Anterhaltungsblatt des Vorwärts

Nr. 119.

Sonnabend den 21. Juni

24] Das entfeffelte Schickfal.

Roman von Edouard Rod  .

Den Buchhaltern folgte Charreire. Seine Aussage mußte eine der Clous" des Prozesses sein. Er wurde mit boshafter Neugierde erwartet, die durch seinen Geist, seine Werke, seine Berühmtheit, sein zurückgezogenes Leben er­regt worden war. Er gehörte zu jenen Menschen, die durch ihre Unabhängigkeit das Mißtrauen der Herde erregen. Sein Buch Origines de la Réformation" hatte alle Bar­teien gegen ihn aufgebracht. Der erste Band gab in harten Farben ein strenges Bild der Kirche zur Zeit der Borgia  ; er wurde von den Katholiken in den Bann getan. Der zweite Band gab eine realistische Beschreibung Luthers   und nahm diesem den Nimbus, mit dem ihn sonst die offizielle Geschichte umgab. Charreire schilderte ihn als einen Men­schen jener Epoche, in der man leidenschaftlich kämpfte; er beschrieb sein aufbrausendes Temperament, das Gute und das Schlechte, Politik und Glauben. Ehrgeiz und Auf­opferung. Die Protestanten erklärten sich natürlich gegen den Schreiber. Der dritte Band erzürnte die Freidenker durch eine unerwartete Eloge, die er der geistlichen Bolitik, nach dem Konzilium der Dreißig machte. So hatte er alle Parteien gegen sich, und hier wartete man jezt darauf, ihn bei einem Fehler ertappen zu können, um ihn zu ver­höhnen. Man fragte sich, wie ein intellektueller" seiner Charakterbeschaffenheit sich mit den Realitäten des Gerichts­hofes abfinden würde. Ob er wohl den Schwur nach den vorgeschriebenen Formeln ablegte? Ob seine Haltung vor den Richtern ihnen zeigte, was er wirklich dachte?... Würde er, wenn er von seinem unangenehmen Freunde sprach, irgend etwas aus seiner eigenen Vergangenheit ver­raten?..

Charreire vermutete nichts von dieser klatschhaften, un­gesunden Feindseligkeit. Er war voller Ruhe erschienen, als Freund, der an seinen Freund glaubt, als Bürger, der nicht an der Gerechtigkeit zweifelt, und er hob seine Hand auf die einfachste Weise der Welt, ohne einen Augen­blick daran zu denken, gegen den aufgestellten Brauch zu protestieren. Er schwur mit schwacher, aber klarer Stimme, die man bis in die Tiefen des Saales hörte, weil er gut artikulierte, und nachdem er Lermantes voller Bewegung betrachtet hatte, die er auch gar nicht verbergen wollte, sprach er ohne Künstelei, wie es ihm das Herz diktierte:

Man hat mich gebeten, über meinen Freund aus zusagen, weil ich sein Leben genau kenne und durch jahre­lange Erfahrung seinen Charakter beurteilen kann. Viele behaupten, daß wir die wahren Gedanken, die hinter der festen Wand der Stirn sich verstecken, nicht erraten können. Doch ich denke, daß ich den Mann zu beurteilen verstehe, den Sie jetzt richten sollen. Ich glaube in meinem Urteil nicht fehl gehen zu können, denn seit mehr, als dreißig Jahren lese ich in ihm, wie in einem offenen Buche. Ich habe ihm nie etwas verheimlicht, und ich bin überzeugt, daß auch er es nie tat. Darum zweifle ich nicht an ihm und ich brauche hier nichts über ihn zu verschweigen."

Charreire sprach in einem Lon, der seinen Worten einen feierlichen Anstrich gab. Seine Stimme wurde nach und nach so deutlich, daß man sie überall verstehen konnte. Die Erregung, die sie erzittern ließ, verlieh der Nacktheit seiner einfachen, von jeder Künftelei freien Sprache den Schimmer der Beredsamkeit. Sehr schnell bemerkte Rutor, daß der Inhalt von Charreires Worten mit dem übereinstimmte, was er seit dem ersten Tage in seiner Seele hatte erklingen hören. Der Mann, der sie aus­sprach, erweckte den Eindruck der Rechtlichkeit wie der In­telligenz. Er war im besten Sinne des Wortes Lermantes' Freund, ein erprobter, jahrelanger Freund: einer jener Freunde, die durch die Tatsache ihres Verkehrs und ihrer Anhänglichkeit die Bürgschaft für den Charakter des andern geben.

1913

Ich müßte Ihnen denn unserer beider Lebensgeschichte er­zählen, und die Ereignisse ständen in keinem Zusammen­hang mit dem Prozeß. Sie fragen mich nur, was ich auf Ehre und Gewissen von Lermantes denke. Nun, meine Herren, ich halte es für derartig unmöglich, daß er eine schlechte Tat begehen könnte, und nun gar ein Verbrechen, daß nur ein positiver Beweis meine Ueberzeugung zu er­schüttern imstande wäre. Und ich habe die Gewißheit, daß ein solcher Beweis nicht erbracht werden kann, nicht existieren kann...

Fast gegen seinen Willen murmelte Rutor: ,, Das ist ein Plädoyer."

Er sah den Präsidenten an, der ihm mit einem Augen­zwinkern antwortete: Nein, nein, wir wollen ihn sprechen lassen."

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weil mein Freund nicht schuldig sein kann. Ich behaupte nicht, daß er fehlerlos ist: ich habe ihn manch­mal getadelt, weil er sich von seiner Phantasie zu leicht fortreißen läßt und unbesonnen handelt alles Wesens­züge, die jetzt leicht ein Vorurteil über ihn erwecken könnten. Ich erkläre nur und ich glaube, daß dies das Wesent­liche meiner Aussage ist, daß ich ihn stets rücksichtsvoll sah, stets bestrebt, niemand zu schaden. Sein Leichtsinn oder seine Fehler, die heute so besonders unterstrichen wurden, sind so gedeutet worden, daß es ihm nur an Ge­legenheit, Zufall oder Anlaß zu einem Verbrechen mangelte. Meine Herren Geschworenen  , Sie kennen das Leben genug, um den Unterschied beurteilen zu..."

Jezt unterbrach ihn Herr Motiers de Fraisse in sehr höflichem Lon:

der

,, Herr Charreire, Sie greifen ein wenig in die Rechte Verteidigung ein."

Ich beklage mich nicht," sagte Brévine  .

Verzeihen Sie, Herr Präsident! Das ist das ersteinal, daß ich einer ähnlichen Prüfung gegenüberstehe. Es ist wohl auch nicht nötig, daß ich meinen Saß beende, da­mit er verstanden wird! ch möchte nur noch ein Wort hinzufügen: seit dreißig Jahren, seit der Schulzeit sind Lermantes und ich Freunde und diese Freundschaft ist von dieser Stunde unberührt, vertrauender. wärmer als jemals

" 1

Er schwieg, wendete sich um und streckte seinem Freunde die Hände entgegen. Der Präsident fragte den Staats­anwalt, ob er noch etwas fragen wollte. Aber dieser lehnte mit einer Geste ab, die sagen sollte: Wozu... das ist ein Freund, der einen Freund verteidigt. Brévine   fragte:

,, Könnte der Zeuge, der sich eben mit so viel Vornehm­heit aussprach, uns irgend etwas über die Beziehungen meines Mandanten zu Herrn d'Entraque sagen?" Nichts Besonderes.

Hat seiner Kenntnis nach irgendein Mißverständnis zwischen beiden bestanden?"

Nicht daß ich wüßte."

" Ist der Zeuge über einen Dienst in Geldangelegen­heiten unterrichtet, den Lermantes Herrn d'Entraque leistete?"

,, Nein, Herr Rechtsanwalt."

,, Also gab es doch Dinge, über die Lermantes nicht mit Herr Charreire sprach, so vertraut sie auch miteinander waren?" warf Herr Rutor ein.

Unabsichtlich war ihm die Bemerkung entfahren, sie tat ihm leid. Charreire entgegnete mit feiner ganzen

Kraft:

D, Herr Staatsanwalt, es handelt sich um einen ge­leisteten Dienst. Ich vermute nicht, daß mein Freund mir alle seine guten und schönen Taten erzählt hat. Wäre ich in die Lage gekommen, jemanden einen Gefallen zu tun, ich hätte auch nicht das Bedürfnis empfunden, mich damit zu brüsten. Es erscheint mir ganz natürlich, daß man so etwas mit sich allein abmacht."

Rutor runzelte die Stirn. Charreire ging auf seinen Sie erwarten nicht, meine Herren, daß ich Ihnen Blaz zurüd. die Gründe meiner Freundschaft auseinanderseße. Ea Die beiden legten Zeugen, Baron Châtel und Herr find dieselben, die mich an seine Unschuld glauben lassen. Lavaur, gehörten den Kreisen Lermantes und d'Entraques