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Als der Fürst eintrat, hob Chadschi- Murat sogleich den darob Fehr erstaunten und beleidigten Buljka vom Schoße und richtete sich empor, wobei der sorglos launige Ausdruck seines Gesichtes ver­schwand und eine ernste, strenge Miene an dessen Stelle trat. Er fette sich erst wieder, als auch Woronzom Platz genommen hatte. Er nahm den Faden des Gespräches mit Maria Wassiljewna wieder auf und erklärte ihr, es bestehe bei ihnen ein solches Gefeß, daß alles, was einem Freunde gefalle, ihm auch hingegeben werden müsse. " Dein Sohn sehr lieb, guter Freund," sagte er auf russisch , während seine Hand das Lockenhaar Buljkas streichelte, der sich ihm wieder auf den Schoß gesetzt hatte.

Er ist ein ganz prächtiger Mensch, Dein Räuberhauptmann," bemerkte die Fürstin auf französisch zu ihrem Gatten. Buljta fand Gefallen an seinem Dolche, und er machte ihm das kostbare Stück sogleich zum Geschenk."

Buljta zeigte dem Stiefvater den Dolch.

Eine sehr wertvolle Waffe," sagte Woronzow , gleichfalls auf französisch. Ich muß Gelegenheit finden, ihm ein Gegengeschenk zu machen.

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Maria Wassiljewna hatte ihm focben fagen laffen, er folle doch Aus dem bewegten Getriebe der unteren Volksmassen, des nicht jedes Stüd seines Besiktums, das irgendeinem Freunde ge- bürgerlichen Mittelstandes und der Arbeiterklasse, hervor hat er fiel, gleich so ohne weiteres weggeben, sonst würde er bald so nadt es getan. Jedes Land Europas hat ihren Entdecker dieser Schichten wie Adam umhergehen. für die Literatur. In England ist Dickens der Entdecker gewesen, und er fand und erschloß das Neuland nicht für müßige Unter haltung, sondern für den ernstesten Zwed von der Welt: für so. ziale Kultur. Er half neuen Kräften der Gesellschaft den Weg bahnen auf die Bühne der Geschichte. Nach allen Seiten schauend, zeigte er ihre Wirklichkeit und warb und rang um Glauben und Vertrauen für fie. Er sah ihre in der Unfreiheit tätig regsamen Vorzüge und warf sich mit ungeheurem, muts vollem Mühen den Hemmungen ihrer Freiheit entgegen. Mensch liche Kräfte aus dem Dunkel heben und zu gesellschaftlich wertvoller Entwidlung hinanführen, das war der Kern der Lebensarbeit dieses Dichters. Sein Humor leistete soziale Kriegsdienste. Als Sohn eines in den Kriegsjahren in der Marineverwaltung nachher im Steuerwesen Beschäftigten, der anderes Brot suchen muß, hat er eine wenig rosige Jugend durchkostet. Er hat er­lebt, daß der Vater trotz ehrlichen Mühens, die Gläubiger zu bes friedigen, ins Schuldgefängnis gesezt wird, und daß die Mutter hilflos fich selbst überlassen bleibt. Alle schlimmen Nöte des Da seins drängen in seine Nähe. Die Schulzeit wird früh abgebrochen und Dickens , aus allen hohen Träumen seiner Phantasie gerissen und von Bitternis erfüllt, fikt als junger Bursch am Schreiberpult eines Advokaten. Ein neues großes Stück dunkler Wirklichkeit mit grausen Schicksalsverkettungen tut sich ihm auf in dem Treiben zwischen Gerichtshöfen und Gefängnissen, Advokaten und Klienten, Verbrechen und Armut. Ein Jahr nur erträgt er diese Sphäre. Dann lockt ihn das Amt des Vaters, der sich als Berichterstatter im Parlament betätigt, und nun fängt der Achzehnjährige dort zu stenographieren an, just als die Jahre des Zusammenbruchs der torhistischen Reaktion gekommen sind. Die Verbindung mit der Presse ist gefunden und wird in dem kampfvollen Reformgetriebe mit seinen riesigen Volksversammlungen und Parlamentsauf­löfungen schnell entwickelt. Eines Tages zieht er das Fazit seines bisherigen Lebens: aus dem Aufenthalt in der Welt der mittleren und unteren Klassen und aus der täglichen Schulung im blitz­schnellen Beobachten und Auffassen wachsen die Skizzen bon London " hervor, die von 1834 an die Zeitungsleser der Themse stadt überraschen. Mit einem Scherznamen seines Bruders unter zeichnete Didens fie: aus dem Moses, den die Lektüre von Gold­smiths Landprediger veranlaßt hatte, wurde Boses und dann Boz, die drei Buchstaben, die weltberühmt werden sollten. Die Stizzen, lose Einzelbilder örtlichen Lebens, aus Wirk­lichkeit und Phantasie gestrichelt, Entdeckungsreisen( wie Didens es später einmal nannte) in die unbekannten Reviere Londons , Streifzüge sozialen Wanderns, im Wesen verwandt den Schildes rungen, die eben damals auf dem Festlande ein Glaßbrenner unter allgemeinem Beifall von Berlin entwarf, diese Skizzen wurden die Vorarbeit gewissermaßen zu Didens' erftem großen Roman, den Pidwidiern. Sie gingen hervor aus dem Vorschlag eines Londoner Verlegers, dem's die Skizzen angetan hatten. In Lie­ferungen erschien 1837 diese lose zu einem Ganzen verbundene Er­zählung von den Abenteuern kleinbürgerlicher Londoner Leute, die mit naivem Beobachten und unerfahrenen Herzens in die Welt

Chadschi- Murat saß mit gesenktem Blicke da, streichelte immer wieder den Kopf des Knaben und murmelte dabei:" Dschigit, Dichigit!" Wirklich ein sehr schöner Dolch," sagte Woronzow und zog die scharf geschliffene, damaszierte Klinge mit der Rinne in der Mitte halb aus der Scheide. Bedank Dich nur dafür!" sprach er zu dem Kleinen, und zum Dolmetscher gewandt fagte er:" Frag ihn, womit ich ihm dienen kann."

Der Dolmetscher übersetzte seine Worte, und Chadschi- Murat antwortete, daß er feine Wünsche habe, und nur darum bitte er, daß man ihm jetzt die Möglichkeit geben möchte, sein Gebet zu ver­richten. Woronzow rief den Kammerdiener und befahl ihm, Chadschi- Murat in ein Zimmer zu führen, in dem er ungestört beten tönnte.

Ala Chadschi- Murat allein war, verwandelte sich sogleich der Ausdruck seines Gefichtes: an die Stelle der zufriedenen, zubor­tommend- feierlichen Miene, die es vorher gehabt, trat ein Zug von tiefer Besorgnis.

Der Empfang, den ihm Woronzow bereitet, war weit beffer, als er erwartet hatte. Aber je entgegenkommender dieser Empfang war, desto weniger traute Chadschi- Murat Woronzow und seinen Offizieren. Er hatte alle möglichen Befürchtungen: daß man ihn einterfern, ihn fesseln und nach Sibirien verschicken oder einfach töten würde, und er glaubte darum nicht vorsichtig genug sein zu tönnen ( Fortsetzung folgt.)

Charles Dickens . schauen. Aber der Erfolg der ersten Lieferung entsprach den Er­

8u Didens hundertstem Geburtstage am 7. februar.

Die Maschine hat nichts Geheimnisvolles, aber der niedrigste ihrer Diener ist ein ewiges und unergründliches Geheimnis. Didens: Harte Zeiten.

I.

Daß Didens ein Humorist war, ist fast wie eine sprichwörtliche Behauptung zu Lebzeiten des Dichters bekannt und weit verbreitet gewesen und bis heute geblieben. In dieser Verbindung hat natür­lich das Wort Humorist nicht den vulgären Sinn, den der Volks­mund ihm anhängt. Humor ist eine berteufelt ernste Angelegen­heit des Lebens, und auf Dickens paßt durchaus die Begriffs­bestimmung, die dessen befreundeter Altersgenosse Thaderah in seinem Buche über die englischen Humoristen des achtzehnten Jahrhunderts, diese Bahnbrecher des Humors, gegeben hat. Der meint nämlich: Wäre unter Humor bloß Gelächter zu verstehen, so würde man sich für das Leben der Humoristen nicht mehr inter­essieren, als für das des erstbesten Possenreißers, der ja ebenfalls Gelächter erregt. Aber die Männer, von denen ich zu sprechen gedente, wenden sich nicht nur an unser Zwerchfell, sondern auch an eine ganze Reihe ernster Gefühle. Der Humorist will unsere Liebe, unser Mitleid, unsere Freundlichkeit, unsere Verachtung der Lüge. der Anmaßung und des Betrugs, unsere Sympathie für die Schwachen, die Armen, die Unterdrückten und alle anderen Un­glüdlichen anregen und leiten. Nach bestem Wissen und Können legt er sich die alltäglichen Handlungen und Leidenschaften des Lebens zurecht." In dieser Art breitete des großen Humorister Thackeray dichterisches Schaffen seine Zweige, und von Dickens , zu dem Thackeray mit begeistertem Anerkennen aufsah, hat die Mitwelt willig gesagt: was die englischen Humoristen des acht­zehnten Jahrhunderts die Swift, Addison, Pope, Hogarth, Fielding, Sterne, Goldsmith groß begonnen, das habe Didens zusammengefaßt und vollendet.

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wartungen feineswegs. Erst mit der sechsten Nummer seşte er ein, und das war die Wirkung der Gestalt Sam Wellers. Nie zuvor war der Volkshumor der niederen Klassen Londons in Geift. Wit und Mundart so verkörpert worden wie in diesem Diener, der sich müht, seines Herrn Rolle nachzuspielen und ihm an Groß­mut und Lebenserfahrung so weit überlegen ist. Das schlug in der untersten Schicht der Bevölkerung ein und riß auch das bürger­liche Element mit. Dickens ' frische, offene, ausgelassene, wohl­wollende Art war in Einklang mit den Empfindungen der radikalen politischen Bewegung, die die bürgerliche Mittelschicht mit der untersten Klasse zu gemeinsamem Handeln verband und, wie das in solchen Zeitläuften zu geschehen pflegt, die bürgerlichen Herzen williger geneigt macht, den Menschen im Proletarier zu sehen und anzuerkennen. Auch das kleine Bürgertum auf dem Festlande war damals so gestimmt, und das half mit, den Bidwidiern alsbald auch in Deutschland die Türen weit zu öffnen. Was aber in Didens' Liebe für diese Gestalt lebte, offenbarte sich in des Dichters weiterem Schaffen, das Schlag auf Schlag mit neuen großen Romanwerken die Pickwickier hinter und unter sich ließ: das Beste, was er zu sagen hatte, vertraute er aus innerstem Drange Gestalten an, die wie Sam Weller der untersten Schicht der Ge­sellschaft angehörten.

Am Ganzen des Dickensschen Lebenswertes gemessen, können die Picwidier nur als der tastende Anfang von etwas Großem gelten. Dann erst fügte sich der Bau, der die Welt des vor­märzlichen England der Nachwelt in lebensstarken Bildern aufbewahrt. Die Schrecken des englischen Vormärz wuchsen ins Grausige, denn mit der Brutalität alter düsterer staatlicher Ein­richtungen der Junkerzeit, die das Volk kedrohten und bedrückten. vereinigte sich hier die neue Brutalität des tapitalistischen Fabri­fantentums, die das Massenelend zur dauernden Einrichtung der Gesellschaft erhob. Beides lebt in Dickens ' Romanen, gegen beides setzte er seine Dichterkraft ein, denn beides hatte er erlebt. Die Kindheit und Jugend hatten den Haß gegen jene verrotteten Ein­richtungen in ihm entzündet,.ind als der Vater ins Schuldgefäng­nis gezwungen wurde, wußte die mittel se Mutter nicht anders