Sie küßt« ihn und legte ihm die Hand sauf die fieberheiße Stirn. Und dann erhob fie fich und trat festen Schrittes vor Herrn Reinhold Wolfram: „Wem soll das Kind gehören?* fragte sie.„Das Kind, dem ich zweimal das Leben rettete und das an mir hängt?" Der Angeredete neigte die Stirn: »Es soll Ihnen sein, Frau Marie I Ich verzichte! Denn ich sehe, Ihre Liebe ist stärker, als die meine— sie hat den Tod be- zwungen— das kann die meine nicht!" Leisen Schrittes ging er aus dem Zimmer. Frau Marie aber neigte sich über den Knaben und fragte ihn: „Willst Du hier bleiben, Reinhold, oder bei mir?" Kein Wort sprach der Knabe, aber seine Arme legte er um die Mutter und herzte fie so stürmisch, daß fie sich seiner Liebkosungen erwehren mutzte. So aber kam eS, daß eine tapfere Frau sich endlich ihr Kind erobert hatte.-- Lcbcnspaufcn« Von C. S ch e n k l i n g. Geburt— Leben— Tod, das sind die drei Etappen im Kreis- lauf der organischen Natur, aber es gibt noch eine wohl nicht weniger wichtige, die wir an diesem oder jenem Geschöpf beobachten können.„Lebenspause" dürfte man diese wichtige Einrichtung in der Natur nennen können, nach der Organismen ohne Schädigung durch vollständige Unterbrechung aller Lebensvorgänge in einen zeit- weisen Ruhestand versetzt werden. Mehr als anderthalbtausend Jahre hat eine solche bekannt gewordene Lebenspause gewährt. Beim Anlegen eines Weinbergs in der Dordogne stieß man auf römische Gräber und fand in den steinernen Sarkophagen Haufen von Samenkörnern. Die Schädel der Skelette ruhten darauf wie auf Kissen. Der Archäologe Audierne schloß aus verschiedenen Umständen, daß die Körner aus dem dritten oder vierten Jahrhundert unserer Zeitrechnung stammten, und beob- achtete, daß die von ihm in Papier gehüllten Körner nach einigen Tagen zu keimen begannen. Nach einer anderen Mitteilung brachte man in England fast zu derselben Zeit Samen aus einem Blei- sarge des 12. Jahrhunderts zum Keimen. Sie waren also 800 Jahre keimfähig geblieben. Daß die Körner, die Schliemann in Hissarlik und auf Kreta fand, wie auch der Weizen aus den ägyptischen Königsgräbern wie der aus Herkulanum und Pompeji nicht zum Keimen gebracht wurden, läßt fich unschwer erklären. Aber noch durch manch anderes Beispiel könnte dieser Zustand der Leblosigkeit an ruhenden Pflanzensamen gezeigt werden. Auch im Tierreiche finden wir solche Erscheinungen, wennschon diese den erwähnten nur bis zu einem gewissen Punkte ähnlich sind. Zahlreiche Gliedertiere befitzen die wunderbare Fähigkeit, nament- lich als Eier, jahrelang zu schlummern und bei Anfeuchtung wieder zu erwachen. Sind die scheinbar vollständig vertrockneten Würmer im Sande, die Räderticrchen in den Dachrinnen, die Bärtierchen zwischen trocknen Baumrinden und die Millionen von winzigen Wesen im Straßenstaube, die im regenlosen, taufreien Hochsommer lange ausharren müssen, ohne zu leben, weil ihnen der Nährboden und die Grundbedingung alles Stoffwechsels, das Wasser, fehlt, vielleicht etwas anderes? Tot sind sie nicht, denn ein Regenguß belebt fie von neuem! Gerade in der Zeit, in der wir jetzt leben, ist für so manches Geschöpf eine Lebenspause eingetreten, und wir können so vielfach beobachten, wie eS sich vor den kostleeren und kalten Tagen des Winters zu schützen weiß. Es lag in der Natur der Sache, daß sich die Naturforscher älterer und neuerer Zeit mit dem Wesen des Winterschlafes der Tiere beschäftigten. Eine ganze Reihe klangvoller Namen könnte angeführt werden, deren Träger eingehende Untersuchungen über diesen Zustand anstellten. Man weiß, daß es zwei Ursachen sind, die ihn veranlassen, die herabgesetzte Temperatur und der durch diese veranlaßte Mangel an Nahrung. Durch die Kälte werden die einjährigen Pflanzen völlig vernichtet und auch die dauernden oder perennierenden in einen Winterscksiaf versetzt. Dieser Umstand hat zur Folge, daß mit den Pflanzen die Pflanzenfresser verschwinden. Diese Ruhe der Vegetarier, oer sie meist in sicheren Verstecken pflegen, nötigt wieder eine Reihe von Fleischfressern, einige Zeit von der Bühne des öffentlichen Lebens abzutreten— aber bei weitem nicht alle. Die Vögel gehen diesem Zustande durch Wanderungen nach dem Süden aus dem Wege, und auch die Säugetiere über- wintern meist nicht in einem lethargischen Zustande. Von unseren Fledermäusen wissen wir, daß sie an milden Wintertagen zum Vor- schein kommen, aber nach kurzem Ausflug ihre Wintcrverstecke wieder aufsuchen, um weiter zu schlafen. Auch die Ansicht, daß der Bär einen ununterbrochenen festen Winterschlaf halte, ist längst widerlegt. Wenn er auch nicht gleich anderen Schläfern sein Winterlager verläßt, so ist sein Schlaf doch so leise, daß er selbst beim geringsten Geräusch erwacht. Im festen Schlafe aber ver- bringen Igel, Ziese, Bilche und Murmeltiere den Winter, während andere Nager, wie Hamster und Eichhörnchen, nur in den kältesten Tagen schlummern. Andere Säuger, z. B. der Maulwurf, schlafen im Winter nichf, sondern folgen ihren Keutetieren tiefer in bie Erde, werden also für uns unsichtbar. Aus dem schwankenden Verhalten, mit dem der Winterschlaf bei den Säugern auftritt, und der Tatsache, daß er solche, die sich während der kalten Jahreszeit zu erhalten vermögen, auch wenn sie klein sind— wie die Mäuscarten— nicht befällt, wohl aber oft größere, daher auch gegen die Kälte eigentlich widerstandsfähigere, ergibt sich mit größter Wahrscheinlichkeit, ja fast mit absoluter Sicherheit, daß die Kälte direkt nicht von wesentlichem Einfluß ist. Anders liegt die Sache bei den Reptilien und Amphibien. Das sind, wie man gewöhnlich sagt,„kaltblütige" Tiere, richtiger gesagt sind es„wechselwarme, poikilothcrme", und die Temperatur ihres Blutes richtet sich nach der Luftwärme, indem sie mit dieser steigt und fällt. Graf Münster , der behufs Untersuchung der Blutwärme auf seinen Bärenjagden stets ein Thermometer mit sich führte. konnte bei den erlegten Tieren während des Dezember und Januar immer noch eine Temperatur von 3S— 40 Grad Celsius konstatieren. Bei Schlangen und Eidechsen aber und bei Laubfröschen und Kröten sinkt mit der umgebenden Temperatur die Blutwärme be- trächtlich; schon bei 10 Grad Celsius werden fie äußerst träge, und bei einer anhaltenden, um noch einige Grade geringeren Luftwärme sind ihre Lebensvorrichtungen ganz gelähmt; fie versinken in Lethargie. Auch Fische hat man in diesem Zustande gefunden. Sie scheinen also, obgleich auch wechselwarmc Tiere, viel resistenter gegen die. Abkühlung zu sein als die wechselwarmen Reptilien und Amphibien. Der Schlammpeizker, der Aal, die Schleie und der Karpfen halten einen Winterschlaf, tief im Schlamm der Gewässer eingewühlt, während die Forelle noch bei 3 Grad Celsius das Ge- birgsbächlein durchhuscht. Unter den Fischen gibt es sogar Arten, die selbst ein teilweises oder vollständiges Einfrieren zu ertragen vermögen. Diese Lebenspause im Eise scheint ihnen nicht nur nicht zu schaden, sie ermöglicht ihnen vielmehr, selbst nach strengsten Wintern die Wiederaufnahme der Lebensarbeit im Frühling, ver- hindert also den Hungertod und die Fäulnis. Wie steht es nun mit den Insekten? In irgendeinem Zu- stand müssen auch sie des kommenden Frühlings erharren, und er- staunlich ist die Mannigfaltigkeit der Schutzmittel, deren sie sich bedienen. Unter der dichten Laubdecke im Walde haben sich an ge- schützten Orten Käfer, Wespen, Fliegen und Spinnen in großen Mengen eingefunden, um hier zu überwintern. Auch im Mulm angefaulter Bäume findet sich ein ganzes Konsortium von Winter- schläfern: Hummeln, meist trächtige Weibchen, die den Frühling erwarten, um ihrer Bestimmung zu genügen und dann zu sterben, zusammengerollte Tausendfüße, Asseln und viele andere, die einer fröhlichen Auferstehung entgegensehen. Aber nicht der GeselligkeitÄ- trieb führte die Tierchen zusammen, denn wie wir sehen, sind es Vertreter der verschiedenen Arten, Gattungen und Klassen— bisweilen liegen die grimmigsten Feinde nebeneinander—, sondern dcv ausreichenden Schutz gewährende Versteck. Die Mehrzahl der kurz» lebigen Insekten verbringt die Winterzeit im Larven- oder Puppen« zustande, in welchen Entwicklungsstadicn die Tiere viel Widerstands- fähiger gegen die Kälte, zu sein scheinen, auch geschütztere Orte auf» suchen können, wie als JmagineS svoll entwickelte Insekten). Suchen wir z. B. im Winter ein Gartenhäuschen auf, so können wir be» obachten, wie die verschiedensten Jnsektenarten in den verschiedensten Entwicklungsstadien des künftigen Frühlings erharren. Ein gelbeS Gespinst im Winkel birgt Spinneneier— und wie find sie vom Muttertiere geschützt? Um das ihnen zunächst liegende, dichte, feste und gelbe Gespinst zieht sich noch ein lockermaschiges, viel weit» läufigeres. Ein schlechter Wärmeleiter, lose um einen gegen Kälte leicht empfindlichen Gegenstand gefügt, schützt ihn besser, als wenn er oder auch ein guter Wärmeleiter dem Gegenstand anläge. Der» artige Gespinste finden sich aber nicht nur bei Spinnenciern, man beobachtet sie vielmehr bei vielen überwinternden Gliedertieren. Auch hat man gefunden, daß überwinternde Eier eine stärkere Schale besitzen als solche, deren Inwohner schon während des Sommers auskriechen. Bei den Puppen einer Schlupfwcspenart ist dieses bestimmt nachgewiesen. Während einen Teil bereits im Herbst die Wespe liefert, überdauert der andere Teil den Winter, und diese haben eine weit kräftigere Schale als jene. Recht interessant find auch die Zustände, in denen die verschie» denen Schmetterlinge überwintern. In den laublosen Kronen unserer Obstbäume sind im Winter fetzenartige Gebilde zu sehen, scheinbar aus grauer Watte bestehend. Das sind die gemeinsamen Wintcrnestrr der Raupen des sogenannten Goldafters, die anfäng» lich schneeweiß waren, aber durch Staub und Ruß das schmutzige Aussehen erhielten. Wenn im Frühling die lauen Tage kommen, dann verlassen die Räupchen ihre gemeinsame Winierwohnung, erklettern die noch kahlen Spitzen der Aeste, lassen sich von der Sonne durchwärmen und beginnen ihre verheerende. Tätigkeit an den eben aufbrechenden Knospen. Rauhe Tage des wetterwendischen April treiben sie in das Winterguariier zurück, das sie bei kommendem warmem Wetter von neuem verlassen— nunmehr für immer. Ganz besonders merkwürdig sind aber in dieser Hinsicht die schönen Raupen der verschiedenen Glucken, der Kupfcrgluckc, die Raupe deS Brombeer-, Eichen- und RingclspinncrS. Sie überwintern im halb- erwachsenen Zustande, ganz frei, flach an die Aesichen ihrer Nah- rungspflanzen angedrückt, und sie mit ihren Bauchfüßen und dem Nachschstber fest umklammernd. Sie können zu kleinen Stöcken zusammenfrieren, daß man sie zerbrechen kann, aber selbst ia tz«?
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28 (28.10.1911) 210
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