrieden, als ihm eine große Stube angewiesenwurde, deren Einrichtung aus zwei schmalen Betten mit hoch-aufgetürmten, rosensarbigen Kissen, aus einem mit Wachs-leinwand überzogenen Tisch und aus vier Sesseln bestand.Auch die trübe Suppe und-�er noch trübere Wein, das ausge-wässerte Rindfleisch und die halb rohen Kartoffeln, die derWirt ihm vorsetzte, begrüßte er mit unbedingten Lobes-erbebungen. Sein eigenes Nahrungsbedürfnis war nichtgrößer als das eines indischen Büßers, aber seinen Gastmunterte er fortwährend auf:„Iß und trink, laß Dir'sschmecken: das Mahl ist gut. und ich würze es Dir mit nütz-lichen Gesprächen, mit der Quintessenz meiner Erfahrungen."Er begann zu erzählen, geriet in iminer erhöhtere Stim-ntung, hielt es nicht lange aus auf einem Platze, sprach jetztstehend, jetzt sitzend, jetzt im Zimmer hin- und herschwirrendund stets mit eigentümlich hastigen Gebärden.,.— Ja. das war ein Irrtum gewesen, das mit demGlauben an die neue Lebenssonne, die ihm in dem neuenWirkungskreise aufgehen würde. Die Gespenster der totenVergangenheit huschten nach in die lebendige Gegenwart undrichteten Verwirrung und Hader an. wo Klarheit und Friedenherrschen sollten. Zu gut hatte Habrecht es machen wollen, zuviel Eifer an den Tag gelegt, sich zu demütig um Gunst be»worden,— dies alles, verbunden mit dem Fleiße, seinesstrengen Pflichterfüllung und makellosen Lebensführung, er-weckte Mißtrauen.„Der Mann muß ein schlechtes Gewissenhaben," sagten die Leute.„Spürst Du was?" fragte Habrecht!„als ich das hörte,grinste das Gespenst mich an, von dem ich im Anfang ge-sprachen habe. War ich gewesen wie einer, der nichts gut zumachen hat— hätt ich's nicht zu gut machen wollen, wäremeinen geraden Weg einfach und schlicht gegangen, unbe-kümmert um fremde Wohlmeinung... Noch eins! Sie sinddort noch viel rabiater tschechisch als hier, mein deutscher Nameverdroß sie: sie haben bei mir deutsche Gesinnungen gesucht,bei mir, dem die Erde eine Stätte der Drangsal ist und jederMensch ein mehr oder minder schwer Geprüfter: ich werdeeinen Unterschied machen: ich werde sagen: am Wohlergehe»dessen, der hüben am Bach zur Welt gekommen, liegt mirmehr als am Wohlergehen dessen, der drüben geboren wordenist... Es gibt eine Nation, ja, eine, die leitet, die führt,die voranleuchtet: alle tüchtigen Menschen.— der anzugehörenwär' ich stolz... Was jeden anderen Nationalitätenstolzbetrifft,—" er griff sich an den Kopf und lachte.„Narrheit,unwürdig des Jahrhunderts. Das ist mein Gefühl... Ge-fällt Euch mein Name Habrecht nicht— sagte ich, nennt michMamvrav, mir gilt das gleich... Nun, damit, daß ich be-reit war, ihnen auch in der Sache nachzugeben, damit Hab ich'sganz verschüttet. Jetzt war ich ein Spion, der sie kirrenwollte, Gott weiß, in welchem Interesse... Und jetzt tratich auf Schlangen bei Tritt und Schritt. Zuletzt konnte ichbeim Bäcker kein Stück Brot mehr bekommen für mein gutesGeld und bei der Hökerin keinen Apfel... O. die Menschen,die Menschen! Man mutz sie lieben— und will ja—, abermanchmal graut einem: es graut einem sogar sehr oft."Die Erinnerung an das jüngst Erlebte drückte ihn nieder:er blieb eine Weile still, bald jedoch gewann seine unvcrwüst-liche Lebhaftigkeit die Oberhand, und neuerdings ließ er denStrom seiner Rede sprudeln und vergaß, von ihm hingerissen,auf die Bcgriffsfähigkeit seines Zuhörers Rücksicht zu nehmen.Pavels Interesse für die Auseinandersetzungen seines altenGönners hatte große Mühe, sich dem mangelnden Verständnisgegenüber, das er ihnen bieten konnte, zu behaupten.Die letzte Prüfung, die Habrecht bestanden hatte, warbitter, aber kurz gewesen. Ein Freund, ein einstiger Schul»kamerad, mit dem er in steter Verbindung geblieben war, er»schien eines Morgens bei ihm als Erlöser- aus aller Pein undNot. Zwischen den Schicksalen beider Männ?r bestand einegewisse Achnlichkeit, und es war die außerordentliche Heber-einstimmung ihrer Sinnesart, die ihren Seelenbund trotzjahrelanger Trennung aufrechterhalten hatte. Sie beschlösse»in der ersten Stunde des Wiedersehens, die Fortsetzung desLebenskampfes Seite an Seite aufzunehmen. Für die Mittel,sich auf das von ihnen gewählte Schlackst feld zu begeben, sorgteder Freund, sorgten die Freunde des Freundes. Diese lebte»in Amerika in Wohlhabenheit und Ansehen und gehörten zuden eifrigsten Aposteln einer„ethischen Gesellschaft", derenZweck die Verbreitung moralischer Kultur war und die täglichan Anhang und Einfluß gewann.„Bekenner einer Religion der Moral nennen sie sich,"rief Habrecht:„ich nenne sie die Entzünder und Hüter- desheiligsten Feuers, das je auf Erden brannte und dessen Lichtbestimmt ist, auf dem Antlitz der menschlichen Gemeinde denWiderschein einer edlen, bisher fremden Freudigkeit wachzu-rufen... Ihre Botschaft ist zu mir gedrungen in Gestaldeines Buches, dergleichen noch nie eins geschrieben wurde...O, lieber Mensch! ein Wunderhuch, und hat bei mir beinahedasjenige ausgestochen, das Du einst. Du Tor. ein Hcxeubuchnanntest... Ich folge der Botschaft: ich gehe hinüber, etwaszu suchen, das ich verloren und ewig vermißt habe: eine An»knüpfung mit dem Jenseits.--- Eines von beiden brauchenwir, wir armen Erdenkinder, ein— wenn auch noch so ge»ringes— Wohlergehen oder einen Grund für unsere Leiden:sonst werden wir traurig, und das ist eines Wackeren un»würdig."