einen das Beben von Kindheit an in der Arbeit hat und keinen I Augenblick aufatmen läßt, dann schrumpft im Menschen jede Hoffnung und jede Vorstellung, daß es jemals anders werden � könnte, zusammen, vertrocknet und fällt ab. Wenn jemand durch lange Jahre überall nichts gesehen hat als Elend und Unrecht, dem wird es schwer, sich im Alter an ein Glück zu gewöhnen, das plötzlich geflogen kommt und alles auf einmal verändert. Doch bis dieses Glück erschien... Sie hatte noch nicht die Schulden bezahlt, die sie zu ihrer Hochzeit aufnehmen mutzten, als Cywik sich hinlegte und ein halbes Jahr lang nicht aufstand. Sie ging zur Arbeit so lang sie konnte, das erste Kind wurde bei Fremden geboren, wo sie in einem finsteren Winkel wohnten. Da hatte sich das Elend schon festgeklammert. Wie ein toller Hund nahm es einen zwischen die Zähne, hielt fest, ritz in seiner Tollwut Stücke heraus. Cywik erhob sich von seiner Krankheit, arbeitete einige Monate, dann legte er sich wieder hin. Es war ihm schlechter, es war ihm besser, er starb und kam wieder zum Leben. Das zweit» Kind. Das dritte. Das vierte. Endlich starb er wirklich. Sie blieb als Witwe mit ihren vier Kindern zurück, in dieser gesegneten Stadt Lodz. � Wie sie lebte, wie sie sich Rat schaffte, wer kann es wissen. Dies ist eines der großen Geheimnisse des Lebens, vor dem man ratlos stehen bleibt. Es ergreift einen Bewunde- rung und Grauen. Und dabei bleibt es. Man kann es be- klagen, man kann wüten, die Hände ringen, die Fäuste ballen. Man kann auch die Lebenskraft der proletarischen Rasse be- wundern, aber man kann nicht ergründen, woher diese Kraft stammt. Man kann auch die Masse verachten, die solches erträgt, ohne die Reichen zu morden, ohne diese ganze Kultur in Rauch aufgehen zu lassen. Das alles kann man. Aber zu begreifen ist es nicht. Auf diesem Geheimnis ruht die Welt. Ties ist es, das wie ein Grundstein eingemauert ist in den Unterbau der Fabrikgebäude, Paläste, Banken, Kirchen. Darauf erhebt sich die Macht der Königreiche, das Glück der Familien, die Tugenden der Kultur, aller Fortschritt und alle Schönheit. Es ist hart wie ein Fels. Keine Methode kann es annagen. Der Soziologe geht ratlos im Kreise davor herum. Der Dichter steht verwundert da und winselt. Die Utopisten haben es mit� ihren Träumen umgarnt. Die Religionen mit der harten Schale des Dogmas bedeckt, Un- gezählte Schichten bedruckten Papiers hat man darauf ge- klebt— aber irgendwo auf dem Grunde der Seelen oder in der Tiefe der Erde ist sein, wie die Wahrheit nackter, schreck- tlich unbegreiflicher Kern. Vielleicht ist im kommenden Morgen oder im nächsten Jahrhundert der Moment verborgen, da es jenseits des Horizonts aller menschlichen Dinge auftauchen wird. Es wird sich erheben und über der Erde leuchten, beller als die Sonne. Und das wird bedeuten:— ein neuer Schöpfungstag I lZortsetzung folgt.), Die Wiege. Skizze von Marylie Markovit ch. Heute morgen machte Djenany Hanum ihren Mann Hakim Vcy ein zärtliches Geständnis: noch einige Monate, und wenn die Hoffnung sie nicht täuschte, würde Allah ihr Bündnis segnen, indem er ihnen ein Kind schenkte. Hakim dankte Gott :„Mach Allah"<Gc- priesen sei Gott ), kützte seine Frau und verließ das Haus. Wie jeden Morgen, begab sich Hakim durch die Straßen Stambuls nach den östlichen Mauern des Harems, die die Umrisse des alten Byzanz angeben. Dort erhebt sich die Hohe Pforte , durch die man in das Palais des GroßwefirS eindringt,. wo Hakim als Beamter angestellt war. Nachsinnend ging Hakim durch die engen Straßen des strengen, stillen Viertels. Er war seit kauni einen, halben Jahr verheiratet,— ein Beweis der Frucht- barkeit seiner Frau bedeutete für ihn eine große Freude. Wenn er einen Sohn bekäme! Er wurde ihn in Gottesfurcht und Ehrfurcht vor den Traditionen seines Geschlechts erziehen, denn Hakim gehörte zu denen, die alles Neue nur langsam und mit Miß- trauen annahmen. An der Biegung einer Straße befand Hakim sich auf einem Neinen Platz, der fast gänzlich von einem riefigen Platanenbaum beschattet war. Auf der einen Seite, in der Röhe des Spring- brunnenS, befand sich der Laden des Tischlers Mohammed ben Omer. Hakim kannte ihn gut. Jeden Morgen sah er ihn mit Muße in feinem Laden arbeiten, die Füße von goldenen Spangen umfaßt. ' Als er wenige Stunden später borüberkam, rauchte der Tischler nach beendeter Arbeit sein„Nargilv" vor der Tür, wo er mit ge- ; kreuzten Beinen auf einem Stück Teppich saß. Der Anblick ■ dieses Ladens erinnerte den Bey an gewisie Fichtenholz- stücke, die ein jüdischer Kaufmann einst seinem Vater ge- ! schenkt hatte und die er schon immer gern verwenden wollte. Gerührt durch den Gedanken an den zukünftigen Sohn, ließ er die verschiedensten Gedanken durch seinen Kopf ziehen» und er murmelte:„Ob ich bei Mohammed ben Omer von diesem Holze eine Wiege für das Kind bestelle?" Da man aber nichts mit gesähr» licher Uebereilnng tun soll, dachte Hakim mehrere Tage darüber nach. Nachdem Dienany ihre ersten Geständnisse bestätigt hatte, sprach Hakim mit dem Tischler. „Gern, lieber Bey." sagte Mohammed ;„ich laffe das Holz ab- holen und wir machen eine Wiege nach fränkischer Art, wie fie jetzt in Stambul Mode sind." Diese„Wiege nach fränkischer Art" beunruhigte Hakim ein wenig. Er drängte den Tischler nicht, so daß das Kind zur Welt kam. bevor Mohammed sich entschlossen hatte, das Holz zur Herstellung der Wiege abholen zu lassen. Das Kind war ein Mädchen und so tröstete sich Hakim über die Verspätung. Im folgenden Jahre bekundete Djenany Hanum neue Hoff- nungen.„Diesmal wird es ein Sohn sein," dachte Hakim. Und er ging wieder zum Tischler. „Ich lasse das Holz abholen," versicherte Mohammed wieder. Aber der Tischler rauchte so Jriele„Nargilös", daß Hakims Sohn am Tage darauf geboren wurde, nachdem das Holz für die Wiege ab- geholt war. „Das tut nichts," sagte sich Hakim,„mein Sohn braucht nicht in einer„fränkischen Wiege" zu schlafen.... Es hat immer Zeit, neue Sitten im eigenen Hanse einzuführen. Mach! Allah I" Zum dritten Male sollte Djenany Hanum Mutter werden. „Endlich, dachte Hakim, werden wir die Wiege haben, wenn Gott will." Er sprach mit Mohammed darüber. „Die Bretter sind gehobelr", erwiderte der Tischler.„Morgen nehme ich Maß. um fie zuzuschneiden." Mehrere Monate vergingen.„Die Geburt des Kindes steht bevor." sagte Hakim eines Morgens;„wird die Wiege auch fertig sein?" „Ganz bestimmt, lieber Bey; es wird fleißig daran gearbeitet." Hakim kehrte beruhigt nach dieser Versicherung nach Hause. Ein zweiter Knabe wurde geboren. Wie sein Bruder und seine Schwester wurde er in eine türkische Wiege gelegt, da die fränkische noch nicht fertig war. „Es ist meine Schuld", dachte Hakim, als er die Sicherheit hatte, zum vierten Male Vater zu werden.„Die Arbeiter schaffen mit größerer Lust, wenn sie Geld sehen.DJch bezahlefMohammed für die Wiege." Wenige Tage später sprach Hakim, als er sich zur Hohen Pforte begab, bei dem Tischler vor, zählte ihn auf seinen Ladentisch nagel- neue Geldstücke auf, rieb sich die Hände und ging fort. „Ich hätte früher daran denken sollen; aber alles ist gut, wie Allah es fügte." Eine Tochter wurde ihm geboren, später noch ein Sohn. Mo- hammed verbrachte die Zeit so angenehm bei der Arbeit, aber auch bei Muße und Gebet, daß die Wiege überhaupt nicht fertig wurde. „Sollte dieser Mensch faul sein?" fragte sich Hakim, indem er an dem Laden, nahe dem Springbrunnen vorüberging. Hakim Bey wurde Hakim Pascha. Er zählte zu den verehrtesien Heiligen von Koustantinopel. Er hat die Reise nach Mekka gemacht. Er trägt den Turban. Stiefel von gelbem Marokwleder und ist der türkischen Tradition treu geblieben. Er glaubt noch fest an die Sirathbrücke, die über die Hölle hinweggeht, schmäler ist als ein Haar und schärfer als ein krummer Säbel, und die er nach dem Tode überschreiten muß. Da er aber immer die Pflichten eines Gläubigen erfüllt hat, hofft er auf die Fürsprache des Engels� Jsrafil und erwartet furchtlos die schreckliche Berfuchung. Sein ältester Sohn, Selim Bey, lacht heimlich über den Pro- pheren und offen über die Sirathbrücke; er trägt offene Jacketts, helle Beinkleider und Krawatten, die er in den Läden von Pera ein» kaukt. Er hat den Turban mit dem Fes vertauscht und die Fuß- läppen mit Lacksticfeln. Er spricht Französisch, verbringt den Tag in Klubs, und den Abend im Theater. Er gehört zu den einfluß- reichsten Mitgliedern des Junglürkischen Komitees. Hakim Pascha ist untröstlich darüber. In der Hoffnung, daß die Vaterschaft Selim weiser machen werde, hat er ihn mit einem jungen Mädchen aus Konstantinopel , Leila Hanum, verheiratet. Leila ist siebzehn Jahre alt. Sie wurde von einer französischen Lehrerin erzogen, ließ ihre Kleider aus Paris kommen und spottete über Djenany Hanum , ihre Schwiegermutter, eine prächtige Matrone in schweren seidenen Kleidern, die Hakim Pascha erlaubte, eine zweite Gattin zu nehmen. Selim und Leila haben ihre Wohnung nach dem modernsten Geschmack ausgestattet, fie haben ein Klavier, mehrere SofaS und viele Uhren. � Eines Morgens teilte Leila Hanum, ihr Mäulchen verziehend, ihrem Gatten mit, daß sie... wohl Mutter werden würde. „Halt!" ruft Selim,„jetzt oder nie ist es endlich Zeit, die Wiege zu brauchen!" „Welche Wiege?" fragt Leila. Da erzählt Selim seiner Frau mit allen drolligen Einzelheiten
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30 (22.1.1913) 15
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