Anterhaltungsblatt des Vorwärts
Nr. 192.
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Mittwoch den 4. Oftober.
( Nachdruck berboten.)
Vor dem Sturm.
Roman bon M. E. delle Grazie. Wie sie aber so stand und kein Auge von dem eigenen Antlik wandte, da war ihr plöblich, als höre sie die eigene Stimme laut werden, ohne daß sie's wollte, ohne daß sie ihr gebieten fonnte. Jezt schaut m'r der Teuf'l über die Schulter." Hatte sie das wirklich gesagt oder bloß gedacht? Sie konnte darüber nicht klar werden. Je dichter aber die Schatten der Dämmerung über sie niederglitten, desto bänger und wunderlicher wurde ihr jetzt ums Herz. Denn sie wurde es nicht los.... Schon den ganzen Tag sah sie nur mehr ihn vor sich, der sie nicht vorgelassen und den sie morgen sehen würde, ganz gewiß, wie sie sich immer wieder borsagte.
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Wie das sein wird?" ging es ihr durch den Kopf, während sie nun wieder bei Mutter und Schwester saß. Und was er sagen wird," fragte sie sich.
Da schnitt ihr plöglich ein flägliches Geheul die Gedanken ab. Ein Geheul, das so grausig und unheimlich in das tiefe Schweigen der drei Frauen hineinklang, daß die Bäuerin ganz entsetzt auffuhr.
Du mein, sollt dös am End unser Hektor fein?" Die Lippen halt geöffnet die Wangen von einer Glut übergossen, die ihr heute wie etwas Fremdes im Blut lauerte, stand Annaliese eine ganze Weile sprachlos da. Plötzlich schlug sie sich vor die Stirne. Jessas! Sein Fuada hot er no nit friagt!" Damit eilte sie hinaus.
„ Frzt schau ober dazua," schalt die Bäuerin hinter ihr drein. Und die Rosala meinte leise:' s is nur guat, doß' s funst nir is, sunst funnt ma schier moana..
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Sei stad," herrschte sie die Bäuerin an. Aber diesmal fam sie doch zu spät.
„ Dok Dan's sterb'n wird," sprach die Rosala in die Dunkelheit hinein.
Wos Du oll's z'sammred'st," greinte Rest ,,, moch' liaber Feuer on in der Kuchl !"
" Sog's jo nit i, sondern die Leut," murrte die Rosala. Und als sie hinausging, zog sie ihren Spenzer mit beiden Händen vor der Brust zusammen. Ein Schauer war ihr über den Leib gelaufen.
In grauer Morgenfrühe brach Annaliese auf. Eine große Schwinge am Arme, schritt sie barfuß zwischen Wiesen und Feldern hin, die taunaß und dampfend dalagen, wie von filbern.n Schleiern überwallt. Der uralte Buchenforst, zwischen dem sich die„ Dedung Petrowitz" austreitete, lag im Westen und starrte mit seinen dunklen Wipfeln wie eine schwarze Mau.r vom Rand des Horizontes herüber. Es war weit dahin und wollte Annaliese den gnädigen Herrn " d'erwisch'n", mufte sie flink sein. Der große Hahn balzte nur bor Sonnenaufgang. Hatte der Graf aber seine Beute, pflegte er in der Jagdhütte den versäumten Schlaf nachzuholen. Oder es fiel ihm anders ein und er fuhr sogleich nach Hause, um es noch bequemer zu haben. Es waren dies Möglichkeiten, auf die der Merikaner" das ratlose Mädchen in scheinbarer Fürsorge aufmerksam gemacht. Schau sie also zu, wie sie ihn erwischt," hatte er ihr noch unter dem Tores Schlosses nachgerufen. Ein Kniff, der sie bis zuletzt in Sorge und Spannung erhalten und auch das leisest. Mißtrauen in ihrer Seele erstiden sollte. Der Mann, der si. so hinter sich herlaufen ließ, konnte nicht mehr verliebt sin. Das sollte sich die hochmütige Dirne sagen. Und sie sagte fichs auch, während sie jetzt dahinschritt, immer tiefer in die Einsamkeit hinein, ganz allein mit sich und ihren Gedanken. Was nüßte es auch, wenn der Schönbacher Schreiber die Sache in die Hand nahm? Der hatte schon so vieles verdorben! Und fam man endlich zu seinem Recht, fostete es einen Haufen Geld. Die Herrschaft aber behielt den Bauer dennoch unter der Fuchtel, bis zuletzt. Da war es schon besser, mun bat um gnädige Nachsicht und brachte alles wieder ins alte Gleis. Auch wenn es der Vater anders wollte.
So ganz von ihren Gedanken eingesponnen, fiel es der Annaliese nicht einmal auf, daß sie noch immer allein Llieb, weder vor sich noch hinter sich eines der alten Weiber oder
1911
Mädchen sah, die man mit ihr zur Klaubung" befohlen. Sie war wohl auch um vieles früher aufgebrochen als die anderen und wenn sie es recht bedachte, war es nicht bloß die Angst, den gnädigen Herrn zu verpaffen, die sie so früh aufgejagt hatte. Auch ihrer Eitelkeit fiel ein Teil daran zu, der Eitelfeit, die sich so lange in der Vorstellung gefallen, daß es der gnädige Herr" schier nicht mehr aushalten könne ohne sie. Wenn er sie aber da draußen wieder nicht an sich heranließ? Ihr vielleicht gar ein barsches Wort gab oder sie wieder fortweisen ließ, wie gestern, während sie auf den Knien b.r ihm. lag, die Hände gefaltet! Wenn nun gar die anderen schon da wären! Sie fonnte ihnen ja nicht die Augen verbinden. Abends würde es das ganze Dorf wissen und wie die Menschen sind.... Am Ende hieß es vielleicht noch, daß sie selfst den Herrn Grafen ins Gerede gebracht! Sam eines nur so recht ins Unglück hinein, fanden sich immer noch einmal so viel Hände als nötig, den lieben Nächsten zu steinigen.
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Maria," betete sie: Nur das nicht nur das nicht!" Ja, wenn alles so fommen sollte, wie sie es wünschte und brauchte mußte fast ein Wunder geschehen!
Da und dort piepften schon leise die Vögel auf. Aecker und Wiesen gaben einen herben Duft von sich. Die filbernen Schleier, die Fisher wie eine glatte Decke über den grünen Flächen gelegen, begannen sich im Morgenwind zu heben und wie durchsichtige Gestalten emporzurecken. Als glitte ein grauer Gespensterreigen dahin, vom ersten Lichtstrahl aufge scheucht, Hand in Hand, mit lang nachflatternden Gewändern.
,, Nur schon dort sein, nur schon dort sein!" dachte die Annaliese. Als sie jedoch einen Blick nach rückwärts marf, merkte sie, daß sie noch immer die Einzige war, die auf dem langen Wege dahinlief. Die Strecke vor ihr aber war doch um vieles fürzer geworden und der Wald, er bisher wie eine dunkle Mauer am Horizont geftanden, bekam langsam Farbe und Form und begann mit den grünen Zweigen herüberzuwinfen. Wie ein geheimnisvolles Nicken war's, das ihr wieder Ruhe gab und eine Gewähr schien für die Erfüllung dessen, was sie von diesem schweren Gang erwartete.
wurden von den Wiesen abgelöst; ihnen folgten die KartoffelSchon stieg der Pfad langsam an. Die Weizenfelder äcker . Zuletzt bersank der Weg in einer Mulde. Hatte sie die hinter sich, stand sie schon am Rande des Waldes. Dann ging es immer tiefer in das grüne Schweigen hinein, über knorrige Wurzeln, unter aufschauernden Wipfeln dahin bis plöglich die Heide im goldigen Schimmer der Ginster- und Kümmelblüten dalag, still, atemlos, wie berzaubert,„ Dedung Peblüten dalag, still, atemlos, wie verzaubert,„ Dedung Pe
tromit"!
Blötzlich flog ihr ein leiser Schrei über die Lippen. Dork stand ja die Jagdkalesche des gnädigen Herrn. Knapp am Bande der Mulde. Die Pferde graften die Böschung ab. Der Rutscher saß am Bod und duselte vor sich hin.
,, Da bin ich!" dachte das Mädchen. Und während ihr Blick noch einmal den ganzen, langen Weg zurüdlief, atmete fie wie erlöst auf.„ Niemand wird es sehen, niemand!" dachte sie und sie lief förmlich an der Kutsche vorüber, bis Brombeerhecken und Haselbüsche mit leisem Geraun hinter ihr zusammenschlugen.
Von den Zweigen, die im Morgenwind langsam auf- und niederwippten, fiel ihr der Tau ins Gesicht, blanke, frische Tropfen, die ihr die brennende Stirn fühlten. Ein Waldfauz, der sich zu lang auf der Jagd herumgetrieben, huschte torkelnden Fluges an ihr vorüber, wie geblendet von der Tageshelle, die allmählich auch in die grüne Wildnis einbrach. Da und dort hob ein äsendes Neh den Kopf und sah mit großen Augen nach ihr, wie unschlüssig, ob es fliehen oer stehen bleiben solle. Die Schmetterlinge hingen noch mit geschlossenen Flügeln an den Blumen. Aber Käfer und Fliegen begannen schon die Stille mit ihrem eintönigen Gesumme zu erfüllen. Nun stöhnte eine Rohrdommel auf. Ganz deutlich Klang ihr Ruf durch das Dickicht herüber. Da waren die Deiche nicht mehr weit und mit ihnen die Dedung.
Hatte der Graf den Hahn angesprungen, ließ er sich von seinem Leibiöger wieder über den Teich nach der Jagdhütte rudern. Auch das hatte der Merikaner der Annaliese gesagt,