AnterhaltungsSlatl des Horwäris Nr. 117. Donnerstag, den 19. Juni. 1913 Das entfesselte Schick fot Roman von Edouard Rod . 13. Kapitel. Chaussys Artikel hatte die meisten der Geschworenen mehr als zur Hälfte überzeugt, und mit der Zeitung in der Tasche waren sie zur Sitzung gekommen. Wie am Tage vorher hüteten sie sich ihrer Meinung Ausdruck zu geben. Je nach ihren Beziehungen standen sie zu zweien oder dreien in ihrem Zimmer beisammen, um sich auszuruhen oder um sich Erfrischungen geben zu lassen. Es war heiß: einige hatten Dwrst, andere Hunger. Sie bestellten belegte Brötchen, Bier und kalten Kaffee und begannen sich über das Wetter zu unterhalten. Durch die matten Glas- scheiden der Decke brannte die Sonne derartig auf den Schwurgerichtssaal hernieder, daß sie es nicht länger zu ertragen glaubten. Welche Glut muß erst in den Logen sein! In Paris fielen die Leute wie die Fliegen um, und in den Zeitungen war nur von Sonnenstichen die Rede. Auch in Versailles brach eine Frau zusammen, als sie über den Place d'Armees ging. „Es sind die Pfeile des Apollo." meinte Doktor Buthier. „Günstig für die Ernte," sagte Mouchebise zu Glary. Aber alle waren zerstreut. Sie wagten über den Pro- zeß nicht zu sprechen, und er war doch augenblicklich ihr einziger Gedanke. Ohne direkt den Gegenstand zu berühren, konnte man doch auf Nebensachen eingehen. Condemine be- gann: „Haben Sie den Artikel von Chaussy gelesen?" fragte er Mortara, der sein Glas Bier in kleinen Zügen leerte. Der Maler war der einzige, dem er unbekannt geblieben war. Er las nur einmal täglich die Zeitung und zwar ein Abend- blatt, wenn er seine Arbeit beendet hatte. Er gehörte zu denen, die sich vollständig in ihre Tätigkeit vertieften. „Nein," erwiderte er,„und ich werde ihn auch nicht lesen. Ich will mir meine. Meinung selbst bilden." „Das machen wir alle. Aber nian kann darum doch einen Artikel von Chaussy lesen. Welche Logik hat der Teufelskerl, welchen Stil! Ich glaube, seit Paul Louis .. Mortara unterbrach ihn: „Um offen zu sein, muß ich Ihnen gestehen, daß ich Chaussy wenig schätze. Und noch weniger, seitdem ich ihn gesehen habe. Er hat eine dreckige Schnauze, verzeihen Sie den Ausdruck. Und dann mißtraue ich immer denen, die beständig auf ihre Nächsten schimpfen. Dieser Mann kommt aus der Wut nicht heraus." „Das ist ein Kerl!" erwiderte Condemine.„Es ist besser, mit ihm befreundet, als verfeindet zu sein. Wenn er gegen jemand losgeht, dann haut er derb zu. Man merkt seine feindlichen Absichten gegen Lermantes zu sehr heraus." Die anderen Gesckzworenen wurden aufmerksam. „Sie haben reckst," sagte Durnant zu Mortara und zündet er sich eine Zigarette an.„Man muß dem super- klugen Welwerbesserer mißtrauen." „Und den Journalisten im allgemeinen," fügte Pillon hinzu. Condemine wandte sich von Mortara ab. um gegen die Neuhinzugekommenen seine Meinung zu behaupten. „Aber doch, was für Dienste leistet uns die Presse! Wer ist es, die alle Schäden aufdeckt? Die Presse. Ohne weit gehen zu brauchen, war sie es nicht, die den Schwindeleien der Humbert damals ein Ende machte. Die Mächtigen können sich alles erlauben, wäre sie nicht, die alles Oeffent- liche ahndet." „Es ist mir noch nicht aufgefallen, daß man die Mach- tigen sehr belästigt," murmelte Pillon. Oberst Ollomont fügte hinzu: „Ganz gewiß nicht! Wenn man sie verfolgt, geschieht es aus Versehen und man beeilte sich, sie wieder loszu- lasten." Glary, Mijour und Klösterli lachten über diese Grille und stimmten ihm bei. Condemine protestierte: „Wieso denn? Ist Lermantes nicht gestern noch ein Machthaber gewesen. Bei ihm verkehrte alles: Deputierte, Senatoren, Minister." „Nicht bis gestern," brummte Durnant.„Diese Leute haben ihn im Gefängnis nicht besucht." „Also: bis er verhaftet wurde. Er hat das Geld mit Scheffeln gemessen... Er lancierte Geschäfte, er hat sein Vermögen verschwendet. Aber trotzdem sitzt er heute zwischen zwei Gendarmen und hat seinen Stolz beiseite gelegt. Vor dem Gesetz sind heute alle gleich, das ist eine Eroberung, die niemand im Augenblick abstreiten kann." „Wir wollen uns hüten abzustreiten, was es auch sei," meinte Durnant. Doktor Buthier fuhr fort: „Ich erkenne an, daß die Presse ihr gutes hat. In einem demokratischen Staat muß man wie in einem Glas- haus leben, besonders sollten die das bedenken, die in der Oeffentlichkeit stehen und für ihre geringsten Handlungen verantwortlich sind.— Aber wir müssen zugeben, daß die Journalisten Mißbrauch treiben. Es ist unpassend, sich der- artig über einen schwebenden Prozeß zu äußern." „Ein Mann wie Chaussy," begann Condemine. Durnant unterbrach ihn lebhaft: „Weshalb hat er mehr Rechte als ein anderer. Ich glaubte, daß wir alle gleich wären." Doktor Buthier bestärkte ihn: „Gerade, weil er viel Einfluß aus die Leser hat, müßte er vorsichtig sein: ein solcher Artikel kann selbst uns unbe- wüßt beeinflussen. Das ist beklagenswert." „O," meinte Condemine,„nach dem, was wir hörten.. Er brach ab. Aber der unvollendete Satz war klar genug gewesen. Mortara enthüllte deshalb seinen Sinn: „Sie finden also diese Aussage so entscheidend? Nun, ich nicht..." „Was wollen Sie sagen?" fragte Souzier. Mortara fühlte, daß die meisten seiner Kollegen anders dachten. Er war ein Einsiedler auf dem Lande, der nur der Natur lebte und wenig mit Menschen in Berührung kam. Es war nicht feine Gewohnheit, seine Meinung vor anderen zu äußern, und schon das Gefühl, daß man ihm zuhörte, schüchterte ihn ein. Er begann zu stottern und nach Worten zu suchen: „Ich will sagen, daß dieser Herr d'Entraaue mir zu wenig gefällt, um dem Glauben zu schenken, was er sagt. Sie verstehen. Ich möchte die Gewißheit haben, daß... ich weiß nicht, daß er niemals etwas mit Lermantes vor- gehabt hat." „Ach," rief Condemine,„das ist die Wirkung von Br6- vines, Frage. Das ist ein Schlaukopf, der alle Kunstgriffe kennt. Zum Taufel auch! Lassen Sie sich doch nicht durch seine Advokatenkniffe betölpeln. Bleiben Sie selbständig!" Der Apotheker machte eine energische Haudbewegung, die zeigte, daß er sich als entschlossener Mann seine Ansicht gebildet hatte. Durnant mengte sich hinein. Er erinnerte sich zwar nicht direkt an irgend eine schmutzige Geschichte vom Rennplatz, in die d'Entraque hineingezogen tvar, aber irgend etwas hatte man gehört. Gestikulierend setzte Kloesterli auseinander, daß er sich vage auf eine Art Skandal besinne. In jenem Falle war der Mann nicht einwandfrei. Es handelte sich um mehr als eine einfache unglückliche Wette, als die sie der Zeuge dargestellt hatte." „Man muß aber diesen Punkt aufklären," beschloß Dur- nant;„wenn d'Entraques Aussage verdächtig ist, sehe ich nicht, was gegen Lermantes spricht." „Ich auch nicht," sagte Buthier. Condemine rief: „Was dann? Gegen ihn spricht, daß er sein Opfer beerbt hat, und in welch' passendem Augenblick! Ohne all die kleinen Tatsachen zu erwähnen, die seine Belastung ergeben. Die Reise nach Savoyen , was? Uebrigens ent- krästet nichts Herrn d'Entraques Aussage, und man der- urteilt täglich auf weniger wichtige Zeugnisse hin." „Mir scheint im Gegenteil, daß man ziemlich vorsichtig ist," entgegnete Doktor Buthier.„Wenn nur der geringste
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30 (19.6.1913) 117
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