Unterhaltungsblatt des VorwärtsNr. 14.Dienstag öen 21. Januar.1913Sesckickte einer Kombe.Bon AndreasStrug..,Aber das sind Anarchisten."..Gott,»vas bist Du gelehrt! Jetzt sag nur noch, wienennt man solche Leute?"„Nun eben— Anarchisten?"„Und heißt das etwa Werwölfe? Mit Hörnern auf demKopf, auf drei Beinen, mit Schwänzen? Ist das nicht auchein Arbeiter, nicht auch ein solcher wie wir, der für dasKapital arbeitet? Ach, Ihr Leute, was seid Ihr dumm, artigund gebildet I... Da kommt so ein abgedroschener In-telligenter in die Versammlung, dreht seinen Leierkasten auf,und dann geht's los: Tralala, tralala!... Und tausendArbeiter, welche wissen, was sie wollen, tanzen wie die Affenund stimmen wie die Hammel! Die Versammlung der-urteilt den ökonomischen Terrcrismus, heißt es. Wie oft wardas schon? Immer die gleiche Arbeiterdummheit!"Darauf entbrannte«eine hitzige Diskussion— eine vonjenen, von welchen die Parteien nichts wissen. In ihr kommendie verborgensten Träume und Sorgen des Arbeiters zumVorschein, für welche die Programme keine Formel habenund die die Wissenschaft verurteilt und geringschätzt. Dortbilden sich aus der Grausamkeit des Lebens unheimliche Wahr-heiten. Dort entstehen unerhörte Ketzereien, welche keine Ab-stimmung und keine Anstrengung eines noch so genialenAgitators aus der Welt schaffen kann.Im Tiefsten der Arbeiterseele verborgen sitzen dieseDinge beharrlich, vermehren sich, vererben sich von Vater aufSohn, wie das ewige Elend. Diese Sympathien und Ge-Lässigkeiten leben in seinem Familienkreise, sitzen an seinemmageren Tisch: sie sind es, welche ihm bei seiner verfluchtenArbeit helfen. Und sie allein bleiben ihm, wenn das Schicksalihn auf die Straße wirft, wenn er die Arbeit, das Heim,die Gesundheit und jede Hoffnung verloren hat. Die FragenGut und Böse, Nutzen und Vorteil, Arbeit und Kapital, erund die Partei, er und die Regierung— das olles erfaßtder Arbeiter vernünftig und hat eine klare Antwort darauf.Aber außerdem liebt und haßt er auf seine Weise, ganz per-sönlich, und wird nicht leicht antworten, wenn ihn jemanddanach fragen sollte.So redeten die Arbeiter bis tief in die Nacht hinein,zankten sich um die Köpfe ihrer Herren und Gebieter, welcheum diese Zeit ruhig in ihren Palästen schliefen, in eben dieserStadt Lodz.„Gehören die Genossen zur Kampfgruppe?" fragte Fritzeinen von ihnen.„Wir gehören zur Geierschen Selbstwehr. Man hat unsmitten in der Nacht aus dem Schlaf gerissen."„Wie entstand denn dieser dumme Klatsch?"„Ach, der Teufel weiß!"„Am Ende hat sich jemand einen Spaß gemacht. Esgibt solche parteilose Lumpen. Wir zerreißen uns, und fürsie ist's ein Scherzi"„Das wird sich morgen zeigen."„Wir haben den Auftrag, die Bombe um jeden Preismitzubringen."„Und wir werden sie bringen. So sicher..„Davon reden wir noch. Ihr tut besser. Euch nicht zusperren. Denn Ihr seht ja, daß wir uns Rat schaffen können."„Aber wir kennen Euch doch nicht, Ihr Leute!"„Aber wir kennen uns!"Die Brüder wehrten sich nur noch aus Anstand. Dennjetzt wußten sie, daß es Leute von der Partei waren. Außer-dem waren sie beide froh, das fatale Deposit loszuwerden.Endlich führte Moritz feierlich zwei Genossen hinauf,empfahl ihnen die größte Vorsicht und erlaubte ihnen, dieBombe mitzunehmen. Aber damit war die Angelegenheitnoch nicht erledigt. Moritz berief sich auf sein loyales Ent-gegenkommen und verlangte eine„Genugtuung", indem ersprach:„Ehre gegen Ehre. Dir haben den Gegenstand ehrlichbewahrt. Wir ertrugen Kränkungen, Prügel. Angst und diesoldatische Plünderung. Allein an Würsten.haben sie bei derHaussuchung für drei Rubel gefressen. Vom Schnaps nichtzu reden. Für Eure Beschimpfungen haben wir uns auch zubedanken. Aber jetzt paßt auf I Zu Euch, zu den Geierleutcn,sind im vorigen Jahre zwei Wsber von der DreyerschenFabrik eingetreten, welche zur polnischen sozialistischen Parteigehören und uns alles in allem acht Rubel achtzig Kopekenschuldig sind. Es sind zwei Schraubendreher, Matthias Kalkaund Albin Müller. In meinem Buch steht's ordnungsgemäßeingetragen. Andere, tvenn sie einen solchen Gegenstand inder Hand hätten und geschädigt wären wie wir, hätten ihnals Pfand behalten und gesagt: erst bezahlen! Aber wir sindehrenhaft. Ihr habt das Eure zurück, aber das Geschäft ist!geschädigt. Darum müßt Ihr, als klassenbewußte Genossen.bürgen u«d Eure Kollegen zum Zahlen zwingen. Wollt Ihrdas versprechen? Das wäre sehr artig! Und wenn Ihr mirvon heute in zwei Wochen mein Geld wiederbringt, so werdeich, obwohl ein KVX., der erste sein, der sagt: die UUK. ist!eine anständige Partei! Mein Bruder Fritz, der zu Euch ge-hört, kann ja seinen Teil schenken, das darf er. Aber meineHälfte fordere ich auf jeden Fall. Ich habe eine zu gute Mei-nung von Eurer Partei, als daß ich glauben könnte, sie würdesich in einer solchen Ehrensache nicht anständig betragen."Die Arbeiter verbürgten sich, und Moritz, der seineLodzer Welt kannte, war sicher, daß er zum Termin seineHälfte wenigstens bekommen würde.Es war bereits gegen fünf Uhr morgens, als die un-gebetenen Gäste, nachdem sie bezahlt, was sie verzehrt undfreundlich sich verabschiedet hatten, das Lokal verließen unddas wiedergewonnene Parteieigentum mitnahmen. Fritz warhingerissen.„Moritz," sagte er.„wenn Du doch in die Partei ein-treten wolltest! Wie bald würdest Du eine führende Rolleim Zentralkomitee haben!"„Ach was. Partei!— Das ist ein unsicheres Geschäft!Aber siehst Du, Fritz, geliebter Bruder, hätte ich nicht dieseOhren, diese Fratze und dies krumme Bein, so würden dieBrüder Jerke sehr viel bedeuten in dieser Stadt Lodz. Sowie man jetzt Scheibler sagt, so würde man sagen BrüderJerke! Ich würde arbeiten und Du würdest dabei auch nichtschlecht fahren."„So wäre es, wie Du sagst. Moritz!" seufzte melancholischder Jüngere mit einem Blick voll Mitgefühl auf die ver-krüppelte Gestalt des Bruders. Sich selbst hielt er nämlichfür einen schönen Mann.An einem der unzähligen dunklen Fenster einer Arbeiker-kaserne der Vorstadt saß die alte Cywik und sah gedankenlos,vor sich hin. Dicht vor ihr schlug ein Meer von Licht aus dervierstöckigen Front der Spiimerei, und die Maschinen saustendumpf. Es war Nachtschicht und bereits Mitternculst. DieAlte saß unbeweglich, seit sie sich vor etwa fünf Stunden hin-gesetzt hatte. Im Zimmer war es fast taghell vom Licht-schein. Das weiße, durck?dringende elektrische Licht, das durchsFenster hereindrang, übergoß die gebeugte Gestalt, unter-strich mit scharfen Schatten jede Runzel, jede Linie in ihremGesicht. Dieses Gesicht schien weder zu leben noch zu denken.Die Augen waren starr auf das Fenster der Spinnerei ge-richtet und schienen auf eine von den vielen schwarzen Sil-houetten, die im oberen Geschoß sich hin und her bewegten,zu lauern.Aber in Wirklichkeit blickte die Alte auf nichts und sabnichts, weder die Menschen noch die Gebäude, die ihr die Weltvorstellten, noch den grellen Glanz der elektrischen Lampen.Seit langem schon war in ihr Gesicht und Gehör und allesFühlen erstorben.Auf dem erschöpften Gehirn lag cS wie dumpfer Schlaf.Schwer, ungeschickt, knarrend krochen Bruchstücke ungewöstn-lichcr, unwahrscheinlicher Dinge durch den Kopf, die selbst imTraum kaum vorkommen. Als zöge jemand grobe Strickedurch ihren Kopf, als triebe man mit schweren Hammer-schlagen einen Keil in etwas sehr Hartes ein, das in ihremKopfe saß. Dabei empfand sie gar keinen Schmerz. Es fam-