AnterHaltlmgMatt des Horwärts Nr. 17. Freitag den 24. Januar 1913 17] Gercbichte einer Bombe» Von Andreas Strug. Indessen besiegte man in der Stadt Lodz die Scheiblers — und das Zarentum, ruinierte das Kapital und das Zaren- tum, hungerte sich selbst aus und das Zarentum, zerstörte die Bordelle und das Zarentum, beraubte man die Kronschenken und das Zarentum. Immer wieder stürzten die Massen der Arbeiter wie böse Buben, die Regierung herausfordernd, auf die Straße, und nach den Salven blieben auf dem Pflaster Leichen— Leichen— Leichen... Aber niemand fürchtete den Tod. Der Proletarier war wild geworden und stürzte sich blindlings in den Kampf. Alle gingen, auch Stasiek ging mit. Und die Mutter wehrte ihm nicht. Auch sie versank in das aufgeregte Meer: die Wellen rissen sie mit fort, wie einen Tropfen, und trugen sie hin, wohin sie alles trugen. Sie fürchtete nichts mehr, sie dachte nicht— es dachte für sie nur jener Sturmwind, der die wachen Träume des plötzlich er- wachten Volkes dahintrug. Stasiek besuchte die Demonstrationen und kam heil zurück. Er machte die Streiks mit. fuhr die Meister auf Karren aus den Fabriken, hetzte seine Kameraden auf, aber man warf ihn deshalb nicht aus der Fabrik hinaus. Er hatte von der Partei einen Revolver bekommen, den die Alte verbarg. Eines Sonntags, als sie auf dem Hofe Leute sich versammeln sah, trat sie hinaus, um zu sehen, was geschah. Alle hörten einem Redner zu, der von einer Erhöhung zu ihnen herabschrie. Als sie in ihm ihren Sohn erkannte, ergriff sie zum ersten- mal im Leben wahrer Mutterstolz. Es war Stasiek, ihr Sohn, der so gelehrt und ergreifend redete, und eine so große Masse Menschen hörte ihn mit Aufmerksamkeit an. Ihr leiblicher Sohn! Den sie. wie durch ein Wunder, in der harten Not eines ganzen Lebens ernährt und erzogen hatte! In jenem Augenblick verstand die Alte vieles, wenn auch nicht alles. Und seitdem hatte Stasiek keine bessere Helferin in seinen Angelegenheiten als die Mutter. Er machte mit ihr, was er wollte. Sie gehorchte ihm, als wäre sie nicht seine Mutter, sondern eine Partei- ..Gehilfin", wie man solche Handlanger damals nannte. Und als sie sich auflehnte, da war es bereits zu spät. Es geschah an einem ganz gewöhnlichen Wochentag... An diesem Tage, nach dem Essen, befahl ihr Stasiek, das Bewußte nach Hause zu bringen. Sie ging, beeilte sich und kam bald wieder. „Warum hast Du den neuen Anzug an, mein Kind?" „Ich soll an einen Ort, wo man anständig aussehen muß." „Und kommst bald zurück?— Gibs lieber mir? Ich trage es für Dich über die Straße. Und im Tor jenes Hauses werde ich's Dir abgeben. Mir Alten wird man nichts tun." „Das geht nicht, Mutter. Es ist verboten. Man darf niemand den Ort zeigen." „So gib acht. Kind, und sieh Dich um. Behüte Dich Gott und die heilige Mutter... Wie leicht kann man auf der Straße hereinfallen, ach, wie leicht! Kommst Du bald zurück?" Stasiek antwortete: Ja, er käme bald Doch die Alte be- merkte etwas in seinem Gesicht, das sie erstarren machte: sie blieb versteinert, und die Tränen flössen ihr in kleinen Bäck)- lein über die Wangen . Sitz sprach kein Wort und sah nur durch den Tränenstrom unausgesetzt auf ihren Sohn. „Stasiek!..." rief sie aus. Er wollte böse werden. Schon runzelte er die Stirn und wollte die Stimme erheben. Er wollte schimpfen, ihr etwas vorlügen und sich dann so rasch als möglich von den Alten losmachen. Aber da es ihm an Mut dazu fehlte, senkte er den Kopf, ergriff die Hand der Mutter und küßte sie. Und während er sie hielt, stotterte er: „Ach, das ist ja nichts! Was fällt Ihnen denn eist, Mutter! Ich komme bald wieder! Ganz gewiß. Hat man so was gehört? Solche Geschichten zu machen, wegen einer Dummheit! Und wenn ich nicht wiederkomme,»vird die Welt auch nicht untergehen. Ist es zum erstenmal, daß sie mich fangen können? Was ist denn gerade heute in Sie gefahren, Mutter?" So und ähnlich redete er daher. Die Alte schmiegte sich mit aller Gewalt an ihn. Mit aller Kraft. Und ließ nicht los. Stasiek versuchte sich loszumachen, aber es gelang ihm nicht. „Wie denn? Wollen wir bis zum Abend so stehen? Nehmen Sie doch Vernunft an, Mutter! Ich muß gehen, ich werde erwartet!" „Der Tod wartet auf Dich! Niemals sehe ich Dich wieder!" „Jeden Tag wartete der Tod auf mich, und ich lebe. Man verdient sich jetzt leicht den Tod in Lodz . Und ich lebel Und auch heute werde ich am Leben bleiben. Was soll die Komödie!" Die Alte kniete vor ihrem Sohn hin, umklammerte ihn und weinte fassungslos. Es schüttelte sie, daß der Junge sich kaum auf den Füßen halten konnte. „Geben Sie doch endlich Ruhe, Mutter— zu allen Teufeln! Wenn ich jetzt falle, gehen wir beide in die Lust. So lassen Sie mich doch wenigstens das Ding da aus der Tasche nehmen. Ich stelle es ans den Tisch, dann können wir ja reden. Aber nicht länger als fünf Minuten! Wenn die vorbei sind, dann reiße ich mich los und gehe. Und wenn ich über Sie treten müßte! Das ist doch schließlich kein Spaß?" Er machte sich frei, nahm die Büchse aus dem Etui, daS er unter seinem Ueberzieher am Riemen hängen hatte, und stellte sie aus den Tisch. „Jetzt lassen Sie uns sprechen, aber rasch! Was wollen Sie von mir, Mutter?" Sie sah den Sohn mit einem Blick an, daß alle Rauheit von ihm abfiel. Um sich zu beherrschen, stellte er sich noch wütender. Er begann auf die Alte zu schreien, was noch nie geschehen war. „Das ist doch zum Teufelholen. Wissen Sie nicht, waS Revolution ist? Warum soll ich denn eigentlich nicht gehen? Soll ein anderer für mich das machen? Ueberlegen Sie doch bloß, Mutter, wie dumm das ist! Was bin ich denn Be- sonderes? Schließlich muß man's ja verstehen!" Die Alte saß zusammengekrümmt auf der Erde und schluchzte, das Gesicht mit den Händen bedeckend. Stasiek redete mit aller Strenge auf sie ein. Plötzlich sprang die Alte auf, und schnell, hastig, in einem beleidigten Ton und wie höhnisch kam es von ihren Lippen: „Mein ganzes Leben habe ich mich geplagt. Eingetaucht war ich in das Elend wie im höllischen Pfuhl, von klcinauf, in Schmutz, in Schande. Du böses, unwürdiges Kind! Mit meinem Blut habe ich Dich genährt! Andere waren klüger. warfen ihre Kinder irgendwohin fort und machten sich ein leichtes Leben. Nur ich war dumm. Ja, ich war dumm. Und Du willst von Deiner alten Mutter so fortgehen? Ohne ein Wort? In den Tod? Das habe, ich erlebt, daß mich mein leibliches Kind in der Todesstunde betrügt! Du würdest so fortgehen wie ein Tier, ohne einen Gruß an die alte Mutter! Geh. geh mit Gott ! Du bist mein Sohn nicht! Mein Sohn war anders. Dich brauche ich nicht." „Ach. Sie verstehen nichts? Sie reden Unsinn! Wenn ich alles vorher erzählen würde, wie sollte da etwas gelingen! Das ist bei uns nicht erlaubt. Was schimpfen Sie mich noch im letzten Augenblick? War ich ein schlechter Sohn? Sie werden es noch bedauern, Mutter..." „Ach ja, bedauern, mein Kind, ich werde es bedauern-. Aber wer wird mich bedauern? Ach, Stasiek! Ach, ihr Wunden Christi! Es wird Dich in Stücke reißen, zu Staub zermalmen, nicht einmal ein Grab wirst Du haben auf dieser Erde?". �. „Man schmeißt ans der Ferne, eS kann sein, daß imr nichts passiert! Vielleicht werde ich auch nur zum Schutz da sein... Ganz weit weg! Tort, wohin unsere Leute flüchten sollen, wenn alles vorbei ist..." „Ach, lüge nicht, mein Kind! Verspotte die alte Mutter nicht!" Ich seh's an Deinen Augen, was Du denkst! Du kommst nicht wieder, nein... Was soll aus mir werden?" „Die Partei wird die Mutter nicht vergessen. Was ge- schehcn muß. wird geschehen. Vielleicht komme ich zurück,
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30 (24.1.1913) 17
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