- 611— Hua dem XTagebucb einer deutfcben Schauspielerin. Von Erich Schlaikjer . Die Veröffentlichung des erschütternden Buches, das den hier zur Ueberfchrift gewählten Titel fuhrt und im Verlag von Robert Lutz(Stuttgart ) erschienen ist, verdanken wir den großen Ver- sammlungen von Schauspielerinnen, die im verflossenen Jahre in Frankfurt a. M. und Wien stattfanden. Indirekt waren die Ver- sammlungen wohl von der neu erwachten gewerkschaftlichen Be- »vegumg der Schauspieler hervorgerufen: Die Damen waren zu- sammengekommen, um das große Elend ihres Standes in die Welt hinauszuschreien. Unter dem Eindruck dieser Versammlungen! entstand nun in der Verfasserin des vorliegenden Tagebuches der Wunsch» ihren früheren Kolleginnen in ihrem bitteren' Kampf zu Hilfe zu kommen. Sie fühlte, daß alle öffentlichen Versammlungsreden mehr oder weniger akademisch bleiben mutzten, da keine einzige Schauspielerin auch nur die Möglichkeit hatte, durch schleierlosc Bekanntgabe der erlittenen Qualen die öffentliche Meinung und die gesetzgebenden Körperschaften aufzuscheuchen. So lange die Schauspielerin noch am Theater ist, kann sie gar nicht von all dem reden, das. hinter dem trügerischen Glanz der Kulissen verborgen liegt. Sie selber aber war nach verhältnismäßig raschem glänzendem Aufstieg von der Bühne abgegangen, sie hatte in verschwiegenen Tagebüchern mit rücksichtsloser Offenheit ihre äußeren und inneren Erlebnisse auf- gezeichnet, sie vermochte ein menschliches Dokument von erschüttern- der Kraft in die Diskussion zu werfen. Und um ihrer früheren Kolleginnen willen tat sie es. Daß sie dabei selber den Decknamen „Helene Scharsenstein" wählte und auch sonst alles entfernte, was wirklich vorhandene Menschen bloßstellen konnte, verstand sich unter den vorhandenen Umständen und bei der Noblesse ihrer Absichten von selber. Wir halten das Tagebuch für eine glänzende Dichtung von sehr ernstem Wert; es ist aber trotzdem nicht unsere Meinung, die Arbeit an dieser Stelle unter ästhetischen Gesichtspunkten zu betrachten. Uns soll in erster Linie die soziale Seite der Sache interessieren, nur daß wir freilich den menschlichen Schicksalen des Buches nähertreten müssen, wenn wir nicht wieder dem Akademi - scheu und Unpersönlichen verfallen wollen, das aufzuheben die Ab- ficht der Verfasserin war. Helene Scharsenstein ist aus einem ländlichen Pastorenhaus hervorgegangen. Als der Vater starb, mutzte die Mutter in die Stadt ziehen, mutzte Zimmer vermieten und dafür sorgen, daß die heranwachsenden Mädchen auf irgend einen Erwerb vorbereitet wurden. Auf diese Wesse kam da Dr. Götz, der Chefredakteur einer liberalen Zeitung, als„möblierter Herr" ins Haus und Helene Scharfenftein wurde in ein Lehrerinnenseminar gesteckt. Zwischen Helene und Dr. Götz entstanden im Lause der Jahre Beziehungen, die zunächst freundschaftlicher Art waren, allmählich aber auf beiden Seiten einen leidenschaftlichen Charakter annahmen. Es war eine Begleiterscheinung dieser Beziehungen, daß das junge Mädchen oft ins Theater kam; Dr. Götz war als Chefredakteur in der Lage, ihr seine Plätze zur Verfügung zu stellen. Mit dem Theaterbesuch lief eine immer stärker werdende Abneigung gegen die Schularbeit paralell, in die sie inzwischen eingetreten war. Nicht als ob sie die verantwortungsvolle Schönheit des Berufes nicht begriffen hätte: Es war Fesselung der freien geistvollen Er- zieherarbeit durch eine staubige philiströse Bureaukratie, die dem frischen klugen tüchtigen Menfchenkind auf die Nerven fiel. Nach« dem die Liebe zum Theater einen längeren aufreibenden Kampf mit den grauen Schulpflichten geführt hatte, siegte endlich ihr künstlerischer Instinkt, und sie beschloß, Schauspielerin zu werden. Weder das Entsetzen des Dr. Götz, noch die offenherzigen Mah- mingen eines klugen älteren Schauspielers vermochten die er- frischend willenskräftige Helene von ihrem Entschluß abzubringen. Von ihrer guten Mutter hat man aus dem Buch den Eindruck, daß sie so in aller Unschuld ein wenig unter ihrem Pantoffel stand. .so daß sie also keinen nennenswerten Widerstand zu leisten ver- mochte. Zwischendurch läuft die LicbeSgeschichte mit Dr. Götz, über der eitt bleicher tragischer verhängnisvoller Stern flimmert. Götz macht in den Tagebüchern den Eindruck eines vornehmen Idealisten, er ist ein Journalistentyp der besten Art, mit all der Weltersahrenheit, die Journalisten im Allgemeinen eigen ist. Er legt seiner Neigung für Helene die denkbar stärksten Fesseln an. da er aus einem Grunde, den mitzuteilen er sich scheut, niemals wird herrateii dürfen. Der jungen warmblütigen Schauspielerin aber, die inzwischen an die Bühne ihres Wohnortes engagiert worden ist, ist im ersten Lenz ihrer Empfindungen mit einer bleichen entsagenden Askese nicht gedient. Sie nimmt an, daß der geheimnisvolle Widerstand sich schließlich doch wird überwinden lassen, und da sie nn Interesse ihrer Kunst auf lange hinaus noch nicht ans Heiraten denken darf, knüpft sie mit ihm ein glückliches, nobles, freies Liebes- Verhältnis an. Es ist eine Scene von grausig packender Kraft, wie er ihr wenige Jahre später gesteht, datz er in kurzer Frist der Brightschcn Krankheit zum Opfer fallen wird. Die Verfasserin der Tage- bücher wächst hier zu einer erschütternden Dichterin empor und verrät zugleich mit tapferer Unerschrockenheit, wie dem totkranken Mann gegenüber in ihr die sinnliche Liebe erlischt und nur die sorgenvolle Liebe der Krankenpflegerin zurückbleibt. Dr. Götz ver-, schwindet dann aus den Blättern des Buches und dem Leben Helenes. Man hat fast den Eindruck, als habe er Abschied von ihr genommen. wie Dr. Rank von Nora Abschied nahm: Er verkroch sich wie ein Tier des Waldes, als die Auflösung begann. Die junge Schauspielerin kam an der Bühne ihres Wohnortes überraschend schnell zu großen Rollen und starken Erfolgen. Ihr offenbar starkes Talent wurde von einer pikanten rotblonden Schön» heit wirkungsvoll unterstützt. Sie lernt auf diese Weise all« Seligkeiten des ersten künstlerischen Rausches kennen, gewinnt aber gleichzeitig auch sehr früh einen starken Einblick in das Elend ihres jetzigen Standes, dem sie indessen mit Hilfe eines kleinen Erbteil? zu entgehen hofft. Durch ihre rotblonde Jugend, wie durch ihr Talent verdränzii sie an der Bühne eine alternde Liebhaberin, die sich dafür durchs einen wilden leidenschaftlichen Ausbruch von Haß und Eifersucht rächt. Sie sind ja eine Dame, eine feine Dame, schreit sie sie and Dagegen ist unsereins bloß Dreck. Was wollen Sie überhaupt beim Theater? Dabei können wir empsindliche Leute nicht brauchen, und wenn sie noch mehr Gelo haben. Uno warum kommen Sie gerade zu uns? Warum laufen Sie mir in die Quere? Ich habe Ihnen doch nichts getan! Hier habe ich ge» seffen fünf Jahre lang in Ruhe und Frieden, und das Publikum und die Presse waren zuftieden mit mir. und nun kommen Sie und wollen mich hinausbeltzenl Glauben Sie vielleicht, mir ist e« leicht geworden, hier zu landen? Was� habe ich nicht getan und ausgestanden, um hochzukommen! Aber das verstehen Sie nicht? Was wissen Sie mit Ihrem Gelobeutel und Ihren Verbindungen (siehe: Dr. Götz), wie es uns armen Teufeln ergeht, die wir nichts anderes haben, als unser bißchen Talent und unseren Leib. Was das kostet, was von unsereiner verlangt wird, ehe sie einigermaßen aus dem Schlamm herauskrabbeln darf. Da heitzts hungern und . noch ganz was anderes, bis einem geholfen wird, Verstehen Sie das? Natürlich nicht! Woher sollten Sie es auch wissend Ich will es Ihnen sagen! Die beiden gottverfluchten Hu sind eS, die man lernen und dulden mutz, wenn man in die Höhe kommen will. Hungern und huren! Das sind die Leitern! Und jede mutzj darüber, sie mag wollen oder nicht, und wenn ihr Talent noch sq groß wäre. Sie schenken es keiner, die Agenten, die Direktoren» die Regisseure... und zu denen kommen noch die Kavaliere, die die Fetzen bezahlen müssen, ohne die es keine Rollen gibt, und die die meisten Direktoren höher schätzen als das Talent. Und die ~ erren Verehrer schenken kein Hutband umsonst. Da heißt es:' einen Leib will ich dafür. So stohts, so sieht es aus bei uns? Und keine kommt darum herum. Das begleitet uns vom ersten, Schritt, den wir auf die Bühne setzen, bis zur ersten Runzel in» Gesicht. Danif ist es aus und ist Ruhe. Dann sind wir erledigt. dann bleibt nur noch das Hungern.... Auch Sie werden sio kennen lernen, die beiden verfluchten Hu, wenn Sie beim Bau, bleiben. Warum sollten Sie es besser haben, als wir andern alle? Das Hungern wird keiner leicht, das Huren mancher. Sie sehen nicht danach aus, Sie scheinen keine von denen zu sein, was wollen Sie also beim Theater? Gehen Sie fort beizeiten und veroerben Sie mir nicht das Engagement und sich das Leben. Helene Scharsenstein mutzte bald erfahren, datz in der wilden Rede der alten Liebhaberin viel grausame Wahrheit steckte. Auchj sie lernte sie bereits in ihrem zweiten Engagement kennen, dig beiden gottverfluchten Hu. Einen Augenblick freilich sah es aus« als ob ein großer, großer Glücksfall sie aus allem Elend befreien sollte. Ihre künstlerischen Erfolge hatten Aufsehen erregt, die Berliner Agenten waren auf sie aufmerksam geword:.!, sie wap im Begriff, eine„Nummer" zu werden, und so erhielt sie einen Engagementsantrag an eine der ganz großen Bühnen Deutsch * lands, der mit 700 M. Monatsgage anfing. Nun war sie aber noch auf zwei Jahre an ihren augenblicklichen Direktor gebunden, und! dieser Gentleman erklärte ihr mit offenem Zynismus, oaß er sie nicht gehen lassen möge, weil sie im nächsten Winter seine Bett« genossin werden solle. Sie erklärte ihm ins Gesicht, daß er ein: Schurke sei und daß sie sich eher mit einem Orang-Utan einlassen werde als mit ihm. Besser wurde dadurch aber selbstverständlich auch nichts, sie mußte bleiben, und der große Glückstraum zerrann. Wäre sie kontraktbrüchig geworden, wären die schwarzen Listen des Bühnenvereins in Kraft getreten, nach denen keine Schau* spielerin angenommen werden darf, die an einer zum Kartell ge* hörigen Bühne kontraktbrüchig geworden ist. Sie blieb also, er- lebte das Ende ihres kleinen Kapitals, und lernte zunächst da? erste Hu, das Hungern, kennen. Sie versuchte, ihre eigene Schnei- derin zu sein, sie hungerte und darbte, aber der Zusammenbruch war nicht aufzuhalten: die Kostüme, die sie für die Bühne brauchte, waren unerschwinglich, um so mehr, als sie Salondamen und Charakterliebhaberinnen spielte, Rollen also, die eine besondere Toilettenpracht verlangen. Es begann nun der aufreibende, nerbenmordende, seelenzdr- störende Kampf einer Schauspielerin, die mit der ganzen Glut eines künstlerischen Temperamentes am Theater hängt und sich vor der Hingabe an den ungeliebten Mann entsetzt. Wie es in fast allen Fällen geht, die Liebe zum Theater siegte und Helene mußte nun die Bitternis des zweiten Hu kennen lernen. Als sie im nächsten Winter einen künstlerischen Aufstieg an einer anderes
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29 (9.8.1912) 153
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