immer wieder feststellt, daß sie weiblichen Ursprunges find. In der diesjährigen Ausstellung der Sezession kann einem das zum Beispiel nicht pasfieren. Das läßt sich durch Zahlen beweisen. Die Aus- stellung der Sezession zeigt 8 Proz., die der Juryfreien 42 Proz. weiblicher Arbeiten. Das ist doch ein Symptom. Oder gar die Bildhauerei. Bei den Juryfreien sind von 26 Bildhauernamen 14 mit weiblichen Vornamen ausgerüstet; die Sezession hat nicht einen einzigen weiblichen Bildhauer. Solche Gegen- sähe find doch interefiant. Die Wahrheit ist eben: daß die Malerinnen und Vildhauerinnen um Fixsterne ihre Kreise ziehen. Woran dadurch nichts gebessert wird, daß auch ganze Scharen der Männlichen, der Maler, rund und herum um einen Größeren wandeln. Mir wäre es schon recht, wenn Alice Trübner nicht wie Wilhelm Trübner und Charlotte Berend nicht wie ihr Mann, der Louis Corinth , malen würden. Ich möchte schon sehr gern neben der Käthe Kollwitz (die übrigens selber nicht bei den Juryfreien", sondern in der Sezession ausstellt) noch eine zweite Künstlerin aus eigener Art erspähen können; ich sehe aber nur zweiundvierzig Prozent ganz leidlicher, zu einem Teil sogar guter Nachfolgerinnen. Und noch einS: Ich schrieb, daß ich nicht recht daran glauben könnte, in diesen erfolgreichen Damen der Juryfreien ein eigentliches Malerproletariat zu sehen. Gewiß, unter diesen malenden Frauen werden viele sein, die den Kampf um das Leben zu führen haben. Aber, wenn uns der Katalog darüber belehrt, daß zwanzig adlige Damen zu den Ausstellecinnen gehören, und daß sich darunter be- finden: Erna v. d. Marwitz. Gr.-Rietz b. Beeskow, Marie v. Nathusius, Else v. Oertzen so läßt sich doch nicht gerade behaupten, daß solches Menschenmaterial identisch sei mit dein, was wir gemeinhin Künstlerproletariat nennen. Es stimmt schon: bei deu.Juryfreien" find viele Damen, denen es wohl geht, die bisher nur für die Familie malten, und die jetzt erst auf den Markt kommen. Robert Breuer. Straßenbikler aus Liverpool . Von C. B ech t. .Das Boardinghouse, in dem ich wohnte, log an einer Straßen- ecke in einem nördlichen Stadtteil. Ich stand am Fenster und schaute in den gegenüberliegenden Park. Ich weiß nicht, wie lange ich schon dagestanden hatte; jedenfalls, es war interessant genug. Da war zuerst die Frau, die schon längere Zeit regungslos auf einer Bank gesessen hatte. Sie war in ein graues Umschlagetuch gehüllt und hatte eine Mütze von derselben Farbe auf dem Kopfe. Plötzlich nahm sie die Mütze ab. löste die Flechten und begann sich zu kämmen, wobei ihre Finger zeitweilig eine merkwürdig knipsende Bewegung ausführten, jedesmal, nachdem sie den Kamm gründlich untersucht und scheinbar etwas erhascht hatte. Als sie fort nxir, kam eine Schar barfüßiger Kinder in durchlöcherten Kleidern und ruhten sich auf derselben Bank von ihrem Spiel aus. Auf der an- deren Seite der Straße hatte den ganzen Nachmittag ein abge- zehrtes Weib gestanden, ein in Lumpen gehülltes Paket auf dem Arm, das sie hin und her wiegte und beim Betteln den Passanten hinhielt. Ab und zu preßte sie es auch zärtlich an sich, doch nur, wenn ein Passant in Sicht war. Das Geschäft war schlecht heute, das Mitgefühl der Menschen schien gleich der Temperatur auf dem Gefrierpunkt zu stehen und als ein Mann, offenbar ein Freund oder Bekannter des Weges kam, entspann sich ein Gespräch zwischen ihnen. Der Mann reichte ihr«ine Flasche, aus der sie einen kräf- tigen Schluck nahm, dann ging sie kurz entschlossen mit ihrem Ge- fährten davon, das Wickelkind unter den Arm nehmend, wobei sich das Umschlagetuch ein wenig verschob und eine aus Lumpen und Papier angefertigte Puppe für einen Moment sichtbar wurde... Sie war gegangen und die Straße wurde dunkler und leerer, doch da wankte singend und lallend etwas heran. Ein junges, hübsches Weib von höchstens achtzehn Jahren ward sichtbar. Mit glückseligem Gesichtsausdruck und halbgeschlossenen Augen, an jedem Arm von einem ebenfalls wankenden, männlichen Gefährten ge- stützt, kam sie näher. Dabei hielt sie auf dem einen Arm ein vielleicht drei bis vier Wochen altes menschliches Wesen, leider keine Imitation in diesem Fall, in so unglücklicher Stellung, daß der Kopf des Würmchcns nach unten hing und das ganze winzige Körperchcn den schwanken- den Händen der Mutter zu entgleiten und auf dem Siraßen- Pflaster zu zerschmettern drohte. Glücklicherweise kam gerade ein Schutzmann des Weges und nahm sich noch rechtzeitig dieses wür- digen Kleeblattes an. Als ich mich ins Zimmer zurücklvandte. hörte ich wieder die aus der Seitengasse tönende Stimme einer betrunkenen Frau, die nun schon stundenlang in einem deliriumähnlichen Anfall ihren Ge- fühlen in ungehemmtester Weise freien Lauf ließ. Es war wirklich schon das beste, auszugehe». Am liebsten schlenderte ich des Abends durch die Hauptstraßen der Stadt, die von einem Meer von Licht erhellt und von ohrenbetäubendem Lärm erfüllt sind. Die Luft war voll von jener kalten Feuchtigkeit, die sich wie ein nasses Tuch um die Lungen legt. Ich hatte die Funk- tion dieses Bestandteiles des menschlichen Organismus, che ich in dieses merkwürdige Land kam, eigentlich nur geahnt, aber seit meinem ersten Ausgang durch die Oktoberluft Englands direkt kör- Perlich empfunden, lind zu dem Physischen llnbchagen kommt hier noch der psychische Widerwille gegen all den Schmutz und Elend und Laster, die sich hier breit machen und der noch erhöht wird durch den scharfen Geruch von Fusel und Seefischen, mit dem die Luft hier gleichsam gesättigt ist. Nie habe ich so viele menschliche Gebrechen und so viel Elend gesehen wie hier in Liverpool . Krüppel, Bettler, Straßenverkäuser» Orgelmänner, Betrunkene und sehnsüchtig denke ich an Marseille . an diese trotz Laster und Elend sonnige Stadt voll Farbe, Licht und Grazie. Die auf den Bürgersteigen auf- und abwogende Menge ist voll- ständig international. Am stärksten vertreten ist Amerika , Austra- lien, Irland , aber auch Chinesen, Japaner und kontinentale Euro- päer gibt es hier genug. Da plötzlich eilt ein tadellos gekleideter Gentleman mit hastigen Geberden in eine Seitenstraße. Einige andere folgen und als er in der Mitte der kleinen Straße Halt macht, hatte er schon einen kleinen Kreis um sich. Neugierig trete auch ich näher. Zu meiner Ucberraschung sinkt er auf dem Straßen- Pflaster in die Knie, nimmt den Zylinderhut ab und singt ein geist­liches Lied. in. das die Menge einstimmt. Und nun entwickelt sich auf der Straße ein regelrechter Gottesdienst mit Predigt, Gesang und Sammelbüchse. An der nächsten Straßenecke entsteht wieder eine Stockung, doch als ich feststelle, daß hier nur die Heilsarmee ihr bekanntes Wesen treibt, eile ich weiter, um gleich darauf vor einer umgestülpten Holzkiste Halt zu machen, auf die sich soebeiH eine junge, gutgekleidete Dame schwingt.Meine lieben Freunde", ruft sie mit klarer wohltönender Stimme ins Publikum. Und nicht vergebens. Ein Teil der so Angeredeten tritt wohlwollend näher und hört aufmerksam aus ihre logischen Ausführungen über soziale Reformen und Frauenstimnirecht. Auch hier geht die Sammelbüchse um, im Dienste der guten Sache. In der Nähe des Bahnhofs Lime Street wird das Gedränge beängstigend. Hier hält ein bekannter Sozialist eine Ansprache an die Arbeitslosen, die im Winter hier oft nach vielen Tausenden zählen. Ich fahre mit der Elektrischen zurück, denn die Luft war in- zwischen noch schärfer, der Nebel noch dichter geworden. Gleich nach mir steigt ein großer Schutzmann ein. Interessiert richten sich alle Blicke auf ,hn oder vielmehr seine Schützlinge. An ihn geklammert hat sich ein kleines Mädchen von ungefähr drei Jahren in einem so verwahrlosten Zustande, der jeder Beschreibung spottet. Und auf dem Arm trägt er behutsam ein anderes, kleineres, ebenso verwahr- lostes menschliches Wesen, das mit seinen unschuldigen Kinderaugcn neugierig umhersieht. Unwillkürlich rücken die Nähersitzenden etwas ab, wenn auch die Auge-' Frauen mütterlich aus den Kindern ruhen. Ans welches vohle mag er die wohl errettet haben, frage ich mich. An einer Straßenecke steigt er aus, wobei eine am Aus- gang sitzende Dame ihm mit einer halb scheuen, halb liebevollen Bewegung das eine der Kleinen hinausreicht, wenn sie auch nachher sorgfältig ihren Handschuh abwischt. Ich sehe ihnen nach. Er klin- gelt an der Tür« eines großen, düsteren Gebäudes.Gesellschaft zum Schutze der Kinder gegen Grausamkeiten." lese ich. Ter Nebel ist so dicht, daß man kaum einen Schritt weit sehen kann. Morgen wird es regnen und dann wird diese große düstere Stadt mit den langen geraden Straßen und dem monotonen Ge- präge der Häuser noch viel trostloser, noch viel schwermütiger aus- sehen als heute. Der Gedanke, daß mein Ausenthalt bald zu Ende und ich wieder heilere, sonnigere Bilder sehen darf, ist der einzige Hoffnungsfunke in diesem grauen Elend I FHeims Feuilleton. Kulturgeschichtliches. Reisedauer und Reisekosten im Mittelalter. Die Sehnsucht des JunkertuinS»ack mittelalterlichen Zuständen ist aus mehr als einem Grunde begreiflich. So elend die vierte Wagen- Nasse in der Eisenbahn eingerichiet ist, so ermöglicht sie es doch den, ostelbischen Landproletarier bei einiger Sparsamkeit, der heimischen Gebundenheit zu entfliehen und in Berlin oder sonst einer Großstadt sein Heil zu versuchen. Wie anders ehedem, wo der Landarbeiter und Bauer an die Scholle gebunden und das Reisen ein überdies gefahrvolles und beschwerliches Privileg der Vornehmen war. Wo die Römer herrichten, also im Süden und Westen Deutsch- lands, waren im militärischen Interesse dauerhafte Kunststraßen angelegt worden, die zum Teil bis ins spätere Mittelalter ihre Be- deutung behielten. Es ist berechnet worden, daß im zweiten Jahr- hundert unserer Zeitrechnung ein Pakelsuhrwerk voir dein mittleren Obcritalien in 1611 Tagen Augsburg erreichte, wahrend die große Strecke von Rom bis Lehden in 34 Tagen zurückgelegt wurde. JJm großen ganzen zerfielen aber die Römerstraßen in den Zeiten'der Barbarei, und im 12. Jahrhundert kam man nach den Mitteilungen eines isländische» Reiseführers in 6 Wochen langsamer Reise von Rom bis an die Alpen und von dort in drei weiteren Wochen nach Schleswig . Noch in» 16. Jahrhundert brauchte der Stralsundcr Bürgermeister Sastrolv 5 Wochen, um von Roin nach Stralsund zu kommen. Zwanzig bis dreißig Kilometer auf den Tag galten als normale Reisegeschwindigkeit. Immerhin gab es höhere Einzelleistungen. So legte Kaiser Friedrich I. einst in drei Tagen 182 Kilometer zurück; und bei den Fahrten der Päpste bewegte sich der Durchschnitt zlvischen 46 und 66 Kilometer auf den Tag. während sich für eine Von Innozenz IV. im 13. Jahrhundert gemachte Reise gar 166 Kilo»