Anterhaltungsblatt des Vorwärts

Nr. 132.

87]

Donnerstag, den 10. Juli..

Das entfeffelte Schickfal.

-

Roman von Edouard Nod. Während Herr Rutor diesen Grübeleien nachging, ver­flüchtigte sich der starke Eindruck, welche die vorher stattge­fundene Szene auf ihn gemacht hatte er war auf dem felben Standpunkt wie vor Beginn der Verhandlung- nur feindlicher gegen Lermantes gestimmt; seine Logik wehrte sich dagegen, von der Unwürdigkeit des Zeugen auf die Unschuld des Angeklagten zu schließen.

Die Gedanken gingen ihm wirr durcheinander und be­drückten ihn. Er wollte allein aus diesen Schwierigkeiten herauskommen und vermied es deshalb, wie vorgestern mit Herrn Motiers de Fraisse heimzukehren, um sich nicht be­einflussen zu lassen.

Die Menge betrachtete die noch frischen Blutflecken im Vestibule des Gerichts, als der Staatsanwalt über den Place des Tribunaux an einem Haufen Neugieriger vorbeischritt und das Verdeck einer elektrischen Bahn bestieg. Sie führte nach dem Louvre, und Herr Rutor war so in Gedanken ver­sunken, daß er nichts von der Landschaft sah, die an ihn vor­beiglitt. Es gibt nichts Schwierigeres, als unvereinbare Alternativen abzuwiegen, die gleichmäßig annehmbar er­scheinen. Nichts ist schwieriger, als auf den von Zweifeln er­füllten Wegen der Vernunft die korrekte Wahrheit zu er­forschen. Schon öfter hatte Herr Rutor während seiner Lauf­bahn anerkennen müssen, wie unsicher die Methoden des Strafrechts sind. War er nicht unaufhörlich gezwungen, auf Beweise zu verzichten, und sie durch Zufälligkeiten und Mut­maßungen zu ersehen, durch Auslegung ungewisser Tat­sachen?. Verließ er nicht oft dies Gebiet der Tatsachen, um auf der Basis der Schlußfolgerungen, die so unsicher waren, so oft schon durch die Wirklichkeit widerlegt, weiter zu urteilen? Gewöhnlich faßte er ziemlich schnell den Entschluß, er stüßte sich erstens auf die Untersuchung, welche die Ver­anlaffung seiner Anklage war, zweitens vertraute er seinem eigenen Blick, den die Noutine, die er im Amte erworben, ge­schärft hatte. Durch die Eile der täglichen Pflicht getrieben, die er nicht hätte erfüllen können, wenn er die einzelnen Fälle einer zu langen Prüfung unterzogen hätte, war er stets vor Alternativen gestellt. Wenn die Untersuchung Lücken auf­wies, hatte er diese zu übergehen. Seines Amtes war es, immer und wieder Schuldige der Bestrafung zu überliefern, unaufhörlich, er würde wie ein zerbrochenes Nad beiseite ge­stellt worden sein, wenn er an diesem Mechanismus nicht teil­genommen hätte, der allein die Urteile des Richters möglich macht.

1918

Freisprechung verdächtig, selbst wenn er niemals die geringste berbrecherische Absicht gehabt hätte. Würde er aber verurteilt, blieben eine Menge Leute, die seine Partei ergriffen, die einen aus Ueberzeugung und Ritterlichkeit, die anderen aus Berechnung. Und er selbst? Sein Beruf zwang ihn, die Bögernden zu einem Entschluß zu bringen. Er mußte ihre Entscheidung beeinflussen, wenn er auch selbst von Zweifeln geplagt war, die in ihm das Gefühl einer gewissen Unmänn­lichkeit erweckten.

-

Bald hörten die Felder auf. Die User wurden steiler. Baggermaschinen und Krane arbeiteten eifrig. Herr Rutor ließ sich durch die wechselnden Bilder ablenken. Am Pont d'Alma um gab die große Menge wie ein Bienenschwarm die Pfeiler. Sie sah zu, wie Arbeiter einen Ertrunkenen heraus­fischten. Durch den Auflauf trat eine Stockung der elektri­schen Bahnen ein, die an den Seiten der Brücke entlang fuhren. Es dauerte einige Minuten, bis Schußleute die Schienen frei gemacht hatten. Das Leben brauste weiter, nur für den Ertrunkenen hatte es aufgehört. An der Pont de la Concorde bot sich ein anderes Bild. Mit klingendem Spiel zog ein Kürassierregiment vorbei, und die Sonne ließ die Rüstungen heller erglänzen. Am Louvre stieg Herr Rutor aus und wunderte sich, als er merkte, daß er nicht mehr an Lermantes gedacht hatte. Doch das Problem bestand weiter. Auf dem Quai rief man Zeitungen aus. In fettgedruck­ten Buchstaben konnte man angezeigt lesen: Prozeß Lermantes. Großer Theatercoup. Freisprechung wahrscheinlich.

-

Rutor las die Zeitung. Er erkannte einige Säße aus den beiden Verhören des Ehepaares d'Entsaque. Es waren ungefähr dieselben Worte, die er vorhin gehört hatte, doch farblos. Wie hatten sie nur einen so gewaltigen Eindruck auf ihn machen können?... Auf diesem Blatt schienen sie fraftlos und sagten gar nichts. Und dann: Freisprechung wahrscheinlich... Mit welchem Recht sah dieser Unberufene eine solche Lösung voraus?... Genügte der Schrei einer verliebten Frau, die sorgfältige Arbeit der Staatsanwaltschaft umzustoßen.. Nebenbei wurde noch eine andere Frage er­örtert: d'Entraques' Verfolgung, der des Meineides über­führt war. Herr Rutor murmelte: das verdient der Lump auch. Im Lesen war er bis zur Pont Neuf gekommen und hatte die Absicht, über den Place Dauphine nach dem Justiz­palast zu gehen. Doch überlegte er und wandte sich dem linken Ufer zu. Als er am Quai Grands- Augustin einbog, prallte er mit seinem Kollegen, Herrn Rabius, zusammen, der ihn festhielt.

Herr Rabius war ein Mann von 55 Jahren, sehr groß, aufrecht und wie immer im Gehrock und grauen Handschuhen. Der etwas große Kopf war stets nach hinten gebogen, weil er auf einem zu dünnen Hals saß. Staatsanwalt Rabius ging steif und hatte eine dicke, mit Aften vollgepfropfte Mappe. Er hing mit Begeisterung an seinem Beruf und galt für einen sehr erfahrenen Beamten. Kein wichtiger Prozeß entging ibm, aus Liebe zur Kunst verfolgte er ihn Fall vom Standpunkt des Anflägers, wie ein pessimistischer Arzt an bei jedem Vorbeigehenden tödliche Bazillen vermutet. Seiner Meinung nach wucherte Missetat überall, selbst die anständigsten Leute waren nur durch eine dünne Scheidewand von ihr getrennt, die beim schwächsten Stoß zusammenbrechen konnte. Herr Rabius hielt dieselbe Zeitung, die Herr Rutor gelesen hatte, in der Hand. Trotz der dicken Mappe, die ihn störte, schwenkte er das zusammengefaitete Blatt und rief: " Da haben Sie etwas Angenehmes in Aussicht... Herr Rutor reftifizierte:

Leute, die von sorgenschweren Gedanken erfüllt sind. empfinden in ihrer Unruhe häufig das Bedürfnis, den Plaß zu wechseln. In Sèvres verließ Herr Rutor die elektrische Bahn und bestieg das Dampfboot, dessen wehende Rauchwolfen sich gerade näherten. Es waren mir wenige Passagiere da, und Herr Rutor konnte sich nach Belieben auf dem Steg einen Blaß wählen und die leichte Luft einatmen. Einen mit größter Aufmerksamkeit. Natürlich betrachtete er jeden Augenblic atmete er auf, doch gleich überfielen ihn wieder die quälenden Gedanken. Vergebens versuchte er sie zu­sammenzufassen, aber er brachte es nicht fertig. Er erinnerte sich der Worte, die er soeben am Schwurgericht gehört hatte: in seinem Gedächtnis flangen sie wie Mißakkorde finn los. Er entnahm seiner Mappe d'Entraques erste Aussage und las sie durch. Sie war für Lermantes unzweifelhaft günstig, sie stand im vollständigen Widerspruch zu der zweiten. Aber wie? Konnte die erste nicht genau so falsch sein wie die zweite?... Dieser unglaubwürdige Zeuge machte sich die Ereignisse immer nach seinem Belieben zurecht, genau so wie er sich an dem Verräter hatte rächen wollen, konnte er auch gelogen haben, um den Freund, von dem er Vorteil erhoffte, Ist es nicht dasselbe? Ich kenne nichts Langweiligeres zu retten, vielleicht mit den schlimmsten Nebenabsichten. Das als die Prozesse, in denen die Zeugen uns schon die Arbeit ab­Geheimnis war durch die dreifache Aussage nicht aufgeklärt genommen haben. Das Interessanteste urjeres Berufes ist worden, nur beängstigender durch die Aussage von Luise es doch, wenn die Untersuchung uns keine Beweise gab, das Donnaz. Das Verdikt würde nun dem Anschein nach, nicht der Wahrheit gemäß flärend wirken. Die Anzahl der" ja" oder nein" würde Bestrafung oder Freisprechung nach sich ziehen, abe dann?... Lermantes blieb auch nach einer

Sie wollen sagen, eine Arbeit, die mir tüchtig zu schaffen machen wird."

Verbrechen nach ungewissen Angaben wieder aufzubauen. Wir forschen, wir analysieren, vor allen Dingen überlegen wir. Der winzigste Kern wird größer, nimmt eine bestimmte aus geprägte Gestalt an und wird zur Quelle des Lichtes. End­