— 614— Nicht gerichtet wurden, sondern wo ihnm die Verheißung des tausendjährigen Reiches zuteil ward. Pelle kannte sie alle, sowohl die, die er früher gesehen hatte, wie auch die andern mit demselben Ausdruk des Ertrinkens. Er fand sich bald traulich zurecht unter allen diesen kleinen zerzausten Vögeln, die sich von dem starken Wind hatten über das Meer tragen lassen und nun von den Wellen an Land geschwemmt wurden. Ein großer Mann mit Vollbart und ein paar guten Kinderaugen stand zwischen den Bänken auf und schlug einen Gesang vor. es war Schmied Tam. Er sang vor und stand da und knickte zum Takt in die Kniee ein, und alle sangen sie bebend mit, jeder mit seinem eigenen Ton, von dem, was über sie hingegangen war. Gequält schwangen sich die Töne hinaus aus den trockenen, zerstörten Kehlen, sie krochen zu- sammen, erschreckt darüber, daß sie ans Licht gekommen waren. Zögernd entfalteten sie ein paar zarte Florschwingen und schwangen sich von den zitternden Lippen in den Raum hin aus. Und unter der Decke trafen sie mit Hunderten von Ge schwistern zusammen und streiften die Verkommenheit ab. Sie wurden zu einem Jubel, groß und herrlich, über etwas ungekannt Reiches, über das Glücksland, das nahe war. Pelle war es, als sei die Luft angefüllt von sonnenbeschienenen Schmetterlingen—: „Selig, selig wird einstmal es sein, Wenn wir von Not und Elend befreit, Mit unserem Herrn Jesus gehen ein Zu des Himmelreiches Herrlichkeit." „Mutter, ich bin hungrig," sagte eine Kinderstimme, als der Gesang schwieg. Die Mutter, eine abgezehrte Frau, be- schwichtigte beleidigt das Kind und sah sich verwundert um — was war das nur für ein dummer Einfall.„Du hast ja eben erst gegessen." sagte sie lauter, als sie es nötig hatte. Aber das Kind weinte weiter:„Mutter, ich bin so hungrig. Da kam Bäcker Jörgens Sören heran und gab der Kleinen einen Wecken. Er hatte einen ganzen Korb voll Backwerk.„Sind da noch mehr Kinder, die hungrig sind? fragte er laut. Er sah allen frei ins Auge und war ein ganz anderer als zu Hause. Hier lachte auch niemand über ihn, weil man munkelte, daß er der Bruder seines eigenen Sohnes sei, <Fortsetzung folgt.ss Sine poliziftcnverfcbwörunöf unter dem Konfulat« (Schluß.) Vetrachten wir nun die in das angebliche Komplott verwickelten Personen ein wenig näher. Demerdille. der mallontente Beamle, ist d-r unintcressanieste unter ihnen. Ungleich merkwürdiger ist die Persönlichkeit und der Lebenslauf CeracchuZ. Der 17öS in Rom ge- boren« Künstler, ein begabter Schüler CanovaS, hat zu Bonapartes persönlichen Freunden gehört. Der Ursprung dieser Freundschaft war ein Erlebnis Bonoparlcs. Ceracchi hat diesem künftigen Konsul zur Zeit, da er noch ein einfacher Offizier war. in einer gefährlichen Situation beigestanden, als zwei Strolche in einem engen Gäßchcn Händel mit ihm suchten. ES folgte ein enger Verkehr. dessen Vertrautheit die gemeinsame Armut und die Gleichheit hoch- fliegender politischer und sozialer Ideale steigerte. Es war in den Tagen, da sich Bonapatte als Schützling B u o n a r o t t i s zu den Ideen Bab oeu sS bekannte und mit den entschiedensten Jakobinern in Beziehungen stand. Die Freundschaft erkaltete rasch, als Ceracchi, nach Italien zurückgekehrt, Bonaparle alS siegreichen, durch seine Er- folge stolz gewordenen, von maßlosem Ehrgeiz erfüllten General wiederfand, der den Gefährten seiner Sorgentage kalt als Signor anredete und seine alten Ideale offenbar preisgegeben hatte. Gleich- wohl versuchte Bonaparte noch nach seiner Rücklehr aus Aegypten Ceracchi, der unterdes nach Frankreich halte fliehen müssen, wieder zu gewinnen. Aber Ceracchi taugte nicht zu der ihm zu- gedachten Höflingsrolle. Sl» sich Bonaparte von ihm modellieren ließ, schlug er in den Sitzungen hartnäckig das alte kameradschast- lich«„Du" an und dem Mater David, der mit Anerbielungen von Titel und Gehalt zu ihm kam. hielt er eine Strafpredigt über politisches Verrätertum, die dem Freund RobeSpierreS und MaratS und nachmaligem Baron wenig erfreulich fein ksnme. Ceracchi kam nicht mehr zu Bonaparte, und die Büste blieb unvollendet. Zu CeracchiS Freunden gehörte damals der Historienmaler Topino-Lebrun. ein sehr talrittiener Schüler Davids, aber in seinen politischen Ideen ausdauernder al» sein Meister. Er war Geschworener de« RetuvottonSlribunal» gewesen, wurde aber seiner Mäßigung wegen unter Anklage gestellt und dankte lein Heil nur dem S. Thermidor. In der Folge wurde er in den Prozeß gegen Baboeuf verwickelt, aber aus Mangel an Beweisen freigesprochen. Im Kreise der italienischen Flüchtlinge kam Ceracchi in Be« rührung mit dem ehemaligen Notar Diana, der von den 35 SouS täglich, die die Negierung den im französischen Exil lebenden Ausländern ausgesetzt hatte, ein armseliges Dasein fristete. Diese Bekanntschaft sollte Diana in schlimme Händel bringen. Eine bedeutendere Rolle in der Affäre war dem schon erwähnten Joieph Arena zugedacht. Dieser 29 jährige pensionierte Brigade- chef der Gendarmerie, ein ehemaliges Mitglied des Corps legislatif, geHörle einer korsischen Familie an, die mit den Bonaparte in bitterster Feindschaft lebte, die sich den Gebräuchen der Insel gemäß auf dem politischen Gebiet fortsetzte. Ein Bruder Joseph Arenas, Jean Barthelömy, hatte als Mitglied des Rots der Fünfhundert angeblich Bonaparte am 13. Brnmaire erdolchen wollen, als dieser die Vertreter der Ratton durch seine Grenadiere aus dem Sitzungssaal rreiben ließ.— Joseph Arena wurde, vermutlich auf Wunsch Fouchös, der ein besonderes Vergnügen dabei empfand, just die Korsen und Italiener in der Affäre zu kompromittieren, als daS Haupt der Verschwörung hingestellt. Erwähnt sei auch die der- dächtige Rolle, die ein Veiter Demervilles, Raymond de Barenncs, Exadvokat und Exrevolutionär, ehemaliges Mitglied der gesetz- gebenden Versammlung und des Rats der Alten, in der Affäre ge- spielt hat. Er war es, der Ceracchi bei Demervrlle eingeführt hatte. Barenncs erstattete Lonnes die Anzeige, daß in der Oper etwas gegen den ersten Konsul vorbereitet werde. ES scheint nach den Akten, daß zuerst in den Prozeß verwickelt werden sollte, aber um seiner Denunziation willen verschont wurde. Manches spricht dafür, daß er von Anfang an in dieser Sache der Polizei Dienste leistete, also eine ähnliche Rolle wie Harcl spielte, wenn auch vielleicht nur aus Feigheit. Der Abend der Premiere war gekommen. Nach Harels Aus- sagen sollte Ceracchi ihm im Tbealercafö Billette für die vier Mit- ver'chworenen bringen, Demerville dagegen mit einer großen An- zahl junger Leute im Tribunalpalais warten, um sofort nach der vollbrachten Tat zur Oper zu eilen und den Attentätern die Flucht zu sichern. Ceracchi kam aber nicht. Harel wurde nervös und entschloß sich nach einer Stunde Wartens, zwei Billette zu nehmen, mn mit einem der Agenten das Theater abzusuchen. Kurz nach Beginn des ersten Aktes kam er endlich in Begleitung Dianas, der nach der Aussage Harels die Tat vollbringen sollte. Die im Theater diensthabenden Polizcibeamten wurden verständigt und nahmen beide fest. Weder Ceracchi noch Diana hatten Waffen bei sich. DaS Geruckt von einem Attentat verbreitete sich rasch nn Pnbli- knm und verschaffte dem ersten Konsul bei seinem Ericheinen eine rauschende Ovation. Den Zeitungen aber wurde von den Konsuln Auftrag gegeben, die Sache so darzustellen, als ob es sich um Brand- stister gehandelt hätte. Bonaparte liebte es nicht, öffentlich koustattert zu sehen, daß seine Beliebtheit nicht ganz allgemein sei. Es folgte nun eine Verhaftung der andern— im ganzen wurden 19.Verdächtige" festgenommen, darunter die Haushälterin Demer- villeS. ihre zwei alten Courmacher, der Arzt Demervilles und einige angesehene Leute, denen nichts vorgeworfen werden konnte, als daß sie Italiener waren. Demerville selbst, der am kritischen Taa in den Tuilerien spazieren gegangen war, stellte sich naiver Weis« selbst. Topino-Lebrun versteckte sich und wurde erst später zusällig ver- hastet. Die Untersuchung führte Bertrand. Es war keineswegs leicht. einen glaubbasten«chuidbeweis zu führen. Von den.Attentätern" waren lediglich die Polizisten bewaffnet gewesen, die Tatsache d«S Theaterbesuchs allein konnte Eeraccchi und Diana nicht genügend belasten. Demerville halte, statt die»jungen Leute" zu komrnan- dieren, herumgebummelt. Gegen Arena und Topino-Lebrun log nur die schwankende Aussage Harels vor, der bald den«inen, bald den anderen bezichtigte, die übrigens kaum fertiggestellten, ganz roh ge« arbeiteten Dolche geliefert zu haben, und die sechs fehlenden, an» geblich bei Demerville zurückgelassenen Dolche waren nicht zur Stelle zu bringen. Benraud hals indes nach, wo der Tat- bestand versagte. Er bedrohte die Angeklagren, die nicht nach einem Wunsch aussagten, mit der sofortigen Füsilierung, fälschte die Protokolle und wendete schließlich, da nichts helfe»« wollte, die Holter an. Der noch immer kranke Demerville gab nach,«IS man ihn nackt in die Zugluft eines halboffenen Fenslers stellte und ließ sich zu einem.Geständnis" herbei. Foucks und Berttand waren bemüht, der Affäre einen möglichst großen llrnfang zu geben und sie mit den Affären der zahlreichen anderen, in derselben Zeit verhafteten Rep»iblikoner zu verbinden. Leute, die sich mündlich oder schriftlich ungünstig über den ersten Konsul geäußert hatten, wurden mit.Attentätern", deren Gesährlich- keit zumeist wohl mit der der Demerville und Genossen aus einer Linie stand, von der Polizeipbantosie zu einer furchtbaren Gesellschaft von.Tyrannicides "(Tyrannenmürdern) vereinigt. Bonaparte selbst hatte Fouchü angedeutet, in welcher Richtung er die Untersuchung geführr wünschte..Sehen Sie, ob nicht Sabicelli dabeiist!" yarte er ihm gesagt. Sabicelli ivar ein alter Freund BonaparteS und ehemaliges Konventsmitglied. Es handelte sich also darum, möglichst viel Gegner deS Konsuls, Republikaner und Babouvisten zu kompromittieren und wenn nicht ihre Berrrrteilung, so doch ihre Deportation zu ennöglichen. In diesem Sinne leitete Bertrand die Untersuch»mg. Die Anklage wurde schließlich gegen 8 Personen erhoben. Die Verhandlung wurde mit schadloser Parteilichkeit geführt. Die An»
Ausgabe
28 (11.8.1911) 154
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