Die Karten zittern in seinen krampfhast zusammengepreßten Fingern. Seine stieren Augen heften sich auf ihre Figuren und Zeichnungen: was wollen die Fratzen eigentlich von ihm? Sie grinsen ihn an, sie steigen von dem Blatt herab und blähen sich auf sie tanzen um ihn herum sie setzen sich auf die großen, blauen Wolken, die da aus dem feurigen Buge neben ihm hervor- quellen jetzt brennen die Karten in seiner Hand sie zerbeißen seine Gelenke die Flamme frißt sich in seine Knöchel und da! steigt da nicht aus dem roten, glühenden Augen, auf Dampf- kissen gebettet, ein bleiches Totenantlitz: die Züge sind weich, ver- klärt, wie ein stilles, seliges Lächeln liegt es auf ihnen-- und mit einem gellenden Schrei:«Luft! Karl! Tot!" springt der ent- setzte, betrunkene Vater auf und stürzt nach der Tür... Wilhelm und Gustav torkeln schwankenden Schrittes hinter« her... Sie sind zu benebelt, um das Benehmen ihres Kollegen allzu auffallend zu finden... Sie verstehen es nicht und fühlen bloß instinktiv, baß Karl hinaus will... Also mutz ihm einer aufschließen. Das ist das einzige, dessen sich Wilhelm bewußt wird. Alles andere ist ihm gleichgültig. Gustav will gleich mitgehen. Er schwankt noch mal zurück nach dem Zimmer und holt seine Mütze. Nun kann's losgehen. Er schiebt seinen Arm unter denjenigen Karls, der sich nach Art eines Starkbetrunkenen an die ein« Tor- wegwand in gespreizter Positur gelehnt hatte. Gustav muß den armen Kerl mehr schleppen und zerren als führen. So taumeln sie denn beide durch die Tür, die Wilhelm nach langem Tasten und Suchen nach dem Schlüsselloch endlich geöffnet hat, hinaus in die feuchtkalte Frühherbstnacht... Zu Hause ist unterdessen der Junge, der arme, kleine Karl gestorben. Als das sein Vater hört, schlägt er besinnungslos hin. Am andern Morgen g»ht Großpapa Steinbeck mit seinen beiden kleinen Enkelkindern über den Hof. Sie finden den zerbrochenen, beschmutzten Wagen neben einer Fässerlage. Unwillkürlich bücken sich die beiden Kinder nach dem zerschundenen Spielzeug. Ein Zug flüchtigen Bedauerns, oberflächlichen Mitleids fliegt über ihre hübschen, gesunden Gesichter, denen man die feine Kost und die aufmerksame Pflege auf den ersten Blick ansieht. «Latz das schmutzige Ding liegen, Bruno Ihr habt ja oben besseres Spielzeug! Kommt, Kinderl Das Ding kann sich einer der Arbeiter für seine Kinder mitnehmen. Die freuen sich noch dar- über. Ich werde es mal Wilhelm oder Karl gelegentlich sagen." Und dabei schleuderte er mit der Fußspitze das kleine verrenkte Gespann in eine nahe Ecke... Der gute Großpapa hatte keine Ahnung, daß sich an diesem erbärmlichen Scherben gestern ein junges Menschenleben verblutet hatte... Groteske 8ckönkeit. Die künstlichen Körperverunstaltungen. Von Hermann Singer. Künstliche Körperverunstaltungen sind Gemeingut wohl fast aller Völker, der zivilisierten Menschheit wie der Wilden. Wir selber brauchen da nur an das Korsett zu denken, das, dauernd getragen, die weibliche Figur ja auch äußerlich zu verändern, nicht nur die inneren Organe zu schädigen vermag. Ebenso übt ein so altes Kulturvolk wie die Chinesen die Verkrüppelung des Fußes, und die Versuche, dieser Sitte den Gäraus zu machen, haben bisher kaum mehr Erfolg gehabt, als bei uns der Kampf gegen das Korsett. Wenn wir aber diese und andere Eingriffe in die Natur als Verunstaltungen verzeichnen, so widersprechen wir damit der An- schauung aller derer, die sie an sich vornehmen. Denn es handelt sich in den weitaus meisten Fällen um Bemühungen um die Ver- schönerung des Körpers in der Absicht, das andere Geschlecht anzulockend Der chinesische Frauenfuß wird durch unbarmherzige Einschnürungen schon beim kleinen Mädchen um ein Drittel ver- kürzt. Die Zehen werden, mit Ausnahme der großen, unter die Fußsohle geschlagen, und das Fersenbein wird nach unten abge­bogen. Die Kleinheit des Fußes wird aber vornehmlich dadurch vorgetäuscht, daß er nicht ganz im Schuh, sondern zum Teil in der Umhüllung des Unterschenkels steckt. Ein entblößter chinesischer Frauenfutz sieht geradezu widerlich aus mit seiner Verkrüppelung. Den Chinesen aber erscheint er entzückend und auch vornehm. Die Fußverunstaltung ist im wesentlichen auf China beschränkt; doch mag daran erinnert werden, daß auch die Europäerinnen bis vor wenigen Jahren Schuhwerk trugen, das eine Deformation in der Zehenstellung bewirkte. Selbst ein anscheinend so starrer Körperteil wie der Schädel wird künstlichen Veränderungen unterworfen. Indessen� kann das nur in ganz jugendlichem Alter geschehen, wenn die Schädclknochen noch weich und die Nähte zwischen ihnen noch lose sind. Durch Pressung zwischen Brettchen oder Umschnürung wird der Kopf mehr oder weniger lang ausgezogen, oder es wird auch nur das Hinter- Haupt flach gedrückt, indem man das Kind mit ihm fest gegen eine Brettunterlage bindet und eS nicht eher davon befreit, als bis es zu laufen beginnt. Diese Schädeldeformation ist vornehmlich unter den Polarvölkern und den Indianern ganz Amerikas üblich. An den alten Peruanerschädeln unserer Sammlungen ist die Berlänge« rung ganz besonders deutlich zu sehen und so symmetrisch, daß früher von einigen Gelehrten die künstliche Deformierung über« Haupt bestritten worden ist; aber man weiß heute, daß die jetzigen peruanischen Indianer es noch genau so machen, wie ihre Vor« fahren. Aus der Südsee ist die Sitte unter anderem von der Süd» küste Neupommerns und den Neuen Hebriden bekannt; aber sie ist dort nicht allgemein, und es finden sich in jedem Dorf noch Leute mit normalen Schädeln. Die Deformation wird hier, so sagt Parkinson , gleich nach der Geburt des Kindes in Angriff ge- nommen, indem man den Kopf oberhalb der Augen mit Binden und Rindenzeug fest umwickelt. Diese Umwickelung wird täglich erneuert und so lange fortgesetzt, bis die erwünschte Form erzielt ist, das heißt etwa 18 Monate hindurch. Der Grund für die Sitte ist das Bestreben, sich zu verschönen, und zwar sind es weniger die Mädchen als die Knaben, die diesen Dauerschmuck erhalten. Noch weit mehr find die Weichteile des Kopfes, besonders Ohren und Lippen, derVerschönerung" ausgesetzt. Wenn wir Europäer die Ohren nur einfach durchbohren, um Schmuckringe und Ohrgehänge einziehen zu können, so gehen andere Völker viel weiter, indem sie das Loch in den Oberläppchen derart vergrößern, daß breite Scheiben von Holz, Stein oder Metall darin Platz finden und das Ohr bis fast zu den Schultern herabziehen. Das mag für unsere Begriffe von Schönheit noch hingehen; aber ein ähnlich umfangreicher Lippenschmuck, der stets eine furchtbare Entstellung des Mundes zur Folge hat, erregt unser Entsetzen. Solcher Lippen- schmuck ist besonders in Südamerika und Afrika verbreitet. AuS Südamerika nennen wir die Botokuden, die ja nach ihrer Lippen« scheide(Botoque) ihren Namen führen, und die Suya am Schingu. Bei den Suya wird die 7 bis 8 Zentimeter breite und 1,7 Zenti« meter dicke rote Lippenscheibe oder der Lippenring der Unterlippe eingefügt, und zwar tragen nur die Männer diesen Schmuck.DaS Loch", so erzählt Karl v. d. Steinen,«in dem die Scheibe steckt, ist in der Mitte dicht unter dem Lippenrot gebohrt; durch ihr Ge- wicht fällt sie in eine horizontale Lage; an den Ecken geht das gemalte Rot unmittelbar in die Mundschleimhaut über. Im Profi! ein merkwürdiger Anblick. Die unteren Schneidezähne, des Drucks der Lippe entbehrend, stehen schief, brechen ab, fallen aus." Afrikanische Gebiete mit größerer Verbreitung von Lippemi scheiden sind der Südosten bis nach Deutsch-Ostafrika hinein, ferner die oberen Nil - und Schariländer; aber in Afrika tragen sie nur die Weiber. Eine besonders starke Verunstaltung zeigen die Frauen des Sarastammes; denn sie tragen in beiden Lippen Holzscheiben. Die obere Scheibe hat nach Kumm 754, die untere gar bis IS Zentimeter Durchmesser, mit dem Erfolge, daß die Trägerinnen keine längere Unterhaltung führen können. Ein von dem Reisenden nach dem Ursprung der Sitte befragter Sarahäupt- ling erklärte, die Vorfahren hätten sie eingeführt, um ihren Frauen alle Anziehungskraft auf die mohammedanischen Sklavenräuber zn nehmen. Wir hätten hier also eine Schutzverunstaltung vor uns. wenn der Häuptling recht hätte. Aber seine Auskunft ist schwerlich zutreffend. Sie würde bedeuten, daß die Sara die Lippenscheiben als eine Verhäßlichung empfinden; alle Völker aber wollen doch, daß.ihre Frauen sich schön machen.- Nicht solche Größe erreichen die Lippenscheiben jPelele) der Makondefrauen, aber bis 75� Zenti» meter Durchmesser haben sie immerhin, und es kommt hinzu, daß sie 3 bis 5 Zentimeter dick sind, so daß das schwere Holzstück die Oberlippe nicht selten zerreißt. Dann muß sie geflickt werden. Weule berichtet von einer Makondefrau, daß sie einen Zeugstreifen über die zerrissene Stelle gepappt hatte und nun, um die Heilung der Wunde nicht zu stören, weder sprechen noch lachen durfte. Beim Lachen erscheint übrigens das Geficht einer solchen Schönen geradezu abenteuerlich. Weniger entstellen die von vielen Völkern in die Unterlippe eingeführten Pflöcke, die aus Quarz sorgsam ge-, schliffen sind. Zu den Verunstaltungen des Körpers muß man wohl auch die oft furchtbaren auf Geficht, Brust und Rücken angebrachten Narben, besonders der Afrikaner, rechnen, die Männer wie Frauen tragen. Sie sind zum Teil als Stammesabzeichen, zum Teil auch als reiner Schmuck anzusehen. Die Knaben werden häufig in der Pubertätszeit durch tiefe Schnitte auf ihren Mut hin geprüft» und davon bleiben wulstige Narben zurück. Bei der Gelegenheit sei bemerkt, daß, Streitwolf zufolge, bei den Makoba im Caprivi- zipfel dem gleichen Zweck Schläge auf das Rückgrat dienen, die den Knaben nicht selten für sein ganzes Leben zum Krüppel machen. Es ist unglaublich, sagt Klose, was die Bassarileute im Hinterlande von Togo aushalten, um zu ihren Ziernarben zu kommen. So sah er ein junges Mädchen, das sich von einer Künstlerin die Muster einschneiden ließ und-dabei, obwohl der ganze Körper mit Blut überströmt war, keine Miene verzog. Das Durchstechen der Nasenscheidewand und der Nasenflügel und das Einfügen von Ringen, Stäbchen, Perlen sind so weit verbreitete S'tten, daß der einfache Hinweis genügen mag; es sind auch nicht eigentlich Deformierungen. Eine solche ist aber auf Samoa üblich. Wir erinnern uns der Samoanertruppen. die in Deutschland gezeigt wurden, oder der Bilder in Reise­werken. Die Samoanerin ist durchschnittlich auch nach unseren Begriffen schön, aber gewöhnlich nur von vorn betrachtet. Weit weniger schön ist das uns im Bilde nur selten gezeigte Prvstl;