4( D!>er dürfte«o hoffen, die Wahrheit auf anderer Seite au finden? Jener körperliche Eros, der ihn bisher so heftig «bgestoßen. stand nun lockend vor seiner Phantasie, wenn er in ihrer Gestalt vor ihn hintrat. War eine Revolution in ihm vorgegangen? War er aus einem Traum geweckt worden? War er dazu herangereift, die Schönheit des»vlichen Eros zu sehen, so wie man ihm gesagt, daß Fraue »'. erst dazu er- zogen werden und heranreifen müssen? Etwas schien ihm allerdings darauf hinzudeuten. Abdallah. der ursprünglich seine Sympathie erregt hatte, er- füllte ihn nun mit einem lebhasten Widerwillen, jojast mit Haß. und der tiefste Grund lag in einer wachsenden Eifersucht auf den Mann, der das Recht hatte, das geliebte Wesen in die Arme zu schließen. Je mehr Macht diese Eifersucht gewann, desto mehr be- gann er zu bereuen, daß er Suitana nicht bei sich behalten und versteckt hatte oder mit ihr geflohen war, so lange es noch möglich gewesen. Seine Verantwortung lastete auf ihm und ließ ihn ge- ringeres Gewicht auf die Formen als auf die Sache selbst legen. Es ließ sich weder verhehlen noch leugnen, wessen Schuld es war, wenn Sultana sich in ihrer Ehe mit Abdallah unglücklich und bedrückt fühlte. Wäre ihre Phantasie nicht von einem anderen geweckt und in steter Spannung erhalten worden, so hätte sie sich wohl längst zufrieden gegeben und in ihrer Ehe Ruhe gesunden wie so viele andere Frauen. Er hatte ein Weib aus den Strom hinausgelockt, und nun, da es zu spät war, sagte er sich selbst, daß seine einzige Pflicht gewesen wäre, sie zu retten. Es war ja ihr Unglück und nicht das Abdallahs, dem abzuhelfen seine Pflicht war. Abdallah war ein starker Mann, der seinen llummer wohl zu tragen wußte, wenn er denn wirklich Kummer empfand. Ihn mißhandelte niemand. Und im übrigen begriff Marcel nicht— um so viel frischer war schon sein Blick—, daß er sich jemals von Abdallahs leerem, formalen Recht auf ein Weib, das er mißhandelte, hatte imponieren lassen können. Marcel blieb nur einen halben Tag in Gafsa , aber lange genug, um zu hören, was mit Sultana geschehen war: daß sie geboren hatte, daß das Kind tot war— und daß sie von ihrem Manne verstoßen sei, aber in seinem Hause bleiben sollte. Frei und doch gebunden! Er eilte, von Gafsa wieder fort zu kommen, als er diese Mitteilungen erhielt. Er wollte nicht ihren Schmerz verschärfen. indem er sie von seiner Anwesenheit erfahren ließ. Und vor allem wollte er sie zu keiner Unbesonnenheit ver- leiten, die hier und in diesem Augenblick unmöglich zu einem glücklichen Ausgang führen konnte.-- Schon mehrere Tagereisen vor Gafsa und weiter bis hinab zu den Oasen bei den großen Salzseen fand er die Beduinen ganz und gar von Abdallahs Namen erfüllt, und die Vorsicht, mit der man von ihm sprach, ließ darauf schließen, daß er politisch mindestens ebenso viel bedeutete wie religiös. Marcel witterte etwas wie eine Aufruhrsfahne in dem bloßen Klang des Namens.„. (Fortsetzung folgt.) Islänäergefckicbten. Die isländischen SagnS oder Sögur sind diejenigen klassischen Literaturdenkmale der nordischen Sprachen, die heute noch lebendige Wirkungen ans Genießende wie auf Schaffende üben. Diese SagaS sind, um das Wort zu erklären und gleichzeitig damit ihre enge Be» ziehung zu unserer Gegenwart anzudeuten, keineswegs Sagen in unserem Sinne oder JWärchen, sondern realistische Prosaerzählungen, Novellen. Erzählungen, die ihren Stoff ausschließlich ans ihrer eigenen jüngsten Vergangenheit nahmen, mit so engein Anschluß an das Geschehene, daß die Saga bis auf Namen, Oertlichkeit und Zeit- angabe ihrer Erzählung den Reiz einer historischen Chronik erhält. Freilich nicht deren volle Zuverlässigkeit. Denn wie der Hauptwert der Saga natürlich in ihrer künstlerischen Ausdrucksfähigkeit liegt, in ihrem zum Charakteristischen strebenden Aufbau und in ihrer von stärkstem Leben erfüllten Sprache, so hat hinwiederum der altisländischen Literatur auch eine wissenschaftliche Geschichtsschreibung zur Sagazeit nicht gefehlt. Die nun bald tausendjährige Dichtung gehört dem norwegischen Sprachstamm an. Denn die Meiischen. die die isländische Saga lebten und erzählend bewahrten, waren landflüchtige Norweger oder deren nächste Nachkommen. König Harald Schönhaar hatte, um unter seiner Alleinherrschaft ein einiges Norwegen zu errichten, den Widerstand der kleineren Herren, der Gaukönige oder Herse», nach 12— langen Kämpfen endlich 872 am Hastsfjord gebrochen. Wer sich ihm jetzt nicht fügen wollte, konnte die eigene Freiheit nur noch außer Landes bewahren, auf Wikingfahrt, dieser ehren- und heldenhaft gehaltenen See- und Küstenräuberei, oder an neuen festen Wohn- sitzen. So gelangte man westwärts auf vertrauten Wegen über die norwegischen Siedelungen in Britannien und Irland, auf den Orknöern und Faaröern auch nach dem jüngst entdeckten herrenlosen Island . Bereits für 874 wird dort der erste norwegische Einwanderer bestätigt. Nach 100 Jahren etwa war die Westküste, von der aus sich das Land bevölkerte, voll befiedelt; doch war schon 40 Jahre vorher, die„landnamatid". die Zeit der steien Besitz- ergreifung des Bodens, vorüber. Diese trotzig unabhängig Ge- sonnenen, die lieber in die Fremd« gingen und oftmals reichen Grundbesitz unveräußert im Stich ließen, als sich der neuen Königs- macht zu beugen, gehörten begreiflicherweise mit zu den Besten des Volkes. Nicht nur als Hüter, sondern auch als Mehrer norwegischen Kulturgutes bewährten sie sich an den neuen Wohnplätzen. Wie sie sich die demokratische Verfassung mitherüberretteten, so pflegten sie auch weiterhin mit besonderer Liebe und Fähigkeit die in der Heimat so hochgehaltene Dicktkunst: die sogen, ältere Edda und die Stradda. Besonders die Skaldendichtung, die strophisih gegliederte und verzwickt kunstvoll gesetzte Stabreimdichtung, die im königlichen Nor- wegen verfiel, gelangte erst in Island zu wahrer Blüte. Das stärkste und eigenartigste Gewächs norwegisch-lsländischer Poefie jedoch— und, gleichbedeutend damit, der gesamten altnordischen Literatur— keimte und entfaltete sich überhaupt erst aus isländischem Boden: die Saga. Als der wachsende Machthunger des norwegischen König» tums den isländischen Freistaat nach beinahe vierhundertjährigem Bestehen dem Mutterlande einverleibte, unterdrückte man auch die Saga und setzte, den neuen Mächten zu Ruhm und Ehre, die aus trankreich und Deutschland stammenden, gekünstelten, höfiischcn ilterepen an ihre Stelle. ES ist daS nicht ein einmaliger Zufall, daß politische Unsteiheit die Wahrheit, selbst die der künstlerischen Lebensspiegelung, in die Verbannung schickte. Verbreitung schufen der Saga vor Benutzung der WigelsSchsischen und lateinischen Schrift, die im Gefolge deS im Jahre 1000 zur Staatsreligion erhobenen Christentums auftrat, die„Sagaleute", die sich eben besonders aus Formung und Wiedergabe einer aus dem Dunkel ausgetauchten Erzählung verstanden und deren Form fest- legten, ohne daß der Name deS ersten Erzählers oder der deS Aufzeichners bekannt geworden wäre. Bereits im 10. Jahrhundert, also ziemlich gleichzeitig mit der rechtlichen und politischen Sicherung deS Gemeinwesens, entsteht die Saga und vergeht erst Ende deS 13. Jahrhunderts mit dem Freistaate. Zwei Jahrhunderte vorher jedoch, von 1170 an, hatte die schriftliche Aufzeichnung begonnen, durch Geistliche oder geistlich Gebildete, getreu dem überlieferten Texte und vor allem auch getreu der heidnisch-demokratischen Ge» sinnung der Sagas. Kopien dieser alten Abschriften, die jetzt auf den Bibliotheken von Kopenhagen , Stockholm und Upsala verwahrt werden, bilden den immer noch stattlichen Rest dieser Literawr. Die Sagas erzählen, so gut wie ausschließlich, jedesmal das Leben eines Isländers aus dem 10. oder 11. Jahrhundert. Fast alle Hauptereignisse find durch die Jahre SSO und 1030 begrenzt, wenn auch die Einleitung und Vorgeschichte oft weiter zurückgeben. Indem die Vorgeschichte meist den Stammbaum der Hauptperson gibt, greift sie aus die ersten Ansiedler, damit bisweilen auf Nor- wegen und König Haralds Kämpfe um die Alleinherrschaft zurück. Die angesehensten und bekanntesten Sippen, in ihren fünf ersten Generationen auf Island , passieren auf diese Weise Revue und bald ergibt eS sich, daß ein und dieselbe Person in verschiedenen Er- Zählungen auftritt, daß. wie zwischen den Menschen selbst, so auch zwischen den Erlebnissen leicht nahe Beziehungen und Verwandt- schaften entstehen. Diese Lebensläufe haben, bei aller Bewegtheit, doch etwas Typisches: erste Jugend in der Heimat, Suslandsfahrtcn als Krieger oder Kaufmann, Streit um Besitz oder um eine Frau, wieder daheim und schließlich langwieriger Austrag dieses Streites vor den Thinggerichten oder mit den Waffen, oft aber auf beiderlei Weise. Solche Verwickelungen geben gewöhnlich den Hauptfiguren Anlaß, sich als weise, tugend- und heldenhaft im Sinne ihrer Zeit zu bewähren. Man steht also das Prinzip eines wahllosen, platt referierenden Realismus ist hier bereits durchbrochen, indem die Saga die Darstellung des Jnteresianten, Wertvollen, Vorbildlichen anstrebt. Die Wahrheit der SagaS ist nicht die eines Gerichtsprotokolls, sondern«ine künstlerische, die auf das Typische und Charakteristische der von ihr behandelten Personen und Vor- gänge geht. Andererseits berechtigt uns vorläufig nicht daS geringste, den SagaS ihren geschichtlichen Boden völlig zu entziehen und be- sonders ausschlußreiche Stücke, wie etwa die Saga von Eirik dem Roten, die von der bekannten Entdeckung WinlandS, d. i. der kana- dischen Ostküste von Nordamerika , durch Isländer im Jahre 1000 berichtet, für Phantasien oder gar symbolische Erzählungen zu er- klären, was Fridtjof Nansen unlängst getan hat. Aus die Frage nach dem Wahrheitsgehalt der SagaS kann man getrost antworten: in bezug auf alles Zufällige und Individuelle sind sie geschichtlich frei behandelt, in bezug auf das Wesen der Zeit und deS Volkes find sie von unvergleichlicher kulturhistorischer Wahrheit. Und das nicht nur für den germanischen Norden, sondern auch für Deutsch - land in seinem vergleichbaren EntwickelungSstadium, dem solche literarischen Dokumente realistischer Art durchaus fehlen. Auf die Einzelheiten des umfangreichen Materials, auf die,
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29 (19.6.1912) 116
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