Anterhaltungsblatt des Vorwärts
Nr. 135.
Dienstag, den 15. Juli
40] Das entfelfelte Schickfal.
Bis dahin war Herr Rutor in ganzen in den Grenzen seines Programms geblieben; seine Worte formten seine Gedanken, ohne sie zu entstellen oder zu vergrößern. Er war sowohl in der Begründung als in der Ausdrucksweise maßvoll. Er enthielt sich aller heftigen und leichten Effekte, die ein weniger skrupelloser Redner gebraucht hätte. Die einen fanden diese Methode geschickt und für den Angeklagten gefährlich, die anderen beurteilten sie als zu gelinde und als ungeeignet für die Geschworenen. Die lettere war Herrn Rabius' Ansicht, dessen Gesicht einen ärgerlichen Ausdruck annahm. Aber alle hörten mit jener Achtung zu, die eine Sprache, die für die Wahrheit kämpft, immer erzeugt.
Rutor hielt einen Augenblick inne, hustete und sagte: Dieses Resultat schöpfte ich aus der seltsamen Angelegenheit und breitete es sorgfältig vor Ihnen aus. Vielleicht ist sie eine der verwirrtesten, die gerichtliche Chroniken aufweisen, vielleicht ist es der Prozeß, der mir während meiner Laufbahn am meisten Angst und Strupel verur sachte. Ich zögere nicht, es einzugestehen, und ich bitte Sie, von mir nicht zu erwarten, daß ich bei einem solchen Fall auf Ihre Ueberzeugung zu wirken suche."
Herr Rabius fuhr in die Höhe, Chaussy machte eine zornige Geste, Brévine blickte überrascht.
Ich weiß, daß Ihr Gewissen und Ihre Rechtlichkeit Sie leiten. Jedoch habe ich die Pflicht, Ihr ganzes Denken auf die ungünstigen Argumente aufmerksam zu machen, die ich Ihnen anführen mußte. Auch mich selbst haben sie nicht absolut überzeugt, ich gestehe es offen ein. Aber Sie sollen darum trotzdem auf Ihrer eigenen Wage wägen, die vielleicht noch sicherer das Gewicht anzeigt. Ich kann Ihnen nur eins sagen: Richten Sie sich nach Ihrer Einsicht, ohne Voreingenommenheit noch Schwäche, in völliger Unabhängig. feit. Richten Sie, wie es Männern geziemt, denen eine sehr große Macht verliehen ist. Eine Macht, die ebenso groß wie ihre Verantwortlichkeit ist, da sie keinen Widerruf fennt. Richten Sie in dem Geist des Schwures, den Sie leisteten, dessen Sinn Sie erfaßt haben und den Sie nicht brechen werden."
Er wollte jetzt aufhören. Gewiß alle, die von einer Justiz träumten, deren Methode so voller Bedenken ist wie diejenige aller Wissenschaften, welche mit den Leidenschaften der Menschen nichts zu tun haben, hätten diese kurze Rede gut gefunden. Einfach, klar, gerecht, eine Rede, in welcher der Beamte seine Pflicht getan hatte, ohne darüber hinauszugeben; ein unparteiischer Forscher, welcher nur den Sinn der Wahrheit ausdrücken will. Was trieb ihn dazu, weiter zu sprechen?... ein Blick auf das ärgerliche Gesicht von Herrn Rabius, der aufs neue seine Furcht erweckte, die Missetat zu ermutigen", ein etwas ironisches Lächeln von Brévine , der von der Milde überrascht war... oder ein unerklärlicher Impuls, der in der Tiefe der Seele schlummert, um plöglich hervorzubrechen und das Werf unserer Vernunft und unseres Willens umzustoßen?... oder war es die Furcht, daß er sich von seinem Gefühl zu sehr hatte hinreißen lassen?... War es nur der sanfte Einfluß von gestern, dem er zu sehr nachgegeben? Unvermutet war er am Ausgangspunkt seiner Rede angelangt, und was er anfangs übergangen hatte, die Vergangenheit von Lermantes, warf er jegt als schweres Gewicht in die Wage. Selbst der Ton seiner Sprache wechselte. Die Stimme wurde lauter und drohender. Die Säße wurden länger, seine Bewegungen befamen etwas Pathetisches und aus den Worten flang Emphase.
1913
Tatsachen vorführen, die sich wie fürchterliche Zeugen gegen ihn erheben..
Aber trotzdem führte er sie vor, vereinigte sie eng und erläuterte sie mit schneidender Strenge.
,, Betrachten Sie ihn, meine Herren! Sehen Sie seine Niedergeschlagenheit. Ich habe mich über das schreckliche Geheimnis, das er vielleicht verbirgt, nicht aussprechen wollen, um Ihrer erhabenen Richterspruch besser zu respektieren. Aber ich bin sicher, daß er in diesem Moment das Gewicht seines luxuriösen zweifelhaften Lebens hart auf sich lasten fühlt, das Gewicht dieser Existenz, die mit so vielen moralisch verwerflichen Handlungen, mit so viel Fehlern und Schwächen aller Arten behaftet ist, daß alles möglich erscheint. Vielleicht denkt er mit Bitterfeit an den Schlamm, der sein Gewissen trübt. Er fühlt sich von der allgemeinen Mißbilligung umgeben, deren Bezeugungen der Herr Präſident unterdrücken mußte. Vielleicht hat er sich zum ersten Male in diesem wahren, unbarmherzigen Spiegel betrachtet, vielleicht sich das erstemal so gesehen, wie er wirklich ist, feines eitlen Nimbusses beraubt, einmal aus dem Wirbelwind von Geschäften und Vergnügungen herausgeschleudert, indem er stets sich selbst vergaß. In diesem Wirbelwind hat er feine Zeit gefunden, sich um sein Gewissen zu fümmern, dessen Stimme zweifellos immer schwächer wurde, bis sie in der Leichtigkeit seines Lebens und der allgemeinen Sitten völlig verstümmelte und es so weit kam, daß er seinen Launen nichts mehr versagte, und beate kann keiner von uns berechnen, welch schwachen Widerstand er unseren schlimmsten Versuchungen entgegensezen konnte. Ja, meine Herren Geschworenen , durch die Strömung des Jahrhunderts und seine eigene Schwäche hat dieser Mann sich nach dem geformt. Nun, eine Seele mit jo zweifelhaften Ehrbegriffen, berühmten Wort eine Seele aus Wachs für das Laster" eine Seele, die so bereit ist, sich zum leblen zu wenden, kann eine Seele, die so bereit ist, sich zum Ueblen zu wenden, kann ausgleiten... Ich könnte sagen, bis zum Verbrechen gleiten. Sch sage es aber nicht. Denn darüber haben Sie zu urteilen. Es ist Ihres Amtes, sich allein ein Bild von diesem schwanfenden Geist zu machen, den so viele Zufälle und Glückswechsel aus dem Gleise gebracht haben. Es ist Ihre Sache, ob man diesen Mann dem gerechten Zweifel überlassen soll, dem Gerichtshof zu sagen, ob dieser Kopf fallen soll oder den aus den Herzen der Zuhörer zu tilgen diese Verhandlungen nicht instande waren."
..Ziemlich geschickt," sagte Languard zu Frau de Luseney. " Der Schluß widerspricht dem Anfang, aber wer wird das bemerkt haben... er war wirkungsvoll."
Jean Bogis Semerkte zu Chaussy:
,, Sehr gut, vielleicht zu gut für die Geschworenen." Chaussy warf ihm einen wütenden Blick zu. Er hatte. fich entschlossen, wenn der Urteilsspruch verneinend ausfallen sollte, sich an Rutor zu halten, um an ihm seine Galle auszulassen. ,, Seien Sie doch still," brummite er, der Esel hat wie ein Hundsfott gesprochen."
Aber man, hatte kaum Zeit, Eindrücke auszutauschen: der Antrag des Staatsanwalts hatte etwa fünfzig Minuten gedauert, und der Präsident gab oder war gedauert, und der Präsident gab sofort dem Verteidiger das Wort.
Bedenken Sie aber vor allent, meine Herren, daß Sie feinen Mann vor sich haben, dessen Charakter und Bergangenheit eine solche Achtung einflößen, daß man erröten müßte, wenn man ihn verdächtigt. Sie haben seine Lebensgeschichte gehört; ich will Ihnen nicht noch einmal all jene
Brévine arbeitete für all seine Reden einen Plan aus, den er nicht einhickt. Er improvisierte und sprach mit jener Begeisterung und jenem Eifer, der seine Reden so lebendig gestaltete. Wenn auch in dem Bau der Rede eine gewisse Unordnung herrschte, die durch die vielen Parenthesen verstärkt wurde, so siegte doch die Einheitlichkeit seiner Beweis-. führung, die stets den Endzweck im Auge behielt. Da er bei Beginn seiner Reden stets Lempenfiebar" hatte, war er zuerst verleger. oder unzusammenhängens: man mußte an die großen Vögel denken, die, bevor sie fortfliegen, ihre Flügel mühsam bewegen in der schmerzlichen Furcht vor der Anstrengung. Er begann mit langen Säßen voller Komplimente für den Bräsidenten und Verbindlichkeiten für die Geschworenen, aber in dem Augenblick, in dem er am