Bei all« stoisch heiteren Seelenruhe, eine gewisse Ver- achtung des Lebens deutlich wird, so hatte sie Wohl die Hoffnungslosigkeit tun Grunde, sein Ideal verwirk- licht zu sehen unter einer Generation, die eS weder mit dem Verstände, noch mit dem Gefühl begriff. Käme er heute in unsere verwandelte Welt, so würde er wohl bald erkennen, daff die verhakten„Privilegien' noch immer nicht verschwunden find, daß sie wohl die Form gewechselt haben, der Inhalt aber der gleiche geblieben ist. Auch heute könnte er seine Definition des wahren Patrioten aufrecht erhaltet»: der Edelste sei der, der das meiste für das Vaterland tut und dar. wenigste dafür genießt— und er würde diesen Patriotismus dort lebendig finde,!, wo er allein zu suchen ist: im Proletariat. Die Hausensteinsche Seume-AuSgabe erneuert in uns nicht nur da? Gedächtnis eines vorbildlichen Charakters, sie führt uns auch in eine Eiitwickelungsperiode des deutschen Bürgertums ein, die von dieser Seite her selten betrachtet wird. Ein Fremdwortverzeichnis erleichtert das Verständnis des etwas magisterhaften Seumeschen Stils. Dies könnte sogar noch etwas ausführlicher sein. Ohne Sacherklärung wird z. B. nicht allgemein verstanden werden, was für eine Bedeutung die Lektüre des„Siegwart' hatte, was damit gesagt ist, daß der Herr Oberst „zu seiner Zeit zu Rinteln mächtig renommiert habe' usw. Die einleitende Biographie ist eine ganz vortreffliche Arbeit, die als Literaturbild und als kulturgeschichtliche Studie weit über ihren unmittelbaren Zweck hinaus Wert und Bedeutung hat. O. Witt» er. kleines feinüeton. Vor hundert Jahren. Die mehr als lOv Jahre alten englischen Zeitungen veröffentlichen täglich oder wöchentlich Mitteilungen, die in ihren Spalten vor einem Jahrhundert erschienen. Da gibt eS ergötzlich« Geschichten, die uns schmeicheln und in unS den Glauben bestärken, daß wir es doch herrlich weit gebracht haben. Doch häufig genug trifft man Berichte, die ganz klar dartun. daß sich an den menschlichen Schwächen nicht viel verändert hat. Man sehe sich nur den Artikel aus dem„Observer' vom 12. Januar 1813 an, der von einem Pastor William Dach aus Lustleigh in Devonihire handelt. Dieser ehrenwerte Herr wollte sich gern gedruckt sehen, fand aber keinen Gönner, der ihm behilflich sein wollte. So machte er sich denn an die Arbeit, baute seine eigene Druckerpresse und druckte mit alten Lettern. die stets gerade für zwei Seiten reichten, sein eigenes Werk. Die Arbeit dauerte ununterbrochen von 1795 bis 1807, da waren alle 20 Bände fertig. Und wie hieß das Meisterwerk, mit der Pastor Davy in jenem revolutionären Zeitalter beschäftigt war?„Ein System der Theologie in einer Reihe Predigten über die ersten Einrichtungen der Religion— über das Wesen und die Attribute Gottes — über einige der wichtigsten Glaubensartikel der christlichen Religion in Verbindung damit— und über die verschiedenen Tugenden und Laster der Menschheit; mit gelegentlichen Gesprächen. Eine Samm- lung der besten Gedanken der gebildeten Schriftsteller und hervor- ragenden GolteSgehrlen. der alten wie der modernen, über die näm- lichen Themata, ordentlich zusammengefügt und verbessert; besonders geeignet für den Gebrauch der führenden Familien und der Studenten der Theologie, für Kirchen und für das Wohl der Menschheit im allgemeinen." War das eine Arbeit! Und was ist aus dem Koloß, der nach der Ansicht des Verfasiers neben Shakespeare und Milton stehen müßte, ge- worden? Vielleicht liegt noch ein Band in dem Kasten eines der zahlreichen Händler im Charing Croß Road, die mit antiquarischen Büchern handeln— in dem großen Kasten, an dem geschrieben steht:„Drei Bände für einen Penny I' Wie die Journalisten die Zensur umgingen, erläutert eine Notiz aus dem„Drakard'S Paper' vom Januar 1813. Die Zeitung wollte den sittlich verkommenen Regenten schildern und fing die Sache so an.„Der Char , kter eines Fürsten .. Die Natur hatte ihn «her ichwach als bösartig gestaltet. Manchmal entfaltete er hoch- herzige Empfindungen, die vielleicht zu eckuen Tugenden hätten reifen können; er war jedoch, obwohl dem Namen nach der Herr, in Wirklichkeit der Sklave, einer Freunde und Begleiter, die all- mählich sein Gemüt verdarben. Unter geschickter Ausnutzung seiner sinnlichen Begierden deivegten sie ihn, alle Blaß- regeln, die sie wünschwn, anzunehmen. Freilich zeichnete er. sich aus, aber nur in der Geckenhaftigkeit seiner Kleidung »ind in seinen Ausschweifungen. Er überließ die Zügel der Re- gierung seiner Umgebung und schätzte au seiner Herrschergewalt nur die grenzenlose Zügellosigkeit in der Befriedigung seiner niedrigen Begierden. Während der Druck schwerer Zeiten seine Untertanen zur Verzweiflung trieb, lag er, dem Luxus frönend, in seinem Palast, anstatt sich energisch den öffentlichen Gestern ften zuzuwenden, um womöglich den Friede, und damit den Wohlstand wiederherzu- stellen und die Empörung wirksam in Gehorsam zu verwandeln." „Der Fürst , dessen Charakter in dem obigen Artikel gezeichnet ist', bemerkt die Redaktion ausdrücklich,„ist Commodus , einer der späteren römischen Kaiser, und die Angaben, die wir über ihn ge- macht haben, werden in Gibbon« Geschichte bestätigt."_ Iverantw. Redakteur: Alfred Wielepp, Neukölln.— Druck ru Verlag: Das hinderte natürlich nicht, daß alle Engländer nach dem Lesen der Schilderung gleich ausriefen:„Das ist uns« Prinz- regent I" Naturwissenschaftliches . Greisenalter und Tod in der Bakterienwelt. Die Frage, ob die niedersten Organismen die Erscheinungen des Alterns und des Tode? kennen, ist in der Biologie noch keineswegs geklärt. Es gibt hervorragende Biologen, die für die niedersten Organismen eine Art Unsterblichkeit in Anspruch nehmen. Diese ein- zelligen Organisn, en vermehren sich durch Zweiteilung, die in der Regel zwei- bis fünfmal innerhalb 24 Stunden erfolgt. Somit bildet jede spätere Generation eine unmittelbare Fortsetzung der vorhergehenden, und eine beliebig lange Kette solcher von einer Zelle abstammenden Generationen kann mit Recht als ein einziger Riesen- organismus angesehen werden. Solange die Zweiteilung ungeschwächt vor sich gebt, ist dieser Organismus in der Tat unsterblich. Run ist aber die ungeschwächte Fortsetzung der Fortpflanzung an eine Bedingung geknüpft. Nach einigen Hunderten von Gene- rationen werden die Organismen, nach den bisherigen Beobachtungen wenigstens, altersschwach. Um sie wieder zu beleben, muß man ihnen die Gelegenheil geben, sich mit anderen Organismen, die je- doch nicht von derselben elterlichen Zelle abstammen dürfen, zu der- einige». Dann kann der Kreislauf wieder beginnen, sonst tritt in Bälde der Tod ein. Wie bisher angenommen, beginnen die Alters- erscheinungen nach Ablauf von etwa zweihundert Generationen, und der Tod tritt nach Ablauf von weiteren hundert Generationen ein. Daß diese Annahme jedoch etwas voreilig war, will ein englischer Biologe, L. L. Woodruff, auf Grund seiner Versuche, über die er in einer englischen Fachzeitschrift berichtet, gezeigt haben, Im Mai 1907 isolierte er ein Bakterienexemplar t?arameeium aurolia) in fünf Tropfen von Heuaufguß, und als nach zwei aufeinander folgenden Teilungen vier Individuen davon vor- banden waren, wendete er auch bei diesen dasselbe Jsolienmgs- verfahren an. Bon diesem Momente an, d. h. im Laufe von über fünf Jahren, hat der Forscher jeden Tag die Nachkommenschaft dieser vier Slammindividuen nach demselben Verfahren behandelt, d. h, jede Möglichkeit der Verschmelzung mit anderen Individuen war vollkommen auSgeschloffen, Im Mai 1312 zählte er bereit? 3029 Generationen, von denen die letzte ebenso lebensfähig war wie ihr Vorfahr vor fünf Jahren. Der Forscher glaubt bewiesen zu haben, daß das Altern und der Tod keine notwendigen Begleit- erscheinungen des Lebens seien und daß die lebende Substanz viel- mehr befähigt sei, sich bei paffenden Bedingungen ins Unbegrenzte auszudehnen. Daß der Ausdruck„unbegrenzt" kein übertriebener ist, beweist übrigens folgende Ueberlegung. Hätte man die 3023 Generationen bei ungehinderter Forlpflanzung beisammen erhalten können, so wären eS insgesamt nicht weniger als in runder Zahl 36 mit 310 Nullen Individuen gewesen. Eine solche Masse wäre wirklich im- stände, eine kosmisckie Revolution hervorzurufen, denn man müßte 3 mit 878 Nullen Wellkörper von der Größe unseres Planeten zu- sammentun, um eine Masse von derselben Größe erreichen zu können. Geologisches. Eine Landvrücke zwischen Europa und Amerika . In den langen Zeiträumen der Erdgeschichte hat die Verbreitung des Meeres bedeutende Schwankungen und Verlegungen erfahren. Insbesondere ist es zweifellos, daß vor verhältnismäßig kurzer Zeit, allerdings vor vielen Jahrtausenden, wahrscheinlich bevor irgend ein Mensch auf der Erde lebte, eine Landverbindung zwischen Europa und Nordaftika auf der einen Seite und Amerika auf der anderen Seite bestand. Dieser Schluß ist bisher hauptsächlich aus der Ver- wandtichast der europäischen und nordamerikanischen Wirbeltiere gezogen worden. Auch der alte Plato sprach wenigstens von einer Insel Atlantis , die einen großen Teil des heutigen Atlantischen Ozeans ausgefüllt haben soll. Die neueren geologischen Forschungen haben andere Gründe zur Befestigung dieser Amiahmen gebracht, auf die Dr. Termier in einer Zusammen- kunft des Ozeanographischen Instituts zusammenfassend hingewiesen hat. Zu den auffälligsten dieser Tatsachen gehört die Beobachtung, die bei Gelegenheit der Ausbesserung eines Kabels, das von Brest nach Kap Cod an der nordamerikamschen Küste führt, gemacht wurde. Die Bruchstelle des Kabels lag etwa 500 Meilen nördlich von den Azoren , wo das Meer eine mittlere Tiefe von 3000 Metern besitzt. Die Arbeit gestaltete sich ungewöhnlich schwierig, und es erforderte mehrere Tage, bis das gerissene Kabel aufgenommen werden konnte. Dabei wurde festgestellt, daß der Meeresboden in diesem Bereich große Unterschiede von hohen Gipfeln, steilen Abfällen und tiefen Gräben aufweist. Noch merkwürdiger aber war der Befund, daß der Meeresboden dort aus einer völlig glasartigen basaltischen Lava besteht. Da ein derartiges Gestein nach den bisherigen Forschungen mir bei sehr schneller Erkaltung der Lava entstehen kann, so müßte es damals an der Oberfläche ausgeguollen sein, nicht aber unter dem Druck einer Wassermasse von 3000 Meter Höhe. Auch die großen Tiefen» unterschiede verweisen auf die gleiche Annahme, da sich die Lava unter starkem Druck mehr flächenhaft ausgebreitet haben würde. Deshalb muß damals ein Festland dort gewesen sein, entweder als Insel oder als Landbrücke zwischen Europa und Nordamerika. _ PorwärlsBuchdruckeret u.Verlagsanstalt Paul S'ngeräcCo,, Berlin S W.
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30 (29.1.1913) 20
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