Anterhaltungsblatt des Nr. 204. Sonnabend oen 19. Oktober 1912 lNachvruik verbolen.» m pclU der Eroberer. Von M. AndersenNexö. Uebersetzt von Mathilde Mann . „Haben die Tiere wirklich Verstand?" fragte Ellen ver- wundert.„Du glaubst wirklich, daß sie über die Dinge nach- denken, genau so wie wir?" Für Schwester war das nichts Neues; sie sprach jeden Tag mit den Hühnern und Kaninchen und wußte sehr gut, wie klug sie waren. „Können die Blumen denn auch denken?" fragte Lasse Fredrik. Er war gerade im Begriff, eine Blume nach dem Gedächtnis zu zeichnen, und sie bekam beständig Aehnlichkeit mit einem Gesicht, daher die Frage. Pelle meinte, daß es Wohl möglich sei. „Aber Pelle," sagte Ellen,„jetzt gehst Du wirklich zu weit. Denken ist etwas, was nur wir Menschen können." „Auf alle Fälle können sie fühlen, und das ist doch gewissermaßen auch Denken, freilich nur mit dem Herzen. Sie merken es gleich, ob man sie gern hat; ist das nicht der Fall, so gedeihen sie auch nicht." „Ja, das glaube ich gern, denn wer sie lieb hat, pflegt sie auch gut," fuhr Ellen unverbesserlich fort. „Das kann man doch nicht so als Tatsache hinstellen," entgegnete Pelle und sah sie neckend an.„Du hast die fleißige Life schr lieb, aber ein Gärtner würde sicher behaupten, daß Du sie wie einen Kohlstrunk behandelst. Und sieh doch, wie fleißig sie trotzdem blüht! Die Blumen er- Widern freundliche Gedanken mit Dankbarkeit, und das ist doch eine hübsche Art und Weise zu denken. Der Verstand ist vielleicht gar nicht so viel wert, wie wir Menschen uns ein- bilden. Du denkst ja selbst mit dem Herzen, Mutterchen." Das war sein Schmeichelname für sie in dieser Zeit, wo sie das Kind erwartete. Nach einer solchen Unterbrechung fuhren die beiden fort. Pelle mußte Schwester von allen den Tieren im Abcbuch er- zählen: von der nützlichen Kuh und von dem Hasen, der den Tau vom Klee ableckte und gerade vor der Nase des Hirten- jungen aufsprang. Im Winter kam er in den Garten hinein, nagte die Rinde von den jungen Bäumen und fraß dem Bauer seinen Kohl auf.„Ja, das unterschreibe ich," stimmte Ellen zu, und dann lachten sie alle, denn Lampe hatte ihr gerade all ihren Grünkohl verputzt. Dann schweifte die Kleine plötzlich ab und fragte, ob Kopenhagen immer, immer da gewesen sei! Pelle wußte einen Augenblick nicht aus noch ein, grub dann aber infolge einer glücklichen Eingebung Bischof Absalon aus der Er- innerung hervor. Er benutzte die Gelegenheit, um zu er- zählen, daß in der Hauptstadt eine halbe Million Menschen wohne. „Hast Du sie gezählt, Vater?" unterbrach ihn das Kind ganz verdutzt und packte ihn beim Aermel. „Ach, das kannst Du doch wohl begreifen, daß Vater das nicht getan hat. Du kleines Schaf!" sagte Lasse Fredrik.„Es könnt ja währenddessen einer geboren werden!" Und dann war man wieder beim Hahn angelangt, der das Buch einleitete und abschloß. Er stand ganz übermütig da und schlief nie: ein eingebildeter Kauz war er: aber wenn Schwester fleißig war, legte er einen Oere zwischen die Blätter. Aber die Hühner legten Eier und es zeigte sich, daß es mit ihnen ebenso ging wie mit den Blumen. War man gut Freund mit ihnen und behandelte sie als zur Familie gehörig, so legten sie fleißig: machte man aber einen Musterhof für sie und behandelte sie nach allen Regeln der Kunst, so verdienten sie nicht einmal ihr Futter. Bei Onkel Kalle hatten sie ein Huhn, das in der Stube zwischen all den Göhren umher lief, und das legte sein Ei den ganzen Winter lang tagtäglich unter das Bett, wenn auch kein anderes Huhn mehr legte. Dann kaufte der Besitzer von Steengaarden es, um damit Zucht zu treiben: er gab zwanzig Kronen dafür und glaubte,"er hätte eine Goldgrube erworben. Aber kaum war es nach Steengaarden gekommen, als es auch schon auf- hörte, Wintereier zu legen.— Denn da gehörte es nicht mit zur Familie, sondern war ein Huhn, an dem man verdienen wollt«. „Musters fleißige Life blüht den ganzen Winter," sagte Schwester und sah gerührt nach der Blume hinüber. „Ja, das kommt daher, weil sie sieht, daß wir alle so fleißig sind," erwiderte Lasse Fredrik mit einem Schelm im Gesicht. „Willst Du Dich wohl schicken. Du Strolch!" Pelle langte nach ihm aus. Ellen saß da und strickte an ein Paar winzig kleinen Strümpfchen. Ihr Blick verweilte bald bei dem einen, bald bei dem anderen; sie lächelte nachsichtig zu ihrem Geplauder. Sie waren doch alle miteinander große Kinder! „Mutter, kann ich die nicht für meine Puppe kriegen?" fragte Anna und nahm die fertigen Strümpfe. „Nein, die soll die kleine Schwester haben, wenn sie kommt." „Vorausgesetzt, daß es'ne Dirn wird!" sagte Lasse Fredrik nüchtern. „Wann kommt denn die klemc Schwester?" „Im Frühling, wenn der Storch wieder auf den Hof zurückkommt: dann bringt er sie mit." „Ach was, der Storch!" Lasse Fredrik machte eine ver- ächtliche Miene.„Das ist ein schöner Blödsinn!" Schwester war auch klüger, als man denken mochte; wenn das Wetter gut war, holte sie die Milch vom Hof. „Ach, ich weiß recht gut, daß ich in Dir gelegen habe, Mutter! Darum Hab' ich Dich so lieb," sagte sie und bohrte den Kopf in den Schoß der Mutter. „Jetzt mußt Du zu Bett, mein Herz," sagte Ellen und stand auf. „Ich kann merken, daß Du müde bist." Als sie das Kind zu Bett gebracht hatte, kam sie herein und setzte sich wieder hin, um zu stricken. „Jetzt finde ich, solltest Du für heute Feierabend machen," sagte Pelle. „Dann werde ich nicht mehr fertig," sagte Ellen und ließ die Stricknadeln noch fleißiger rasseln. „Schicke es zu einer Maschinenstickerin, Du verdienst ja bei der Hantierung nicht mal das tägliche Brot. Jedes Ding bat seine Zeit, die Arbeit und die Ruhe, sonst ist man ja kein Mensch." '„Mutter kann die Stunde drei Oere mit Stricken ver- dienen," sagte Laste Fredrik, der das ganz genau ausgerechnet hatte. Ja, was machte das? Ellen meinte doch, daß sie nichts damit versäumte. „Es ist eigentlich, dumm!" sagte Lasse Fredrik plötzlich, „warum wächst uns das Haarige nicht an den Beinen? Dann hätte man nicht all die Mühe, die Wolle zu scheren, sie zu kratzen, zu spinnen und Strümpfe davon zu stricken." „Nein, was für einen Unsinn!" sagte Ellen lachend. „Ja, einmal sind wir doch behaart gewesen," beharrte Lasse Fredrik.„Es ist bloß dvmm, daß es nicht so ge- blieben ist." Pelle war der Ansicht, daß es gar nicht so dumm sei; denn das bedeutete, daß man sich selbst übernommen habe! Die Tiere wurden fertig geboren; selbst solchen Tieren, die einen Abscheu vor dem Wasser hatten, wie Hühnern und Katzen, war das Schwimmen an zeboren: aber die Menschen mußten sich hübsch aneignen, was sie nötig hatten. Für die sorgte die Natur nicht, weil sie die Verantwortung für sich selbst übernommen hatten; sie waren die Herren der Schöpfung. „Aber dann müßten ja die armen Leute am ganzen Leibe behaart sein," wandte Ellen ciw„Warum nimmt sich die Natur der Armen nicht ebenso gut an wie der Tiere? Die können doch auch nicht für sich sorgen." „Ja, das ist es ja gerade, was sie können," sagte Pelle,„denn sie bringen ja das m e i st e hervor. Oder meinst Du vielleicht, daß das Geld die Aecker bebaut, oder Zeug webt. oder die Kohlen aus der Tiefe ans Tageslicht schafft? Das läßt es hübsch bleiben. Das gesamte Kapital der ganzen Welt vermag nicht, eine Stecknadel von der Erde aufzuheben. wenn keine Hände da sind, die es dazu kaufen kann. Wenn der Arme behaart geboren wäre, so wäre er damit als niedriges Wesen gestenlpelt, das nichts selbst kann. Ist eS
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29 (19.10.1912) 204
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