700
immer auf dem Tisch des Gefangenen zur Gesellschaft lag, half ihm; ihre Rede klang wie eine tiefe, bekannte Stimme, die in vielem an Vater Lasses Stimme in seiner Kindheit erinnerte. Von der Bibel ging er weiter und entdeckte, daß die ernsten Bücher Menschen waren, die in der Einsamkeit saßen, so wie er selbst, und nach außen hinaus redeten.
War denn die Einsamkeit so entsetzlich, wenn man solche Gesellschaft hatte? Belle begriff feine eigene Angst davor nicht mehr. In seiner Kindheit war er Geschöpf im weitesten Sinne gewesen und hatte an allem Gesellschaft gehabt; er fonnte sich mit Bäumen, Tieren und Steinen unterhalten. Die Fäden welkten einmal ab und führten keine Nahrung mehr zu; aber dann wurde er eins mit den Massen und fühlte und dachte genau so wie sie. Jezt war auch das im Begriff zu zerbröckeln; es wurde deutlich Glied für Glied isoliert, und es ergößte ihn, einen Plan darin zu entdecken. Er hatte sich die Natur schon als Kind untertan gemacht und dann die Massen erobert! Jetzt sollte an die Einsamkeit die Reihe kommen, und mitten darin bewegte er sich selbst, groß und wunderlich; sie war bereits mitten im Begriff, unauslöschliche Spuren in seinem Gemüt zu hinterlassen, obwohl er noch nichts von ihr gesehen hatte. Ihm war so sonderbar gespannt zumute, ungefähr so wie damals, als er in seiner Kindzeit zusammen mit seinem Vater auf Bornholm anlangte und nichts sehen konnte, aber ein Gewimmel von Leben sich da drinnen hinter dem Nebel regen hörte. Eine neue, unbekannte Welt voller Wunder pochte ihm von da drinnen ahnend entgegen.
Belle handelte nicht von irgendeinem Willensakt heraus; er hätte ebenso gut versuchen können, sich selbst an den Haaren in die Höhe zu heben, als zu beschließen, daß er iezt ein Mensch für sich selber sein wollte. Dies war ein Erwachen von neuen Fähigkeiten! Er ließ sich nicht mehr Sonne und Regen über den Kopf hingehen; es geschah das Wunderbare mit ihm, daß er alles staunend betrachtete, was bisher als alltäglich an ihm vorübergeglitten war, und alles in neuem, strahlendem Licht erblickte. Er mußte alles von vorn an erforschen, jede Einzelheit betrachten; nein, war es nicht wunderbar, wie sich alles miteinander verband, Kummer und Freude und scheinbare Kleinigkeiten, bis er es selber wurde, Belle, der über Hunderttausende geherrscht hatte und doch ins Gefängnis mußte, um sich reich zu filhlen. Es war etwas in ihm entzündet, was nie erlöschen konnte, ein heiliges Feuer, zu dem alles Brennholz hertragen mußte, es mochte wollen oder nicht. Jezt fonnte er nicht besiegt werden, er 30g Kräfte aus der Unendlichkeit selbst.
-
Die kahle Zelle drei Schritt nach der einen Seite und sechs nach der anderen mit ihrer Luftklappe, ihrem süßlichen Abortgestank und dem mystischen Guckloch in der Tür, das war wie ein Auge, das beständig über einem wachte ia, wieviel hatte sie nicht in sich eingeschlossen! Es war ja zu allen Zeiten das Los des armen Mannes gewesen, sich aus der Leere Welten zu schaffen, schöne Fata Morgana, die plöklich zersprangen und ihn noch ärmer und öder zurückwarfen. Aber dies hielt; in der kahlen Kammer der Belle schienen sich alle Lebensleitungen zu vereinen, fie war wie der dunkle, unterirdische Raum in mächtigen Gebäuden, wo der Mechanismus aufbewahrt wird, der das Licht und die Wärme in den ganzen Komplex ein- und ausläßt. Da drinnen entdeckte er, wie reich und mannigfaltig das Leben ist.
7]
( Fortsetzung folgt.)
Veine.
Bon Franz Held.
( Nachdruck verboten.)
Das brachte den verliebten Lorel mit einem Schlag zur Realität zurüd. Er sprang aus seiner Ecke auf, flopfte wütend mit der flachen Hand den Schenkel und schwenkte seinen alten, schon erweichten Strohhut, als ob er ins Wasser gefallen wäre. Dann brach er in ein gelles Gelächter aus und begann ebenfalls mit zitternden Fingern auf dem schmutzigen Fußboden herumzutasten. " Sicher waren's Schwindler!" sagte sich Lorel, da nun die trivialen Perronfiguren, Bahndienstmänner mit Karren, Erfrischungsverfäufer, ihn gänzlich vom Lann Fégines befreit hatten. Aber was jetzt tun? Sie waren ja schon längst verschwunden.
Wäre er eher ausgestiegen, so hätte er draußen auf der Treppe Fräulein Fégine den Arm des pfiffigen Braunen nehmen sehen fönnen. Die ganze Gesellschaft drückte sich in eine Droschke. War das ein Gimpel!" lachte einer der Bauernfänger.
"
Sein letzteser hat mir leid getan!" wandte sich Fégine zu Lorela Gunsten ein.
-
" Ja, ich hab's wohl gesehen. ein netter Junge, nicht wahr?" „ Ein bißchen um's Maul geh'n, einfnurrte der Bräunliche. schmieren sollst Du sie; aber wenn Du noch mal Dich unterstehst, einem so abzulecken, schlag ich Dir alle Knochen entzwei, daß laz Dir von mir gesagt sein, Du verdammte Hure!" Fégine starrte ohne Antwort vor sich hin. Aber um ihre Lippen zuckte ein Entschluß.
Lorel hatte gar nichts mehr außer einem Soustück, und das genügte nicht für die Pferdebahn. Er mußte also zu Fuß nach dem Rendez- vous- Platz. Den langen Weg legte er im Sturmschritt zurück, gepeitscht von Gedanken. Der prickelnde Regen hörte erst auf, als er fast da war. Ganz durchnäßt tam er an. Es war die Zeit des allgemeinen Geschäftsschlusses. Die langen, schmalen Straßen, die bei der Porte St. Martin austaufen, wimmelten von einem schwarzen Heerzug heimkehrender Angestellten. Alle diese Leute gingen zu dreien oder vieren oder in noch größeren Trupps, wie sie grad aus den Bureaus tamen. Viele griffen sich unter den Arm, aber es schien ein unsichtbarer. Zu sammenhang auch zwischen den einander Unbekannten zu bestehen. Es war eine einzige kompakte Flut, die, nachdem sie tagsüber befruchtend ausgetreten, am Abend wieder in ihr Lett zurückströmte. Lorel kam sich unter all diesen in sichern Geleisen rollenden Menschen wie ein Ausgestoßener vor, wie ein fauliger Tümpel im Sand, weitab von Ebbe und Flut! Keine Stellung! Kein Sou im Portemonnaie! Keine Hoffnung!
Da spazierte ein alter Bekannter aus der Schmiedewerkstatt pfeifend auf ihn zu. Lorel fah krampfhaft seitwärts, um ihn nicht grüßen zu müssen. Was sollte er antworten, wenn der andere ihn nach seiner jebigen Rondition befragen würde? Endlich kam Fégine. Sie ging ihm schnell entgegen, als er in ihrer An seinem Bestimmungsort angelangt, mußte er noch warten. Gefichteweite war. Sie trug einen langen, mattschwarzen Seidenmantel, legte ihren Arm unter den seinen, die Muskeln seines Oberarms fühlten das nachgiebige Fleisch des ihren zittern. „ Es ist zu frisch heut' abend, deshalb fühl ich mich nicht recht behaglich," antwortete sie auf seine Fragen, ob sie unwohl sei. Der wahre Grund war ihre große Aufregung, ob: Paul, der Gauner aus dem Kupee, ihr nicht gefolgt wäre. Beide führten einen gemeinschaftlichen Haushalt. Sie war heimlich fortgegangen, als er sich einer Augenblick entfernt hatte. Wie leicht fonnte er ihre Spur gefunden haben!
Sie war übrigens wirklich Kassiererin im. Bon Marché und erst seit etwa einem Monat durch eine Wallung ihres leidenschaftlichen Blutes in das Garn dieses bestechenden, aber ordinären Hochstaplers geraten, der nur von ihrem Gehalt leben wollte. Rein Mensch in ihrem Geschäft ahnte das geringste von diesem Verhält nis, das sie bei seiner Entdeckung über furz oder lang ihre Stellung fosten mußte. Diese Aussicht hatte ihr jeden Halt geraubt. Da ihr bescheidenes Austommen für Pauls luxuriöse Lebensführung bei weitem nicht ausreichte, so begann er in den letzten Tagen trotz ihres empörten Protests sie für seine Bauernfängereien zu mißbrauchen. Er richtete fie ab, naive Tölpel in daa Kupee zu locken, wo er Kümmelblättchen arrangierte.
1917
In der Ueberzeugung von der Unhaltbarkeit ihrer bisherigen ehrlichen Existenz und im dringenden. Verlangen nach Geld, viel Geld, hatte sie sich endlich darein ergeben.
Um von der vielbelebten Straße wegzukommen, zog sie ihren Begleiter in das nächste Bouillon. Vorher hatte sie ihm im Halbdunkel der Arkaden des Loubre- Magazins die entliehene Summe in die hand gedrückt.
Sie machten großes Aufsehen, als sie sich zwischen den nah beieinander stehenden, glänzend gedeckten Tischchen des überfüllter Restaurants durchdrängten. Denn zu der echt Bariser Eleganz der Dame bildete der schäbige Anzug ihres Begleiters einen seltsamen, Kontrast. Er war nicht gewohnt, in einem so guten Restaurant zu speisen und konnte sich gar nicht darin finden. Sie nahm ihm aber auch diese Mühe vollständig ab, winkte selbst die schwarzgekleidete Bonne heran. Sie bestellte Kapaun mit Reis und hauteSauterne, dazu einen guten Burgunder. Wie köstlich ihm der würzige Wein mundete! Er bestaunte wie ein Traumbild das volle Geficht seines Gegenübers im fahlen Reflex der jägergrünen Vorhangfalten zu halber Höhe des Fensters. Der dickbäuchige MajolikaTopf mit den Blattgewächsen spiegelte sich zehnfach in den wandhohen Glasflächen, die allenthalben glänzten Aufgehäufte Austern auf Silberschalen wurden vorbeigetragen, in Strohförbchen Lagenschief geneigte Flaschenhälse. Die Ornament- Girlanden, welche die großen Quaderungen der Decke umrahmten, glänzten fettigfnusperig im gedämpften elektrischen Licht, wie die Kruste der gebackenen See-. zungen. So hatte ihm das Effen noch nie gefchmedt! Als sie zum Dessert frische grünschalige Mandeln aßen( im Frühling!), überkam ihn die schreckliche Idee, was das wohl fosten würde. Aber beim Verlassen des Lokals ging sie selbst aur der Durcaudame, um zur zahlen, se sehr er auch Einsprache erhob. Auf der Straße ruhte er aber nicht eher, bis sie das Geld zurückgenommen hatte. Er freute sich, daß das Couper verhältnismäßig sehr billig war.. ich möchte schlafen Es ist zu spät für ein Café- Konzertsagte sie, indem sie ihn mit einem langen, unbeweglichen Blick umgab. Und da er nicht gleich auf ihre Andeutung einzugehen wagte, fuhr sie fort:
-
Bu mir fönnen, wir nicht meine Hausleute würden mich im Geschäft verklatschen."