Anterhaltungsblatt des Vorwärts
Nr. 139.
Sonnabend, den 19. Juli
44] Das entfeffelte Schickfal.
Jetzt sollte Mortara seine Meinung fagen. Nie hatte der brave Künstler vor einem Zuhörerkreis gesprochen, er fühlte sich sehr eingeschüchtert. Aber er dachte anders wie Durnant und Pillon und hätte es sehr peinlich empfunden, in einem so ernsten Prozeß einfach einen Bettel abzugeben, ohne vorher seine Meinung zu erklären. Dazu trieb ihn weniger seine Stellung als Obmann als das Gefühl menschlicher Solidarität und sozialer Pflicht. Seine Phantasie malte ihm in martigen Strichen die Qual des zugrunde gerichteten Unschuldigen, der durch die falsche Anschuldigung leiden mußte. Eine irregeleitete Justiz hezte ihn zu Tode, eine Justiz, deren entfesselten Kräften er machtlos wie einer Feuersbrunst, einer Lawine, einer Ueberschwemmung gegenüberstand. Mit heißem Kopf, eiskalten Händen, erstidter Stimme, konnte er faum seiner Erregung Herr werden, und sagte in abgerissen einfachen Worten, was in ihm vorging:
1913
mal nicht anders!... Wenn Sie mir etwas zeigen und ich es gut gesehen habe, sage ich: So ist und so ist es!... Deshalb möchte ich, daß wir Lermantes freisprechen.. ДБ er gut oder schlecht ist, rechtschaffen oder unredlich, das weiß ich nicht, und das geht uns nichts an.. Man fragt uns: hat er absichtlich den General getötet? Ich glaube es nicht und deshalb antwortete ich mit" nein"!
Durnant, Conthey , Pillon, Buthier stimmten durch Gesten und Worte zu:
,, Gut so, sehr gut
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Glary blieb undurchdringlich, Klösterli brummig und der Oberst finster. Mit wahrer Herzensangst sagte sich Mortara:„ Wir sind nur fünft!!..
„ Das ist ein wahres Plädoyer," meinte Condemine in gekniffenem Ton, aber was Ihre Argumente betrifft, gestatten Sie mir, Ihnen zu sagen, sie beruhen alle auf der Gefühlsbasis. Man könnte sie für die meisten Mörder an wenden, die der famosen Regel folgen:„ Nie gestehen"- ein Beweis, daß sie immer gut ist."
" Die verbürgte Straflosigkeit," murmelte Mijour. ,, Sie haben ausgezeichnete Augen, Ihre schönen Bilder beweisen es. Die Augen sind ein herrliches Organ, aber sie genügen nicht immer. Es gibt Dinge, die ihnen entgehen." " Sehr selten," meinte Mortara.
In unserem Prozeß... er gehört uns ein wenig, nicht wahr?... sind eben mehrere, bei denen es schwer ist, fie festzustellen. Wir wollen noch einmal zurückgehen: Primo: der General ist durch eine Kugel getötet worden, die ihn mitten ins Herz traf. Sekundo: Lermantes hatte diese Kugel abgeschossen. Tertio: derselbe Lermantes ist derjenige, dem der Getötete sein ganzes Vermögen vermacht hat, und Quarto: er befand sich gerade in den größten pekuniären Schwierigfeiten!... Wollen Sie erklären, daß hier nur ein einfacher Bufall bei diesem merkwürdigen Zusammentreffen gewaltet hat?... O, wir können nicht mit unseren Augen erkennen, ob Lermantes schuldig ist, ich gebe es zu. Aber ist das Ge hirn nicht auch ein Organ?... Und meines arbeitet sehr klar!"
Als ich hierher fam, wußte ich kein Wort von dem Prozeß... Ich lese wenig Zeitungen; so lange es hell ist, male ich... Und offen gestanden, war es mir nicht sehr angenehm, gestört zu werden. Aber ich habe mir fein Wort entgehen lassen. Ich habe die Augen offen gehalten und abends nach dem Essen dachte ich über das Gehörte nach. Und ,, Und da die Augen anständig denkender Menschen wirklich, ich bin überzeugt, daß Lermantes unschuldig ist... das Labyrinth verbrecherischer Seelen nicht durchschauen, Es würde mir Mühe machen, Ihnen dafür eine Erklärung zu denn es gibt Seelen... Wir wollen uns lieber an Tatgeben. Alles, was sich bei der Verhandlung abspielte, gab sachen halten, das ist meine Methode und ich halte sie für mir diesen Gedanken Gegenwärtig bin ich so davon gut. Tatsachen sind eben Tatsachen, was man auch dagegen fagt! durchdrungen, daß ich nicht mehr ruhig schlafen könnte, wenn wir ihn verurteilten... Ich bin durchaus nicht nachsichtig. Wenn die Leute sagen, daß die Verbrecher nur Kranke sind, für ihre Verbrechen nicht verantwortlich und noch mehr solchen Unsinn, macht mir das keinen Eindruck! Nein, nein, man muß die, welche man ertappt, strafen und sie nicht loslassen, wenn man sie hat! Aber man muß sich um Gottes willen auch nicht irren!... Schneidet man Mördern den Kopf ab, bin ich sehr einverstanden; sie haben nur den Lohn, den sie verdienen... Aber die Unschuldigen soll man zufrieden lassen. O, ich sage nicht, daß dieser Lermantes absolut vornehm ist... Alle diese Spekulanten sind schmierige Kunden, wie man zu sagen pflegt, und es ist besser, arm wie eine Kirchenmaus zu sein, als auf diese Weise Geld zu berdienen!... Aber das ist eine andere Frage Er hat schreckliches Pech gehabt, gar nichts anderes! Es ist ein Un- bei. glück, vor dem man bis ins innerste Mark erschauern muß, weil man weiß, daß es jedem passieren kann!... Donnerwetter! Sie säubern Ihre Flinte und plaudern mit die einem Freund oder puzen Ihren Revolver, während Sie mit Ihren Kindern spielen... Brr... Das kommt alle Tage vor... Solch ein Unfall liegt auch dem Prozeß Lermantes zugrunde. Der Prozeß Lermantes!... gutes Futter für die Beitungen... Dieser arme Kerl glaubt nach dem Damhirsch zu schießen und trifft den General... Dazu war der General noch sein Vater.. Ich habe mir Lermantes genau angesehen, als die alte Frau das alles auspackte Er spielte nicht Komödie... Ich versichere Ihnen, daß man seine Seele vor sich sah."
Condemine lächelte höhnisch, wie immer, wenn man finnloses Beug" vorbrachte.
Mijour, Souzier, Klösterli, Mouchebise pflichteten ihm Glary rührte sich nicht. Der Oberst hüstelte. Mijour sagte:
,, Wenn man nur diejenigen Mörder verurteilen wollte, man auf frischer Tat ertappt, dann würden sie alle entwischen..
"
Souzier erklärte, daß das Zusammentreffen so vieler Umstände entscheidend wäre. Buthier meinte, daß nichts einen greifbaren, sichtbaren Beweis ersebe; Durnant, daß der Zufall die Ereignisse häufig auf die merkwürdigste Art vereinige; Mijour, daß die Mörder geschickter als der Zufall wären. Die Diskussion wurde lebhafter. Von Zeit zu Zeit erinnerte einer der Geschworenen an eine vergessene Einzelheit oder stellte eine neue Frage, welche plötzlich den Stand der Wage änderte.
,, Sind nur Damhirsche im Walde von St. Germain?" fragte Klösterli.
sch habe nie welche gesehen," rief Condemine. Warum nicht Kamele," grinste Souzier.
Durnant mußte daran erinnern, daß weder Jäger noch Aufseher die Anwesenheit des Rudels bestritten hätten und versicherte, daß er selbst 1897 einen prächtigen Damhirsch erlegt hätte, und der wog.
" Ja, man sah seine Seele!... Sie wissen doch, was ich darunter verstehe! Ob es eine Seele gibt oder nicht, das weiß ich nicht, denn ich bin kein Theologe... Aber es gibt Dinge, die sich in dem Innern der Leute abspielen, und sich unseren Bliden flar zeigen, wie diese Tinte oder dieses Papierstück!... Nun, ich habe deutlich gesehen, daß dieser Unglüdliche von all dem keine Ahnung hatte, und daß er ,, mit Rugeln geschossen," unterbrach Souzier unüberhaupt niemals an dieses Testament gedacht hatte, und daß er wirklich nach einem Damhirsch zu schießen glaubte!... Ja, mit Kugeln in vierzig Meter Entfernung! Ich habe es gesehen, wie ich Sie neben mir sehe, Herr Conde- Condemine beharrte darauf, daß es unwahrscheinlich mine, und wie ich sehe, daß Sie nicht meiner Ansicht sei, daß der General schon im Gebüsch getroffen worden find!... Und niemand hat mir das Gegenteil bewiesen, wäre. Ein Mensch könne nicht weiter gehen, wenn eine Kugel weder das Verhör des Präsidenten noch die Rede des Staats- ihn ins Herz getroffen hat. Mit Bornesfalten auf der anwalts. Ich vertraue eben meinen Augen! Es ist nun Stirn erwiderte der Oberst, daß sich in dieser Beziehung
zufrieden.