Unterhaltungsblatt des Horwärls Nr. 71. Sonnabend, den 12. April. 1918 m Die Bauern von Steig. Roman von Alfred Huggenberger . Ob ich den„Zweck" mit meiner Pistole auch treffen würde? Diese Frage drängte vorläufig alle anderen in den Hintergrund. Sogleich nahm ich die Waffe, die ich in- zwischen fast vergessen hatte, aus ihrem Gewahrsam und ver- sicherte mich, daß sie geladen und mit einem Zündhütchen versehen war. Ich zielte lange, wie ich das bei Gustav Stamm gesehen, der als Guide einen Ordonanzrevolver be- saß und oft für sich allein im Tobelholz Schießübungen machte. Nachdem der Schuß verhallt war, stellte ich mit Ge- nugtuung fest, daß der„Zweck" einige Schrotritzen aufwies. Mein Selbstbewußtsein war durch diesen Treffschuß be- deutend gestiegen. Ich fand, es sei eigentlich nicht unbedingt notwendig, daß ich rnich wegen eines einzigen kleinen Fehlers vor dem Lehrer und vor dem ganzen Dorf verkriechen müsse; besonders, da ich wirklicher Bürger von Steig war, während der Lehrer und sogar Hans Kinspergers Vater tatsächlich zu den Hintersäßen gehörten, die, wie der Schneider Enz oft be- tonte, froh sein mußten, daß man sie in der Gemeinde litt. Bei diesen Erwägungen dachte ich unbewußt an den warmen Ofen daheim in Enzens Stäbchen; an den grünen Kachel- ofen, auf dessen breitem Rücken man sich mit so wunderbarem Behagen strecken und wärmen konnte. Und um fünf Uhr stand die dampfende Zinnkanne mit dem Milchkaffee auf dem Tisch, daneben die gelbe, weißgetüpfelte Platte mit grösteten Kartoffeln! Das Wasser lief mir ordentlich im Munde zu- sammen. So gründlich satt bin ich in jener Zeit nie gewesen, daß mich nicht der Gedanke an etwas Eßbares in irgendeinem Entschluß hätte wankend machen können. Ich stocherte noch ein wenig mit den Schuhspitzen im Gestein herum, schlenderte dann ins nahe Föhrengehölz hin- über, und überzeugte mich, daß der Wind das Eichhornnest, daS wir im Herbst entdeckt, noch nicht heruntergerüttelt hatte. Es überkam mich eine starke Neugier, ob ich vielleicht das Eichhorn jetzt schlafend in der Reisighalle antreffen würde. Kurzerhand kletterte ich am Stamm der mäßig hohen Föhre empor, erreichte das Nest nicht ohne Mühe, fand aber nichts darin und warf es ärgerlich vom Baume hinab. Wieder auf dem festen Boden angelangt, bestätigte ich wie etwas Selbst- verständliches den fertigen Beschluß, ins Haus zur„Wacht" zurückzukehren, natürlich mit dem Umweg über Gehren , um nicht vor beendeter Schulzeit daheim einzutreffen. Den Wäldihof, an den ich auch einen Augenblick gedacht hatte, schlug ich mir ganz aus dem Sinn. Die Base Käther hatte schon lange Zeit nichts von sich hören lassen; ich wußte von meinem Pflegevater, daß sie mit offenen Füßen im Bette lag. Hätte er mir gesagt, daß sie im erst gestern acht Frank geschickt und ein Brieflein dazu, er solle mich recht gut halten, dann hätte ich mich trotz meiner Furcht vor dem GLtti doch hinauf gewagt. Ein Abfall und eine zerbrochene Karriere. Als ich etwa eine Stunde später fest auftretend, aber inner um so unsicherer durchs Unterdorf schritt, kamen mir nicht weit vom Steinernen Platz Margritte Stamm und Hans Kinsperger entgegen. Margritte ließ die Schultasche nachlässig schlenkern und die beiden unterhielten sich zu- sammen mit ernsthasten Mienen, wie Erwachsene. „Ist's gut gegangen in der Geographie?" fragte ich spöttisch und großartig. _„Ja, Du!" gab Hans feindselig zurück.„Du hast gewiß noch einen Hochmut" Margritte rümpfte das Näschen ein wenig:„Du wirst doch mit so einem nicht mehr reden," meinte sie schnippisch ohne sich nach mir umzusehen. Da faßte ich bei mir selber den Beschluß, mir von jetzt ab aus Margritte Stamm nichts mehr zu machen. Und wenn ihr Vater zehnmal Gemeindepräsident war. Ich war so glücklich, mich daheim ins Haus schlcickien und umkleiden zu können, ohne daß jemand etwas merkte. Auch die Pistole brachte ich an ihren Ort zurück. Zu meiner Verwunderung mußte der Schneider schon zu Hause sein. denn es lag eine kleine zierliche Farbenschachtel auf dem Arbeitstisch, die ich aber nicht zu berühren wagte, weil Frau Nike in der Stube war. Der Jakob Hube zum Annenpfleger gehen müssen, berichtete sie unwillig, man werde ihm wieder etwas vom Kostgeld abmarkten. Ich ging in den Schopf hinaus und fing an Holz zu spallen, wobei die Schläge der Axt mir ganz fremd und seltsam in den Ohren klangen. Immer mußte ich innehalten und mich mit Selbstvorwürfen quälen. Wenn ich doch einen Tag, einen einzigen Tag jünger wäre! Wie wollte ich da alles anders machen!... Plötzlich knarrte das Schopftörchen ein wenig. Der Schwengeler-Schors trat zu mir herein. Er trug meine baune Wollmütze in der Hand und stülpt« sie mir ohne weiteres über den Kopf. T>ann klopfte er mir auf die Achsel, seine Augen leuchteten förmlich:„Du! Das hast Du aber prima gemacht! Der Kinsperger hat Dich in der Pause ver- schimpfen wollen, ich Hab' ihm aber das Maul zugetan! Und die anderen Knaben sind fast alle auf meiner Seite gewesen. Hinter Grobs Scheuer haben wir uns zusammen verschworen:! es läßt sich keiner mehr übers Knie spannen!" Ich hatte auf den Schors Schwengeler bis jetzt keine großen Stücke gehalten. Sein Vater, der stüher in fremden Kriegsdiensten gewesen und jetzt in der Burdi wohnte, war im Dorfe wenig angesehen, er wurde kurzweg Algierschwengel genannt, oder auch Birchenschwengel, weil er eine unheim- liche Gewiegtheit im Stehlen von Birkenreisig besaß und schon manchen schönen Baum in der Umgegend kahl geschoren hatte, ohne daß man ihn bis jetzt je einmal bei der Tat hätte erwischen können. Aber das alles war in diesem Augenblick aus meinem Bewußtsein ausgelöscht. Schors stand als inein bester und treuester Freund vor mir und ich wunderte mich nur, daß ich ihn so lang hatte verkennen können. Ich warf inich ein wenig in die Brust und legte ihm in überlegenem Tone ausein- ander, man könne sich doch in diesem Alter nicht mehr wie jeder xbeliebige Hosenbürzel ausschmieren lassen. Schors pflichtete mir lebhaft bei. Er eröffnest mir des weiteren, er sei eigentlich nicht wegen der Kappe gekommen. sondern wegen etwas ganz anderem: er wolle mir einen „Schmollis" antragen, das bedeutete bei den Erwachsenen, daß man sich füreinander hauen lasse.„Ein Schmollis würdenämlich jetzt besonders gut für uns passen," fügte er erklärend bei, weil Du von morgen an beim Zeigerhaniß Dienstbube bist und wir uns sozusagen aus dem Kammerfenster guten Tag zurufen können." Ich sah ihn verwundert an.„Wer sagt so etwas?" „Hä, wenn ich's nur weiß. Ich und das Mineli Stürlet haben alles schön anhören können, was der Stocker und der Haniß zusammen abgemacht haben. Du wärest sonst nach Ziebelen in die Rcttungsanstatt gekommen." Sein Gesicht nahm einen pfiffigen Ausdruck �an.„Du — wenn Du wüßest, wie sich das Mineli steut! Sie hat zu mir gesagt, sie geniere sich kein bißchen wegen dem Buch- zeichen, und der Lehrer habe es ihr einfach gestohlen, es gehöre ihr und sonst niemandem." „Geht mich nichts an," sagte ich nebenhin, sann aber da- bei etwas anderem Nach. Der Gedanke, daß fremde Leute über mich verfügen konnten, wie über eine Ware, trieb mir die Tränen in die Augen. Schors wandte sich unwillig von mir ab.„Wenn Du stennen willst, dann adiö Partie! Ist Dir das Guraschi schon in die Hosen hinuntergefallen? Saggerdinundedi! So einer! Du meinst gewiß, man lebe im Oberdorf nicht! Allweg so gut wie da bei Deinem Hungerschneiderl" Damit schlug er das Schopftörchen hinter sich zu und war weg. Ich setzte mich wieder auf den Schcitstock. Der Kopf war mir so voll, daß ich nichts Ordentliches denken konnte. Jetzt klangen fröhliche Kinderstimmen von der Straße zu mir herein. Behutsam stellst ich mich an eine Wandritze und guckte hinaus. Einige Mädchen belustigten sich mit Ball- werfen. Mino Stürler war auch bei ihnen. Ich mußte sie immer wieder ansel>en und dabei an das denken,>vas.Schors vorhin von ihr gesagt hatte. Sie war ziemlich groß zu ihrem
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30 (12.4.1913) 71
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