Anterhaltungsblatt des Horivärts Sir. IS. DonnerStag� den 23. Januar. 1913 16] Gefliehte einer Bomb«. Von Andreas©trug. Die Massen der Nationen werden einander in die Arme sinken. Eine ungeahnte Brüderlichkeit wird die Gestalt der Welt verändern, und der Wolf wird weiden bei dem Schaf. Oder aber die Welt wird dastehen im Feuer der Vernichtung. Rot von Blut werden die Ströme fliesten. Und die uner- westlichen und unergründlichen Meere werden sich purpurn färben. Was einem lieber ist. Diese gehcstnnisvolle Kraft befahl auch dieser Greisin Zu leben, zu arbeiten und ihre Kinder zu versorgen. Sie achtete darauf, daß die Alte nicht einen Augenblick zur Ruhe kam am Tage und die Nächte nicht schlief, sie sorgte dafür, daß ihr Kopf nie zur Ruhe kam, und daß selbst ihre Träume voller Unglück waren. Sie verlieh ihr die geniale Fähigkeit, aus dem Mist noch, aus Resten und Fetzen, auf die nur jene, die Hungers sterben, gierig sind, einen Verdienst für sich auszu- graben. Sie war es, die ihr einredete, daß der Hunger etwas Natürliches sei, Lumpen Kleidung, daß man im Winter er- starren müsse vor Kälte und im Sommer in den Stuben hoch unter den Blechdächern ersticken. Daß ein jeder das Recht habe, sie auszunutzen, zu beleidigen... Sie endlich war es. die besser als der Pfarrer und der Polizei dafür sorgte, daß die alte Frau unter solchen Umständen ihre Ehrlichkeit be- wahrte die Hand nicht nach fremdem Gut ausstreckte, nicht zu deutlich ihren Neid merken ließ und sich nicht allzu laut beklagte. So vollzog sich das Wunder, daß sie bis jetzt lebte. Die Kinder waren stets hungrig, stets krank, grün im Gesicht, von Blattern bedeckt, auf krummen Beinen und mit der naiven Frage in den geröteten Augen: Wozu ist wohl das alles? Die Kinder lebten so lange sie konnten. Sie starben der Reihe nach, nach einen: Jahr, nach zweien. Die Mutter be- weinte sie und borgte sich das Geld zu ihrem Begräbnis. Nur Stasiek war zurückgeblieben, kränklich und schwach wie die andern. Bis in sein fünfzehntes Jahr war er klein und sprach wenig. Der Mutier gelang es durch Protektion, ihn in der Fabrik als Lehrling unterzubringen. Er war fleißig und verdiente drei Jahre nichts, essen aber mußte er. weil er arbeitete. Die Alte hatte kein Leben mehr in sich, blies schon auf dem letzten Loch und nährte sich nur noch ans jener über- natürlichen Kraftquelle, die schon rein aus deni Nichts zu quellen scheint, und die eine Widerlegung der Physiologie, der Theorie von der Energie, und noch vieler anderer feststehender Wahrheiten bildet. Sie hätte nämlich schon längst vor Er- schöpfung sterben und vorher noch vor erschöpfter Geduld ver- rückt werden müssen. Der Hygieniker hat das Recht, mit aller Strenge zu fragen: Wie wagst du e? gegen alle Wissen- schaft zu leben? Der Psychiater würde ihren normalen Ver­stand als eine Form des Wahnsinns bezeichnen, und der Spezialist, der die Zu- und Abflüsse der Energie mißt, würde, nachdem er aus der einen Seite die ungeheure Arbeitsleistung eines solchen Menschen berechnet und auf der anderen Seite die Anzahl der Kartoffeln, des Schwarzbrotes, der Tränen, Erniedrigungen und Qualen, mit denen sie genährt»ourde, zusammengezählt, erklären, daß die alte Cywik ein wissen- schaftliches Absurdum sei, und daß sie überhaupt nicht existiere. Es werden also noch für lange hinaus die Elemente, aus denen gewisse Erscheinungen oder sagen wir: das soziale Elend sich zusammensetzt, unaufgeklärt bleiben müssen, die... Doch das gehört nicht zur Sache. Denn wir wollen ja bier nicht in die verborgene Mystik des sozialen Lebens ein- dringen. * Es war eine Biichse aus Gußeisen in einem Futteral von gelbem Leder. Die alte Cywik, durch ihren Sohn eingeweiht, verwahrte sie bei einer alten Freundin, die dank mächtiger Beschützer seit zehn Jahren im Asyl für Krüppel, der Stiftung eist er Lodzer Firma, als Pensionärin lebte. Dort war sie sicher. Wer hätte auch auf die Greise und alten Frauen des Asyls Verdacht gelenkt, oder auf die barmherzigen Schwestern, die es verwalteten? Die Greisin hielt die Bombe am Kopfende des Bettes, unter dem Strohsack versteckt. Es ist nicht leicht zu verstehen, weshalb sie sich darauf einließ, einen so gefähr« lichen Gegenstand bei sich zu verwahren. Genug, sie nahm ihn und war stolz darauf. So stolz, daß sie vor ihren Nach- barn rechts und links damit prahlen mußte. Die Neuigkeit, die sich die Weiber in den Nächten zuflüsterten, ging von einer zur andern, gelangte auch in die männliche Abteilung, oder vielmehr zu den Greisen. Das ganze Gesinde wußte davon, die.Köchinnen, alle. Dennoch blieb das Geheimnis unver- letzt Ulli) kam über den Umkreis des Asyls nicht hinaus. Es gab dort zwar keine überzeugten Revolutionäre, sondern nur zahnlose, kretinhafte alte Männer und Frauen, die vor Alter fast zerfielen. Aber in jenen Zeilen lagen die kkcime der Revolution in der Luft und fielen, wohin der Wind sie trug, die untadeligsten Leute ansteckend. Diese Epidemie dauerte übrigens nicht lange. Die alte Cywik war durchaus keine Sozialistin. Allzu- sehr hatten die Nöte des Lebens ihr zugesetzt, als daß sie ge- glaubt hätte, man könne Armut und Unrecht jemals auS der Welt schaffen. Der Sozialismus, den ihr Sohn Stasiek nach und nach aus der Fabrik nach Hanse brachte, bereitete ihr nur Furcht, denn sie wußte, daß man dafür ins Gefängnis kam. Doch hinderte sie ihren Sohn in nichts, ja half ihm sogar, wenn es nötig war. Erst als die Revolution ausbrach und Stasiek nach einem Streik eine bedeutende Gehaltserhöhung erhielt, als das ganze Volk von Lodz das Haupt erhob und seine eigene Kraft zu erkennen anfing, da erst faßte sie Glauben an ihren Sohn. Dennoch sehnte sie sich nach jenen drei Jahren warmen Glücks zurück. Dieses Glück hatte für sie an einem Sonnabend begonnen, als Stasiek sein erstes verdientes Geld nach Hause brachte. Die Alte brach in Weinen aus. Einen Rubel opferte sie für eine Messe, die sie mit Inbrunst anhörte, vor Freude weinend und in ununterbrochen geflüsterten Gebeten Gott ihre unendliche Dankbarkeit aussprechend. Sie flelste um Ver- zeihung für alle ihre Sünden, für ihre Klagen und Be- schwerden. für ihren Stolz, für ihren Wunsch nach vergäng- lichen Gütern, für ihren Neid ans die Satten und fiir alles, was ihr die Beichtväter vorhielten. Die Alte ruhte ans: zum erstenmal tu ihrem Leben. Sie konnte es fast nicht glauben, und diese Ruhe quälte sie, setzte sie in Erstaunen und erfüllte sie zuweilen mit Schrecken. Der Sohn erlaubte ihr nicht, einen Verdienst zu suchen. Sie hatte also nichts zu tun. als das Essen zu bereiten, ein bißchen zu nähen und das Zimmer auszuräumen. Vor allem fehlten ihr die Sorgen. Es bedrückte sie, daß ihr Kopf frei davon war. Sie konnte es nicht fassen, daß alles da war. daß sie un- gezählte Stunden mit den Händen im Schoß dasitzen, und die Nächte durchschlafen durfte. Daß sie in der Kirche sitzen konnte, so lange es ihr gefiel. Besuche bei Freundinnen machen und fremdes Elend ansehen. Ihr Gewissen warf ihr diesen Ueberflnß vor und schreckte sie mit göttlichen Strafen. Ihr Vorgefühl verkündete ihr ein rasches Ende dieses Wohl- seins: es mußte ein Unglück kommen, eine Krankheit... Sie beklagte sich: Ach zu gut! Viel zu gut!" Aber schließlich kann man sich an alles gewohnen. Dte Zeit verfloß und die Alte begann sich schon nach einer Schwiegertochter' umzusehen, aber keine schien ihr für ihren Sohn gut genug. Und er selbst schien keine Eile zu haben-7- er hatte nämlich viel anderes zu tun. Lange konnte die Alte nicht reckt verstehen, womit er sich befaßte, bis eines Tages einige Kameraden Stasiek abzuholen kamen. Und auf einmal war es ihr. als blickte ihr das alte Leben wieder ins Auge. Was treibst Du denn?" fragte sie. DaS, was ich muß, Sie haben nicht den Kops für so was, liebe Mutter. Ich muß es wissen.". Sie werden Dich fangen, foltern, nach Stbmen ver­schicken." r.«« ii V Sie haben kernen Sozialismus gemacht. Mutter, und wurden noch schlimmer gefoltert als in Sibirten, rn dteser ""'alm Gottes willen! Was wollt Ihr Dummen wagenV