Anterhaltungsblatt des Horwärts Nr. 161. Dienstag> den 8. August� 1911 47] pelle der eroberen Lehrjahre. Roman von M. Andersen NexS. Pelle sah ihn an, bis es ihn in der Brust brannte. Dann nahm er den Meister auf seinen Arm und trug ihn vorsichtig hinaus in den Schneegang.„T-u bist stark. Du, Herr Tu meines Lebens!" Der Meister hielt sich krampfhaft fest, den einen Arm um seinen Hals, während er den anderen in der Luft schwenkte, herausfordernd wie der Kraftmensch im Zirkus.„Hip, hip," er war angesteckt von Pelles Kräften. Vorsichtig wühlte er in der glitzernden Wölbung, seine Augen schimmerten wie Eiskristall, aber in seinem magern Körper raste der Brand. Pelle fühlte es wie ein verzehrendes Feuer durch alle Glieder hindurch. Am nächsten Morgen führten sie den Gang ganz weiter bis an Bäcker Jörgens Treppe, und dann war die Verbindung mit der Umwelt fertig. Da drüben waren im Laufe der letzten vierundzwanzig Stunden große Dinge geschehen. Marie hatte sich bei dem Gedanken, daß der Untergang der Welt vielleicht nahe davor stand, so aufgeregt, daß sie eiligst den kleinen Jörgen in die Welt setzte. Der alte Jörgen war im siebenten Himmel: er mußte gleich hinüber und es er- zählen.„Ein wahrer Teufel ist er, mir wie aus den Augen geschnitten." „Das will ich schon glauben," rief Meister Andres aus und lachte.„Nun bist Du doch zufrieden, Onkel Jörgen?" Aber Jeppc nahm die Mitteilung sehr kühl auf. Ihm gefielen die Verhältnisse da drüben bei dem Bruder nicht. „Freut sich Sören über den Jungen?" fragte er vorsichtig. „Sören?" Der Bäcker stimmte ein schallendes Gelächter an.„Der denkt nur an das jüngste Gericht und betet zum lieben Gott, der!" Späterhin am Tage hörte man den Klang von Schaufeln. Die Arbeiter waren da draußen: sie säuberten den einen Bürgersteig so weit, daß man gerade hindurchkommen konnte. Die Fahrstraße hing oben in der Höhe des Daches. Nun konnte man ja wieder an den Hafen hinabkommen, das war ebenso, als wenn man nach einem Erstickungsanfall wieder Luft bekommen konnte. So weit das Auge reichte, breitete sich das Eis aus. Auf die hohe Kante gepackt und mit langen Schanzen starrte es dort, wo die Brandung gerast hatte. Ein Orkan war im Anzüge.„Gott sei Dank," sagten die alten Seeleute,„jetzt spaziert das Eis davon!" Aber es rührte sich nicht. Und dann wußte man ja, daß das ganze Meer zu- gefroren war. Da konnte kein offener Fleck so groß wie eine Tischplatte für den Sturm sein, um von dort aus seinen Angriff zu beginnen. Aber ein wunderlicher Anblick war es, das Meer tot und leblos daliegen zu sehen, wie eine steinerne Wüste mitten während dieses verheerenden Sturmes. Und eines Tages kam der erste Bauer zur Stadt und brachte Nachricht vom Lande. Die Gehöfte da draußen waren eingeschneit: man mußte sich einen Gang in das offene Feld hinaus graben und die Pferde eins nach dem andern da hin- durch führen: von Unglücksfällen wußte er jedoch nicht zu be- richten. Jeglicher Betrieb stockte, niemand konnte sich zu etwas gufraffen: es mußte auch gespart werden, namentlich an Kohlen und Petroleum, die beide auszugehen drohten. Tie Kalifleute hatten schon im Ansang der zweiten Woche gewarnt. Da begannen die Leute, zwecklose Taten zu verrichten. Sie bauten wunderliche Dinge aus Schnee oder begaben sich auf die Wanderung über das Eis von Stadt zu Stadt. Und eines Tages rüsteten sich ein Dutzend Männer, um mit dem Eisboot nach Schweden zu gehen und die Post zu holen. Man konnte die Nachricht von der Welt da draußen nicht länger entbehren. Auf Christiamö hatten sie die Notslaggen gehißt: man sammelte Vorräte, hier ein wenig, dort ein wenig, und rüstete sich, eine Erpedition hinüber zu senden. Nun kam die Not dahergcwandert. Sie wuchs aus dem verschlossenen Erdboden hervor und ward das einzige Ge sprächsthema. Aber nur die, die ihr Schäfchen einigermaßen im Trockenen hatten, sprachen darüber, die Notleidenden schwiegen. Man rief die Wohltätigkeit an: da waren ja löjerregravs fünftausend Kronen in der Kasse. Aber die waren nicht da. Reeder Monsen behauptete, Bjerregrav habe sie seinerzeit zurückerhalten. In Bjerregravs Nachlaß befand sich kein Beweis für das Gegenteil. Nun, die Leute wußten« ja auch nichts Bestimmtes, und die Sache gab immer reichlich Stoff zu einer Unterhaltung. Wie dem nun auch sein mochte, Monsen war der große Mann wie immer. Er gab tausend Kronen aus der eigenen Tasche für die Bedürftigen.- Ueber das Meer hin gingen viele Augen, aber die Männer mit dem Eisboot kehrten nicht zurück. Das Mystische „da draußen" hatte sie verschlungen. Es war, als sei die Welt ins Meer gesunken, dort hinter der holperigen Eis» 'läche, die bis an den Horizont reichte, lag jetzt der Abgrunds Die„Heiligen " waren die einzigen, die sich regten: sie hielten überfüllte Versammlungen ab und sprachen über den Untergang der Welt. Alles andere lag wie tot da. Wer kümmerte sich unter diesen Verhältnissen wohl um die Zu- kunft? In der Werkstatt saßen sie mit Ucberrock und Mütze und froren: der Rest Kohlen, der noch da war, mußte für den Meister aufgespart werden. Pelle war jeden Augenblick da- drinnen. Der Meister sprach nicht mehr viel, sondern lag da und warf sich hin und her, die Augen zur Decke empor- gerichtet. Aber sobald Pelle gegangen war, klopfte er wieder, Wie mag es jetzt wohl gehen?" fragte er müde.„Lauf nach dem Hafen und sieh, ob das Eis sich nicht bald lichtet. Es gibt o viel Kälte: die ganze Erde wird ja auf diese Weise ein Eisklumpcn.-- Heute abend halten sie gewiß wieder eine Versammlung über das jüngste Gericht ab. Laus hin und höre, wie sie darüber denken." Pelle lief und kam mit dem Bescheid, aber wenn er kam, hatte der Meister es in der Regel schon wieder vergessen. Von Zeit zu Zeit konnte er melden, daß das Meer als blauer Schimmer zu sehen sei, ganz hinten im Eis. Dann leuchtete es auf in den Augen des Meisters. Aber bei der nächsten Meldung war das Ganze wieder aus.„Das Meer frißt das Eis noch, das sollst Du sehen," sagte Meister Andres wie aus weiter Ferne.„Aber vielleicht kann es nicht so viel verdauen. Dann gewinnt die Kälte die Oberhand, und fertig sind wir!" Aber eines Morgens trieb die Eismasse dem Meere zu, und hundert Männer machten sich daran, die Einfahrt mit Dynamit von Eis zu säubern. Es waren drei Wochen der- gangen, seit man Post von der Außenwelt erhalten hatte, und der Dampfer ging aus, um nach Schweden zu fahren und Nachrichten einzuholen. Er wurde da draußen von dem Eis erfaßt und nach Süden zu gewalzt: vom Hafen aus konnten sie ihn in einem Zwischenraum von Tagen im Eisgang vor- überwandern sehen, bald nach Norden und bald nach Süden. Endlich zersprangen die schweren Banden ganz. Aber es war hart für die Erde und die Menschen, sich wieder auf- zurichten. Alles hatte einen Knacks bekommen. Der Meister konnte den Umschlag von dem scharfen Frost zur Tauluft nicht wieder verwinden. Wenn der Husten nicht in ihm zerrte, lag er ganz still da.„Ach, ich leide so schrecklich, Pelle!" klagte er flüsternd.„Schmerzen habe ich nicht, aber wie ich leide, Pelle!" Aber dann eines Morgens war er guter Laune.„Jetzt bin ich über den Wendepunkt hinaus," sagte er mit schwacher, aber festlicher Stimme.„Nun sollst Du nur sehen, wie schnell ich mich erhole. Welchen Tag haben wir heute eigentlich?— Donnerstag? Tod und Teufel, dann muß ich ja mein Los erneuern. Ich bin so leicht, die ganze Nacht bin ich durch die Luft geschwebt, und wenn ich nur die Augen schließe, dann fliege ich wieder. Das ist die Kraft in dem neuen Blut. Zum Sommer bin ich ganz gesund. Tann will ich hinaus und die Welt sehen! Aber, zum Teufel auch, das Beste kriegt man ja doch nie zu sehen, den Weltenraum und die Sterne und das alles! Dann müßte man ja fliegen können. Aber über Nacht bin ich dagewesen." Tann übermannte ihn der Husten wieder. Pelle mußte ihn aufrichten: bei jedem Stoß klang es wie ein nasses Klatschen in ihm. Er hielt die eine Hand aus Pelles Schulter und stützte die Stirn gegen seine Brust. Plötzlich verstummte der Husten, die weiße, knochige Hand krallte sich schmerzhaft in Pelles Schulter.„Pelle, Pelle!" stöhnte der Meister und sah ihn in schrecklicher Angst mit seinen brechenden Augen an. „Was er nun wohl sehen mag." dachte Pelle schaudernd und legte ihn in die Kissen zurück.
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28 (8.8.1911) 151
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