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aber er fag faum in seinem Rehnstuhl, als von draußen Frau Jeben jebt geriet er an einen Stoff, der unerschöpflicher als jeder Linas Stimme dringend Einlaß begehrte. Unwirsch stand er auf und öffnete. Was willst Du?" fragte er, als die Tochter zu ihm eingetreten war.

Schelte mich nicht, Vater," sagte sie bittend, aber Heinz ist fort, auch sein Gepäc; o, er kommt niemals wieder!"

Er wandte den Kopf zur Seite:" Ich weiß das, Lina; darum hättest Du Dir die Augen nicht zu weinen brauchen."

Du weißt es, Water?" wiederholte sie und sah ihn wie ver­steinert an. Hans Kirch fuhr zornig auf:" Was stehst Du noch? Die Komödie ist vorbei; wir haben gestern miteinander abgerechnet."

Aber Frau Lina schüttelte nur ernst den Kopf. Das fand ich oben auf seiner Kammer," sagte sie und reichte ihm das Kuvert mit den furzen Abschiedsworten und dem nur kaum verkürzten Inhalt. O, Vater, er war es doch! Er ist es doch gewesen!"

Hans Kirch nahm es; er las auch, was dort geschrieben stand; er wollte ruhig bleiben, aber seine Hände zitterten, daß aus der offenen Hülle die Scheine auf den Fußboden hinabfielen.

Als er sie eben mit Linas Hilfe wieder zusammengerafft hatte, wurde an die Tür gepocht und, ohne die Aufforderung dazu abzu­warten, war eine blasse Frau hereingetreten, deren erregte Augen ängstlich von dem Vater zu der Tochter flohen.

Wieb!" rief Frau Lina und trat einen Schritt zurück. Wieb rang nach Atem. Verzeihung!" murmelte sie. Ja fußte; Ihr Heinz ist fort; Sie wissen es vielleicht nicht, aber der Fuhrmann sagte es, er wird nicht wiederkommen, niemals!"

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Was geht das Dich an?" fiel ihr Hans Kirch ins Wort. Ein Laut des Schmerzes stieg aus ihrer Brust, daß Linas Augen unwillkürlich voll Mitleid auf diesem einst so holden Antlik ruhten. Aber Wieb hatte dadurch wieder Mut gewonnen. Hören Sie mich!" rief fie. Aus Barmherzigkeit mit Ihrem eigenen Kinde! Sie meinen, er sei es nicht gewesen, aber ich weiß es, daß es niemand anders war! Das," und sie zog die Schnur mit dem kleinen Ringe aus ihrer Tasche; es ist ja einerlei nun, ob ich es sagedas gab ich ihm, da wir noch halbe Kinder waren, denn ich wollte, daß er mich nicht vergesse! Er hat es auch wieder heimgebracht und hat es gestern vor meinen Augen in den Staub geworfen."

Ein Lachen, das wie Hohn flang, unterbrach sie. Hans Kirch fah sie mit starren Augen an:" Nun, Wieb, wenn es denn Dein Herz gewesen ist, es ist nicht viel geworden aus Euch beiden."

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Aber sie achtete nicht darauf, sie hatte sich vor ihm hingeworfen. " Hans Kirch!" rief sie und faßte beide Hände des alten Mannes und schüttelte sie. Ihr Heinz, hören Sie es nicht? Er geht ins Elend, er kommt niemals wieder! Vielleicht o Gott, sei barm­herzig mit uns allen! Es ist noch Zeit vielleicht!" Auch Lina hatte sich jetzt neben ihr geworfen; sie scheute es nicht mehr, sich mit dem armen Weibe zu vereinigen. Vater," jagte sie und streichelte die eingesunkenen Wangen des harten Mannes, der jetzt dies alles über sich ergehen ließ, Du sollst dies= mal nicht allein reisen, ich reise mit Dir; er muß ja jetzt in Ham­ burg sein; o, ich will nicht ruhen, bis ich ihn gefunden habe, bis wir ihn wieder hier in unseren Armen halten! Dann wollen wir es besser machen, wir wollen Geduld mit ihm haben; o, wir hatten fie nicht, mein Vater! Und sag nur nicht, daß Du nicht mit uns Teidest; Dein bleiches Angesicht kann doch nicht lügen! Sprich nur ein Wort, Water, befiel mir, daß ich den Wagen herbestelle; icy will gleich selber laufen; wir haben ja teine Beit mehr zu verlieren!" Und sie warf den Kopf an ihres Vaters Brust und brach in lautes Schluchzen aus.

Wieb war aufgestanden und hatte sich bescheiden an die Tür geftellt; ihre Augen sahen angstboll auf die beiden hin.

Aber Hans Kirch saß wie ein totes Bild, sein jahrelang ange­sammelter Groll ließ ihn nicht los; denn erst jest, nach diesem Wiedersehen mit dem Heimgekehrten, war in der grauen Zukunft feine Hoffnung mehr für ihn." Geht!" sagte er endlich, und seine Stimme flang so hart wie früher, mag er geheißen haben, wie er svill, der diesmal unter meinem Dach geschlafen hat, me in Heinz hat schon vor siebzehn Jahren mich verlassen."

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Für fremde Augen mochte es immerhin den Anschein haben, als ob Hans Kirch auch jezt noch in gewohnter Weise seinen mancherlei Geschäften nachgehe; in Wirklichkeit aber hatte er das Steuer mehr und mehr in die Hand des jüngeren Teilhabers der Firma übergehen lassen; auch aus dem städtischen Kollegium war er, zur stillen Befriedigung einiger ruheliebender Mitglieder, seit furzer Zeit geschieden; es drängte ihn nicht mehr, in den Gang der fleinen Welt, die sich um ihn her bewegte, einzugreifen.

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Seit wieder die ersten scharfen Frühlingslüfte wehten, fonnte man ihn oft auf der Bank vor seinem Hauje sißen sehen; troh seiner jetzt fast weißen Haare als alter Schiffer ohne jede Kopf­bedeckung. Eines Tages tam ein noch weißerer Mann die Straße hier herab und setzte sich, nachdem er näher getreten war, ohne weiteres an seine Seite. Es war ein früherer Dekonom des Armenhauses, mit dem er als Stadtverordneter einst manches zu verhandeln gehabt hatte; der Mann war später in gleicher Stellung an einen anderen Ort gekommen, jetzt aber zurückgekehrt, um hier in seiner Vaterstadt seinen Alterspfennig zu verzehren. Es schien ihn nicht zu stören, daß das Antlitz seines früheren Vorgesetzten ihn keineswegs willkommen hieß; er wollte ja nur plaudern, und er tat es um so reichlicher, je weniger er unterbrochen wurde; und

andere schien. Hans Kirch hatte Unglück mit den Leuten, die noch weißer als er selber waren; wo sie von Heinz sprechen sollten, da sprachen sie von sich selber, uid two sie von allem anderen sprechen konnten, da sprachen sie von Heinz. Er wurde unruhig und suchte mit schroffen Worten abzuwehren; aber der geschwäßige Greis schien nichts davon zu merken. Ja, ja; ei du mein lieber Herra gott !" fuhr er fort, behaglich in seinem Redestrome weiter schwim mend, der Haffelfriße und der Heinz, wenn ich an die beiden Jungen denke, wie sie sich einmal die großen Anfer in die Arme brannten! Ihr Heinz, ich hörte wohl, der mußte vor dem Doktor liegen; den Hasselfriße aber habe ich selber mit dem Hasselstock kuriert."

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Er lachte gang bergnüglich über sein munteres Wortspiel; Hans Kirch aber war plöblich aufgestanden und sah mit offenem Munde gar grimmig auf ihn herab. Wenn er wieder schwaben will, Frizz Peters," sagte er, so suche er sich eine andere Bank; da drüben bei dem jungen Doktor steht just eine hagelneue!" Er war ins Haus gegangen und wanderte in seinem Zimmer hin und wieder; immer tiefer sant sein Kopf auf die Brust hinab; dann aber erhob er ihn allmählich wieder. Was hatte er denn eigentlich vorhin erfahren? Daß der Hasselfrize ebenfalls das Ankerzeichen hätte haben müssen? Was war es denn weiter?- Welchen Gast er von einem Sonntag bis zum anderen, oder ein paar Tage noch darüber bei sich beherbergt hatte, darüber brauchte ihn fein anderer aufzuklären.

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Und auch dieser Tag ging vorüber, und die dann famen, nahmen ihren gleichmäßigen Verlauf. Im Oberhause wurde ein Kind geboren; der Großvater fragte, ob es ein Junge sei; es war ein Mädchen, und er sprach dann nicht mehr darüber. Aber was hätte es ihm auch geholfen, wenn es ein fünftiger Christian oder gün­ftigenfalles ein Hans Martens gewesen wäre! Nur die Unruhe, die jetzt oft nächtens über seinem Kopfe in dem Schlafzimmer des jungen Paares herrschte, störte ihn.

Eines Abends, da es schon Herbst geworden, es jährte sich ge rade mit der Abreise seines Sohnes, war Hans Kirch wie gewöhn lich mit dem Schlage Zehn in seine nach dem Hofe hinaus belegene Schlaffammer getreten. Es war die Zeit der Aequinoktialstürme, heulte es in den obersten Luftschichten, bald fuhr es herab und und hier hinaus hörte man die ganze Gewalt des Wetters; bald tobte gegen die kleinen Fensterscheiben. Hans Kirch hatte seine zuziehen; aber er stand noch immer mit dem Schlüssel in der Hand, silberne Taschenuhr hervorgezogen, um sie, wie jeden Abend, auf­hinaushorchend in die wilde Nacht.

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( Schluß folgt.)

Kleines feuilleton.

Aeltere und neuere Erzähler. Bunt ist der Strauß und eigen sind die Blüten, aus denen er gca wunden. Jedem bringt er, was sein Herz begehrt. Da ist gleich Gottfried Keller , der Klassiker unter den deutschschweizerischen Erzählern. Erst müssen noch acht Jahre vergehen, bis kurz nach seinem 100. Geburtstage feine Werte frei und jedermann für ein Weniges zugänglich sein werden. Gleichwohl hat deren rechtmäßigen Eigentümer, der Cottasche Verlag( Stuttgart ) schon vor mehreren Jahren eine der köstlichsten Gaben Kellerscher Erzählerkunst: Das Fähnlein der sieben Aufrechten" dem Verlag der Wiesbadener Volks­bücherei überlassen, von wo sie in vieltausend Exemplaren Ver breitung gefunden hat. Und abermals öffnete nun die Cotta- Buchs handlung die Truhe, um drei Erzählungen des Altmeisters, zu einend schmucken Bändchen vereinigt, darzubieten. Schon die Bezeichnung Schulausgabe"( geb. 1,50 M.) kündigt ihren Zweck an. Alle drei haben ihren Anstoß aus Kellers äußerem und innerem Leben empa fangen. Setzt er, politische Erlebnisse und Anschauungen verwertend, in Frau Regel Amrain und ihr Jüngster" seiner Mutter ein schönes Denkmal der Erinnerung, so führt er in Kleider machen Leute" ein Schneiderlein vor, das in Wäbersweil am Zürichsee gegen Mitte des vorigen Jahrhunderts als Graf auftrat und einen bis dann plöglich die Herkunft des Winter lang die Leute narrte Meisters Zwirn an Tag fam; während Dietegen" oder die Mär von der Kindsmörderin, die ein junger Mann, indem er sie heiratet, vom Tode errettet, historischen Ursprungs ist und ein farbenreiches Kulturgemälde aus dem Mittelalter bietet. Ein Lebensbild Kellers als Einleitung nebst Wort- und Sacherklärungen am Schluffe bilden Im Verlag ber eine willkommene Belehrung für jung und alt. Deutschen Dichter- Gedächtnis- Stiftung"( Hamburg - Großborstel) fin zwei Bücher von Ernst Zahn und Adolf Schmitt hennev ( jedes gebundene Exemplar 1 M.) erschienen. Zahn, einer der besten neuschweizerischen Dichter gibt in Schatten" eine zwar fieftragische, dennoch kraftvolle Geschichte eines heldischen Bauernweibes Jugendverfehlung, Rache und Sühne; und von Schmitthenner, dem leider allzu früh verstorbenen Badener haben wir drei Treuherzige Geschichten" auf einmal. Der Titel sagt schon, welcher Art sie sind. Die eine verseht uns in die Zeit des Landsknechtstums, die zweite tönnte man wegen der von der sterbenden Mutter an die Söhne vermachten goldenen Hemd­knöpfe des Vaters wohl auch das Vermächtnis nennen; die dritte

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