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meisten sich zu verwickeln schien, nahm er einen kräftigen Aufschwung.

Vor allen Dingen, meine Herren, bitte ich Sie eine Legende zu vergessen, die, falls sie noch in Ihrem Geiste haftet, die Freiheit Ihres Urteils beeinflussen könnte. Die Anklage, die auf Unparteilichkeit pocht und auch manchmal den Anschein hatte es zu sein, schien anfangs von dieser Le­gende Abstand zu nehmen, um sie zum Schluß mit ganzer Kraft wieder aufzugreifen und so desto tiefern Eindruck auf Sie zu machen: ich meine dieses Märchen von Lermantes, dem verdächtigen Spekulanten, dem skrupellosen Genuß­menschen, eine Art Industrieritter oder Abenteurer, der dem Vergnügen nachjagt. Meine Herren Geschworenen , ich be­gnüge mich statt jeder Antwort damit, Sie auf die Aussagen hinzuweisen, die Sie von den Mitarbeitern oder Teilhabern Lermantes' gehört haben, Aussagen, die seinen Eigenschaften und seiner Rechtlichkeit huldigen... Der berühmte Schrift­steller Charreire, von Kindheit an mit meinem Mandanten befreundet, schilderte seinen energischen, beharrlichen Fleiß. Und was haben wir denn beobachtet, meine Herren? Einen Menschen wie viele andere, bei dem das Gute sich mit Schlechtem mischte, einen Mann, von dem ich Ihnen nicht sage, daß er in allen Dingen fehlerlos ist, aber ein Mann, durch dessen Arbeit Tausende von Menschen leben konnten, der dem Handel und der Industrie neue Wege zeigte, der der Ausbreitung der Zivilisation und des französischen Geistes diente; ein Mann, dem wir drei Häfen verdanken, Brücken, Leuchttürme, ohne von der Hochbahn zu sprechen, die während der letzten Ausstellung Ihrer aller Freude war. Und ich frage Sie, meine Herren Geschworenen , warum rechten Sie gerade mit ihm, der nur das tat, was viele andere ebenfalls tun, deren Freigebigkeit nicht getadelt wird; Sie machen ihm den Vorwurf, prächtige Gesellschaften ge­geben zu haben, Geld verschwendet zu haben, das er ver­diente, ohne jemand etwas dadurch zu nehmen; im Gegen­teil, er trug nur dazu bei, unser soziales Kapital zu ver­mehren, unser gemeinsames Wohlbehagen, unsere Macht über die Naturkräfte zu steigern. Sein Privatleben hat einige Schwächen aufzuweisen. Ach, meine Herren, wir wollen doch hier die gerechte Strenge, die man solchen Verfehlungen gegenüber hat, nicht bis zum äußersten treiben, hier haben wir über Verbrechen zu Gericht zu sißen, aber nicht über diese kleinen Frrungen. Wir wollen es mutig eingestehen: es gibt eine gewisse leichte Lebensauffassung, die man im Sinne der Moral verdammen fann und muß. Aber es wäre doch besonders gefährlich zu behaupten, daß sie eine Vorbereitung für den Mord, eine Art Kulturboden für die Mordbazillen wäre. Nein, meine Herren Geschworenen , weil er wie so viele gelebt hat, verdient dieser Mann die Donnerteile nicht, mit denen der Herr Staatsanwalt ihn am Schlitz seiner Rede, die übrigens eine glänzende rhe­torische Leistung war, zerschmetterte. Ich wiederhole, daß Lermantes eine Mischung von Gutem und Schlechtem in sich trägt, wie wir alle. Betrachtet man ihn ohne Vorein­genommenheit, mit jenem seelischen Gleichgewicht, das man allen Dingen gegenüber bewahren muß, und beurteilt man ihn nur einfach menschlich, wahrheitsgemäß, dann, meine Herren Geschworenen , ist man versucht. Rousseau zu zitieren, der am Anfang seines herrlichen Buches Les confessions " ausruft: Welcher Mann wäre besser als der dal"... ( Fortiebung folgt.)

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Huf bober See.

Von Max Werner.

In der Nähe der Neufundlandbank wars. Ich stand an der Neeling unseres Dampfers und sah auf die wilde See hinaus. So weit der Blick reichte: stürzende Wogen mit weißen schäumenden Kämmen. Sie schlugen hart an die starren Planken des Schiffs und flatschien an die festverschlossenen runden Fenster. Von Zeit zu Zeit rollte eine besonders hohe Welle über das Vorder- oder Hinterdec des auf- und niedergehenden Dampfers, der trotz des ungestümen Meeres mit voller Kraft dem Westen zu dampfte. Die Passagiere weilten in den Salons oder lagen in ihren Kabinen. Die Eingangstüren zum Zwischended waren verschlossen: die armen eingepferchten Leute mußten bei Sturm und schlechtem Wetter die üble Luft der Zwischendeckräume einatmen und hatten taum genügend Platz, um sich zu sehen.

Ich war nach dem Deck der ersten Klasse gegangen, wo sich bei dem Wetter niemand sehen ließ; sonst war es streng verboten, hier zu weilen. Hier oben stand ich sicher vor dem sprühenden Wasser

und konnte mich nicht fatt sehen an dem gewaltigen Schauspiel, das die erregte See bot.

Aus einer Tür trat mein Freund Henry, der Decksteward, her­aus. Ich hatte ihn unten in einer Mannschaftsstube kennen ge­freundlich behandelt; denn er war ein guter humorvoller Junge, lernt. Er schlief dort und wurde von den älteren Leuten sehr der alles genau berichtete, was in den Kajüten vor sich ging, und dann brachte er gute Leckerbissen von oben" mit, die redlich geteilt wurden. Er stellte sich neben mich, und der Wind zaufte seine vollen blonden Locken.

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Schönes Wetter heute!" lachte er und vergrub die Hände in den Hosentaschen. Wir kommen an die Neufundlandbänke, da gibt es immer Sturm und Wetter. Ist mir ganz lieb; da liegen die Herrschaften in ihren Kojen, und ich kann faulenzen. Na, und in zwei Tagen haben wir New York ." Wenn das Wetter schlimmer wird, kann auch alles in Grund und Boden gehen, ehe wir Dollarifa erreichen", scherzte ich. Ach wo is nich! Solche Prachtkasten wie unsere neuen Schiffe sind so sicher wie ein Omnibus. Schotteneinrichtung, Rettungsboote, Schwimmgürtel-" " Oho", lenkte ich lachend ein. Ich möchte bei dieser See wirklich nicht mit dem Schwimmgürtel da herumtreiben, prrrh." Und dann die Marconi ", fuhr Henry unbeirrt fort; bei dem geringsten Unfall fönnen wir Hilfe herbeirufen."

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Um die Ecke kam der erste Bootsmann; er mußte sich fest gegen den Wind stemmen, der ihm entgegenfauchte.

" Festhalten, Bootsmann", rief thm Henry spöttelnd zu. " Mach, daß Du reinkommst, und bring Deinen seekranken Passagieren faure Heringe, Heinrich!" brummte der alte Boots­mann. Henry, Henry bitte", lachte der Blondkopf und verschwand. seinen amerikanischen Passagieren beliebt machen und nennt Der Alte lachte hinter ihm her." Der Grünschnabel will fich sich Henry."

bei

Es ist ein lieber Kerl", sagte ich.

" Ist er", bestätigte der Bootsmann. Teufel noch mal, wenn ich seine blonden Locken sehe, dann ist es mir immer, als wäre der andere wieder dem Wasser entstiegen."

Er schwieg und blickte eine kurze Weile in das Meer hinaus. Er war ein kräftiger, schon ergrauter Seemann , den ich in einem überfüllten Lokal in Hamburg kennen gelernt hatte. zusteuerten, um zum Abendessen zu gehen. " Wen meinen Sie?" fragte ich, als wir langsam der Treppe zusteuerten, um zum Abendessen zu gehen.

,, Es war auch ein wilder Tag damals und wir auf einem fleinen Dampfer. Du lieber Himmel, das nennt man Seefahren, auf einem Staften mit 2000 bis 3000 Menschen, den der Sturm erst nach längerer Zeit ins Schwanken bringt! Denken Sie sich einen kleinen Dampfer mit 20 Mann Besabung und tagelang einen heftigen Sturm, dann bekommen Sie erst einen Begriff, was für ein Ungeheuer das Meer ist!"

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Der Alte erinnerte sich also eines schweren Tages aus seinem Leben, und ich beeilte mich, nach dem Abendessen in seine Kammer au gehen und ihn zu bitten, mir von dem Angedeuteten zu erzählen. Wir stopften unsere kurzen Pfeifen mit gutem Tabat, und während das Schiff schwankte und stöhnte und das Klatschen und Sprißen der Wellen zu uns hereintönte, erzählte der Alte.

Wir fuhren von Hongkong ab, bei bestem Wetter mit voller Ladung und waren lauter gesunde, stramme Bengels. Zwei Tage berliefen glatt, am dritten befamen wir Regen und einen feinen Wind, der uns scharf um die Nase fuhr und uns nichts Gutes ahnen ließ. Während der Nacht wurde es toller, und bei Morgengrauen gingen die Wellen schon über unseren Kahn. Das ist so ein gott­verfluchter Taifun", schimpfte der Kapitän, den uns die Chinesen nachgeschickt haben. Wacht euch auf einen derben Kampf gefaßt, Jungens." Und es wurde ein wilder Tanz."

Der Alte nahm einen fräftigen Schluck aus der Flasche, dann erzählte er weiter:

" Köm, haben wir damals auch feste getrunken. Sauft, Jungens", sagte der Kapitän, was soll das gute Zeug ins Wasser fallen." Er glaubte nicht, daß wir jemals wieder Land sehen würden. Der Kasten ging nicht nur auf und nieder, er drehte sich auch wie ein Kreisel. Vom frühen Morgen an hatten wir einen Leidens­gefährten, einen englischen Dampfer, der nicht weit von uns den­selben Kampf kämpfte wie wir. Auf den hatte ich immer einmal hinübergeschielt, es war etwas wie Schadenfreude: Wenn wir untergehen, mußt Du auch mit."

Der Alte lächelte und rieb sich die derben Hände an seinen Hosen. Dann wurde er plößlich ernst.

In meiner Koje saß der Schiffsjunge und hielt den Kopf in den Händen, als ich einmal hinunterfam, um mir einen frischen Prim zu holen. Na, Du denkst wohl an Muttern", fauchte ich den Jungen an. Da heult der auf wie ein getretener Hund." Na nu", sag ich, bist Du toll?"" Der Jakob ist über Bord", brüllt der Junge und reißt mit den Händen in seinen blonden Haaren."

Um die Mundwinkel des harten Seemanns zudte es. " Der Jakob, das war mein Spezi, ein allerliebster Kerl. Ich war viele Jahre mit ihm gefahren. Wir waren zusammen in Hamburg herumgebummelt und hatten manche lustige Nacht mit­einander verlebt. Ein lustiger Kerl, ein vortrefflicher Kamerad. Den hatte die See mit hinabgenommen, als er ein losgeschlagenes Stück der Reeling wieder befestigen wollte. Der Junge war in