599 der Ferne sah er eine Schafherde in einer Senkung grasen, aber den Schäfer zu entdecken, war er nicht imstande. Diese leere Oed« eine Stunde Wegs von der Hauptstadt war beinahe unheimlich. Pietro ging mit immer größerer Eile. Der Gedanke, daß ihm kein lebendes Wesen in den Weg kam und keines in seinen Spuren folgte, jagte ihn weiter. Endlich nach einem mehrstündigen Marsch sah er ein ver- fallenes Gehöft draußen auf der Ebene auftauchen. Er stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Jetzt erst fühlte er die Müdigkeit in allen Gliedern und merkte, daß ihm der Schweiß über Stirn und Wangen herabrann. Er wollte ein wenig rasten. Der weiße Landwein würde jetzt köstlich munden. Eine nachlässig gekleidete Frau nahm die Bestellung des Wan- deres entgegen und brachte ihm eine plumpe Karaffe und ein abgestoßenes Glas. Pietro sah sich in der halbdunklen Osteria um. Der Schmutz und die Unordnung spotteten aller Beschreibung, einige erschrockene Hühner flohen gackernd bei seinem Eintritt, die Fliegen summten unter der Decke.  - Mit der dumpfen Luft des Zimmers mischte sich der Geruch aus dem mit dem Wohnhaus zusammengebauten Viehstall. Pietro trank einen Schluck von dem sauren Wein, entdeckte den Abdruck von Fingern an seinem Glas und stürzte hinaus. Die Frau schien diese Flucht weder zu wun- dern, noch zu kränken. Er ging quer über den Hof auf den Weg zu. An einen in die Erde getriebenen Pflock war ein kleines schwarzes Ferkel mir einem Strick um das eine Hinterbein gebunden. Jenseits einer Mauer aus Feldsteinen lagen einige hundert Schafe. Ein Kehricht- Haufen machte sich neben dem Eingang breit. Der Wanderer bog nach rechts ab. Ein paar halbnackte Kinder liefen ihm entgegen und streckten die Hände nach einem Almosen aus. Sie besaßen nicht die pochende Sicherheit städtischer Bettler, aber waren ebenso. beharrlich. Um sie loszuwerden, warf ihnen Pietro einen Saldo zu. Die Gabe wurde stillschweigend in Empfang genommen, aber lockte dennoch ein ganzes Dutzend anderer Kinder in den ver- schiedensten Altern herbei. Schweigend, aber mit hingehaltenen Händen und Augen, die vor Habgier glänzten, liefen sie neben und hinter dem Fremden, der vielleicht noch ein Geldstück auf den Weg fallen ließ. Pietro wurde es unheimlich bei diesem zähen Achtgeben. Die vielen großen, eingesunkenen Augenpaare, die allen seinen Bewegungen folgten, die vielen ungewaschenen Hände, die um Hilfe baten, gehörten ja Landsleuten. Er ging rascher, ob er gab oder nicht gab, war einerlei, dachte er. Die Gesichter dieser Kinder gehörten ja Greisen, denen das Vermögen zu hoffen ver- lorengegangen war. Aber sie streckten instinktiv die Hände aus. Das geschah aus alter Gewohnheit oder weil man sie es ein für allemal zu tun gelehrt hatte. lFortsetzung folgi.I. Das Cbicagocr Zcmpo*) Von Artur Holitscher  . Der Besuch der Schlachthäuser in Chicago   ist einigermaßen in Verruf geraten bei den Schriftstellern, die nach Amerika   reisen. Ter ausgezeichnete Wells lehnte es ab. zuzusehen, wie unschuldige Tiere in Scharen zusammengetrieben und die Wehrlosen dann zum Tode befördert werden. Andere Geister geringeren Kalibers haben dann Wells Exempel nachgeahmt. Ich vermute, Grund dieses Zurückhaltens ist weniger das Mitleid mit den Tieren als die außerordentliche und endgültige Schilderung, die Upton Sinclair  in seinem Meistcrroman»Tbe Kungle"(Der Sumpf) von den Packinghouses"(Packhäusern) entworfen hat. Ich sehe nicht ein, warum man um kl) Uhr früh nicht zusehen soll, wie die Rinder und Schweine gestochen werden, die man in Form von Filets und Car- bonadeln sich um halb zwei zum Lunch servieren lassen wird. Wich- tiger als das Schicksal der Tiere, die abgestochen werden, scheint mir das Schicksal der Menschen zu sein, die sie abstechen. Daraufhin habe ich mir Armours Schlachthäuser angesehen. Ich traf Sinclair einen Monat später in New Jork und sprach mit ihm über sein Buch.TKs Jungte",«in Werk, das man nicht laut genug preisen und über die Flut der zeitgenössischen Produk- tion halten kann, ist das Werk eines Sozialisten. Er hat die Miß- stände dieses, die ganze Welt angehenden Getriebes aufgedeckt, sie der Welt zu bedenken gegeben. Ihm wars mehr darum zu tun, die Welt über die erbarmungswürdigen Zustände aufzuklären, in denen die Arbeiter der Schlächtereien leben, die wirtschaftlichen Zusammenhänge zu erklären, die diese Menschen ruinieren als *) Im Augusthcft derNeuen Rundschau"(S. Fischer Verlag, Berlin  ) veröffentlicht der durch feinzügige Romanschöpfun- gen bekannte Berliner   Schriftsteller Artur Holitscher   eine Impression" von Chicago  ,der schrecklichsten Stadt des Erd- Kalles". Ihr entnehmen wir die unter dem seltsam klingenden UntertitelDie Katze in der Klavierfabrik" eigenartig gegebene Schilderung von der wahnsinnigen Ausnützung mensch- licher Arbeitskräfte in den Schlächtereien, Fabriken und sonstigen Großbetrieben dieser nach der wilden Zwiebel ebecagua benannten Stadt, die Holitscher   mit Fug und Recht alsdie Hölle" bezeichnet. (D. R.) von dem Fleisch zu reden, das hier unter den unzulänglichsten hygienischen Bedingungen für den Konsum verarbeitet wird. Allein, wie Sinclair von der Wirkung auf das amerikanische   Publikum sagt: I wanted to Kit them in the heart, I Kit tkein in the sto» mach!" Er wollte sie in die Herzgrube treffen, aber er hat ihnen auf den Magen geschlagen. Jetzt thront in dem dunklen, schimyw ligen, übelriechenden Korridor, wo die armen bleichen Mädchen von 7 Uhr früh bis 7 Uhr abends die Fleischscheiben in die Blech- dosen packen, eine Maniküre, weithin sichtbar für die Besucher, die an ihr vorübcrgetrieben werden. Als ein Zeichen dafür, daß die Fleischscheiben von täglich geputzten Fingern in die Büchsen gestopft tverden, thront sie da im Korridor. Ihre polierten Nägel glänzen im Schein der Glühbirnen. Sie sitzt, ein bis in den Tod gelangweiltes Schauobjekt, mitten in dem Gestank da und liest, während die anderen um sie fieberhaft arbeiten, einen abge- griffenen Roman. WahrscheinlichTKe Jungle". Sonst ist aber alles beim alten geblieben. Rings um die ko« lossalen Festungen der Schlachthäuser erstrecken sich Quadratmeilen! weit die offenen Holzställe, in denen Rinder, Schafe und Schweine auf ihre Apotheose warten. Zuweilen öffnet sich ein Tor, die Tiere strömen heraus, durch Schleusen und Verschlüge, die sich vor ihnen auftun, werden durch ein Labyrinth von Pfaden und Winkelstraßen zu einem gedeckten Gang getrieben, auf eine Seufzerbrücke hinauf» an deren Ende das blökende, quietschende, muhmuhende Gewimmel geradenwegs in den messerscharfen Tod hineinfällt. Da ist die runde Riesenschcibe aus Holz, auf der sich an dert Hinterfüßen aufgehängt die strampelnden. Schweine drehen. Vor der Scheibe steht ein kleiner vierschrötiger Kerl mit einer spitzen Stahllanze. Dreht die Scheibe einen Schweinebauch in die geeig- nete Höhe, so macht der Kerl in das Schwein den ersten kurzen i �Schnitt, von oben nach unten. Das strampelnde Opfer merkt erst .|Dtzt, worum es sich eigentlich handelt, stößt ein Angstgequieke aus wie ein gebranntes Kind, spritzt dem Kerl einen dünnen, heißen, roten Strahl ins Gesicht, über den Leib und die Mörderhände und ist vermittelst einer Kette schon zum nächsten Schlächter weiter-- befördert, der einen ebenso kurzen, eleganten und systematischen! Schnitt an ihm vollführt. Hundert Schritte weiter ist das Tier bereits schon nach allen Regeln der Kunst abgebrüht, enthaart, in seine Bestandteile zerlegt, in die Kühlräume gebracht, die Spur seiner Erdentage ist ausgelöscht und sein Beruf als Menschennah- rung hat feste Form angenonimen. Die Scheibe dreht sich und der Vierschrötige macht seinen ersten Schnitt. Seit dreißig Jahren steht er da und macht seinen ersten Schnitt sicher und selbstbewußt, wie ein Bankdirektor seine Unter- schrift unter ein Schriftstück, setzt. Er verdient viel Geld, öll Cents die Stunde, und ist eine repräsentative Figur des heutigen Ame- rikas, so gut wie Dowie, Rockefeller   und Roosevelt  . Er hat dreißig Jahre lang das Tempo ausgehalten 25 Tiere in der Minute, das macht 1501 in der Stunde, gleich 15 00) für den zehnstündigen Arbeitstag. Dreißig Jahre lang ist er im Speed Amerikas   auf seinem Posten geblieben, Schweinemillionen hat sein Lanzenritz dorthin spediert, wo der Fleischfrcßtrieb der Menschen sie hin hchen ivollte. Verachte ich diesen Mann wegen seines Gewerbes, seines gleichmütigen, unbewußt rohen Naturells, der inmitten von Todes-- fuckungcw dünnen roten Strahlen und Angstgequictsch seinen und einer Familie Unterhalt erwirbt? Keine Spur! Ich bewundere ihn um seiner Kraft und seines Tempos willen. Mag er immerhin ein Unmensch, ein Untier, ein Unding, eine Boschsche Höllengcburt sein ein Maßstab und Messer der Men- schenkraft, ein Rekordbestimmer der Tüchtigkeit, auf die es in seinem Beruf ankommt, ist er. ist er! Ein Feind, nicht der Schweine, sondern seiner Mitmenschen, dazu. Das ist dieser Boschsche Höllenkerl. Seine Tüchtigkeit ist es, die ihn zum Feinde seiner Mitmenschen macht, diesen da, der den Speed(Hetze) aushält. Es ist ja ein Gesetz von Anfang her, der Tüchtige ist der Feind des minder Tüchtigen. Aber in diesem Land, das aus der Tüchtigkeit eine Religion gemacht hat, eine Religion, deren Tempel gleich neben dem der Demokratie sich erhebt und nicht nur in den Geschästsstunden stärkeren Zulauf hat, im heu- tigen Amerika   hat dies Gesetz einen kleinen Zusatz, eine Ergänzung erfahren, und zwar diese: Der Tüchtig st e ist zugleichauch der Feind des Tüchtig st en. Ein Mann namens Fredcrik Taylor war jahrelang als In- genieur in den Bethlehem  -Stahlwerken, die dem Carnegie-Trust ge- hören, tätig. Auf dem Weg von der Gießerei ins Bureau und zurück blieb«r zuweilen auf dem Hof stehen und sah zu, wie die Roheisenklumpen, die sich dort im Freien sonnten, von Leuten auf Karren verladen wurden. Ein kleiner Deutscher, den er in feinem Buch(Scientilic Management" by F. Taylor, ich glaube bei Macmillan erschienen.) schonungslos Schmidt nennt, lenkte durch seine Gebaren Taylors Aufmerksamkeit auf sich. Dieser kleine Deutsche   war ein kräftiger Bursche, der es zuwege brachte, täglich etwa 12Vi TonnenPig Iron  " auf die Karren zu laden. Für einen Tagelohn von 1,15 Dollar leistete er diese Arbeit. Taylor sah dem Burschen zu und erkundigte sich beim Aufscher nach dem Privatleben des kleinen Deutschen  . Schmidt war Familienvater, hatte sich von seinem Lohn ein Stückchen Land vor der Stadt erworben, auf dem er tag- lich eine Stunde, ehe er in die Werke kam, eine Stunde, nachdem er abends heimkehrte, mit eigenen Händen ein Häuschen baute, für sich und die Seinen, um darin zu wohnen. Dieser Schmidt ist ein D�ebl sagte sich Taylor. Die zwei