Anterhaltungsblatt des Vorwärts

Nr. 133.

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Freitag, den 11. Juli.

Das entfelfelte Schickfal.

Roman bon Edouard Nod.

Herr Rutor beneidete diese kräftige Sicherheit, diese Festigkeit des Gewissens, das fein Zweifel erschütterte, dieses schrankenlose Vertrauen zu den geistigen Waffen.

Glauben Sie nicht an den persönlichen Eindruck?" warf er zögernd ein. Verstehen Sie, einen sehr starken Eindruck, Sen man nicht rechtfertigen kann, der aber dem Anschein widerspricht, der Verdachtsgründe in uns übertönt." bi Ueberrascht rief Herr Rabius:

1913

Strahlender Gesundheit, den sie in der Ruhe erweckte, er regten denselben Anteil, den man vor einem schönen, unvoll­endeten Werke empfindet. Wie alle franken Kinder war auch ste verzärtelt und verwöhnt, hatte sich wie eine einsam blühende Blume entfaltet, fast ohne mit der Welt in Be­rührung zu kommen. Sie stellte sich die Welt auf ihre Weise bor   nach den Büchern, die inan ihr zu lesen gestattete. Vor­sichtig hatte man unter den einwandfreiesten und farblofesten für sie gewählt. Aber sie genligten nicht mehr, ihre Phantasie zu erregen, an deren rascher Entwickelung niemand teilnahm. Denn ihre Mutter war denffaut und konnte ihr nicht folgen. In der Zärtlichkeit, die sie ihrem Vater widmete, Tag schich

Aber nein, nein! Solche Eindrücke sind die fürchter- terne und furchsame Sorge. Ihre unendlich zarte Seele fichste Versuchung! Das ist eine böse Beeinflussung. Manch inal, im Beginn meiner Laufbahn, spürte ich fie. Aber icht tenne ich sie schon lange nicht mehr."

Jedoch wie schrecklich ist es, wenn man sich sagen muß, daß man vielleicht an einem tragischen Jertum mit die Schuld trägt."

Das muß man sich auch nicht sagen das muß man nicht. Eine zu schüchterne Gerechtigkeit würde die Misse­tat ermutigen

fürchtete tausend Gefahren für ihn, die sie durch seinen Beruf für ihn abute. Ein Beruf, von dem sie sich keine Vorstellung machen konnte, außer daß er die Züchtigung des Verbrechens zum Inhalte hatte. Der Gedanke an den Haf, den er erzeugte, war ihr unerträglich. Das Wort juridischer Irrtum" ge­nügte, ihr Fieber zu verursachen. Ihr schauderndes Gewissen fürchtete ihn. Bald mutmaßte fie die Sache eines Uebeltäters und stellte sich voll Erregung die Szene dar, in der er burdi eine Kugel oder einen Dolchstich getötet würde. Oft bildete Mit diesen Worten schüttelte Herr Rabius seinem Seol- fie fich ein, daß er das unfreiwillige Instrument eines dieser Legen die Hand und entfernte sich in seinem automatenhaften tragischen Irrtümer werden könnte, die sie entfeben; so öff­Schritt, mit ruhigem Lächeln auf den Lippen, den Arm steifnete eine unerklärliche Herzensangst ihre unschuldigen Augen über die schwere Mappe, die er trug. über die Ungerechtigkeit und den Schmerz, welche die Welt Herr Autor ging den Quai entlang und stand manchmal verwüsten. vor den Karren der fliegenden Buchhändler still. Der legte Die Aufmerksamkeit für den Prozeß Lermantes war Sat seines Kollegen verfolgte ihn: Eine zu schüchterne Ge- cine fo allgenteine gewesen, daß sie ihr nicht entgehen konnte. rechtigkeit würde die Missetat ermutigen. Das Prinzip war Von Anfang an hatte Anne- Marie ein Gefühl dumpfer Be­richtig, aber es war nicht dieses Prinzip, es war eine materi- Flemmung, wenn sie davon sprechen hörte. An den Tage, elle Tatsache, welche der Grund des Prozesses war. Es han an dem Herr Rutor zu Hause erzählte, daß er die Mission delte sich nicht darum, zu wissen, mit welchem Grad von Ge- empfangen habe, gegen Lermantes als Ankläger zu fungieren, wißheit der Angeklagte für schuldig gehalten werden konnte, war sie leichenblaß geworden und hatte ihm einen entsegten sondern festzustellen, daß Lionel Zermantes den General Blick zugeworfen. Vielleicht hatte er es gemerkt, vielleicht war de Bellice abfichtlich getötet hatte. Nach dreitägiger Debatte die Erregung seiner Tochter ähnlich der, die ihn jedesmal war diese Frage nicht geklärt und seine Gedanken wehrten sich beschlich, wenn er das Altenbündel öffnete. Vielleicht bestärkte ermattend, sie klären zu wollen. Um die Müdigkeit zu be- fie die innere Stimme, die ihn mahnte, und die seine Ver­zwingen, ging er weiter: schon oft hatte ihm ein Spaziergang nunft nicht erstiden fonnte. Er hatte von dent, was in Ver­in solchen Stunden geholfen, in unklare Gebanten Klarheit failles vorging, nicht ein Wort gefagt. Und doch fühlte er, gebracht. Er schlug eine schnellere Gangart ein, ging wieder daß seine Tochter deshalb nicht schlief. bis zu Bont de la Concorde zurück, durch die Avenue des Das Mahl berlief schweigfan. Herr Nutor grübelte Champs- Elysés bis zum Etoile und nahm sich dort eine meiter und verbarg seine Sorgen nicht. Bon Zeit zu Zeit Droschte, um nach Hause zu fahren. Während der ganzen fiel ein gleichgültiges Wort. Ais es Erdbeeren zum Nachtisch Bett vermied er es, an Lermantes zu denken und ließ fich gab, fagle Frau Rutor: durch das Getriebe um ihn herum ablenken. Als er in das Haus trat und an dem Salon vorbeikamt, hörte er seine Zochter ein Bräludium von Chopin   spielen, das er nicht mochte. Er ging in sein Arbeitszimmer. Der Spaziergang Hatte feinen Nerven wohlgetan, und er nahm sich die Aften wieder vor. Er sagte: Ich will sie noch einmal ganz durch arbeiten, ohne mich mit d'Entraques beiden Aussagen zu beschäftigen. Aber bald fab er ein, daß diese Me­thode unausführbar war, war eine oder die andere falsch, waren sie beide falsch fie waren für ihn der wichtigste Punkt gewesen und wenn er diesen aus­merzen wollte, fehrte er ihm immer doch wieder in das Gedächtnis zurüd. Die Aussagen waren die Basis für die Untersuchung gewesen, auf ihnen hatte das Verhör der Prä- fprechen. fidenten beruht, und Herr Nutor hatte den ersten Entwurf feiner Rede auf die Seugnisse gebaut. Er hörte die Klingel zum Abendbrot rufen, zwei Stunden waren verflossen, und er war nicht einen Schritt weiter gekommen.

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Dhne es sich zu einer absoluten Regel gemacht zu haben, sprach Herr Rutor von seinen beruflichen Angelegenheiten zu Hause fast gar nicht. Sie behandelten zu häufig Dinge, die nicht dazu angetan waren, günstig auf den Geist eines jungen Mädchens zu wirken, und der Staatsanwalt wollte seine Anne­Marie vor dem Kontakt mit allen niederen Interessen be­wahren. Sie war sechzehn Jahre. Es war ein reizendes, aber von der Natur stiefmütterlich behandeltes Kind. Sie konnte nur mit einer Strücke geben, ihr rechtes Bein war fast Tahm. Aber sie hatte ein entzückendes Gefichtchen, rosig frisch, von einer Fülle herrlichen Haares umgeben. Die vollkommene Schönheit ihres Antliges, der leuchtende Teint, der Anschein

Sie sind gut."

Herr Rutor die legtein und bestätigte: Ja, sie sind gut."

Er veriveiste im Biviespalt, ob er fein Herz öffnen oder feine heimliche Angst für fich behalten sollte. Bon Zeit zut Beit begegnete er dem fragenden Blick Aune- Maries. Er wandte die Augen ab.

Du siehst heute so abgespannt aus?" fragie Frau Rulor mit ihrer fanften Stimme.

Er antwortete:

Es war sehr heiß in Verfailles." Anne- Marie erriet, daß diese Anspielung auf den schive­benden Prozeß den geheimen Wunsch offenbarte, davon zu

Bapa  !" rief sie, was werdet Ihr mit diesem Unglüd­lichen machen?" Da er nur mit einer erstaunten Bewegung antwortete, fuhr sie fort:

Ich hatte solche Angst, daß Du heute schon Deinen An­trag stellen müßteft, Papa. Ich fühlte, daß Du sehr streng sein würdest, und es ist doch alles fo umflar..."

So unklar... Folgtest Du denn dem Prozeß in den Seitungen?" Ich verfolge alle Prozesse, in denen Du sprechen mußt, Bapa  ."

Er versuchte zu lächeln.

Es wäre mir angenehmer, loenn Du es nicht täteft," fagte er. Uebrigens versteht man sie nach diesen Berichten schlecht. Warum fürchtetest Du, daß mein Antrag heute zu früh tommen fönnte?"