684— Verheirateten, die mit ihren Frauen zusammenwohnen, haben rieben dem„Speisesaal" unter unserem Schlafraum ihre Woh- nungen. Der Raum ist genau so gros; wie der unsere oben; nur ist er durch Bretterwände in sechs Zellen eingeteilt. Jeder der fünf Verheirateten bewohnt mit seiner Frau eine Zelle. Die sechste Zelle ist unbewohnt, wird aber von den fünf Paaren als Vorrats- tammer verwendet. Die Mädchen und Frauen, die allein sind, haben einen ahn- Uchen Raum wie der unsere. Er grenzt an den unseren, hat seinen Eingang aber von der Treppe aus. die neben der Küche nach oben führt. Bei der Alten hole ich mir die Wolldecke, denn ich bin müde und will schlafen gehen. Ich bekomme auch eine. Aber was für etnel Geflickt wie eine alte Regimcntsfahne und immer noch zcr- rissen; dazu ist sie noch klebrig und schmutzig, daß ich sie nur mit Widerwillen anfasse. lind einem plötzlichen Einfall folgend, laste ich mir noch zwei Schachteln Zigaretten geben. Die sollen den Kon- takt zwischen mir und den Leuten herstellen. Oben sitzen sie in Gruppen auf den Pritschen und plaudern. Dort putzt einer seine Stiefel von Lehm rein und fettet sie ein, ein anderer schnitzt an einem Gabelstiel herum, den er„an- machen" will. Ich trete zur nächsten Gruppe hin und nehme umständlich eine Zigarette aus der Schachtel, um die Leute aufmerksam zu machen. Denn ich weist von früher her, dast sie leidenschaftliche Zigaretten- raucher und auf Zigaretten versessen sind wie der Teufel auf eine Seele. Meine Absicht gelingt mir auch. Mit verlangenden Blicken lugen sie nach den Zigaretten. Ich benutze die günstige Gelegenheit und frage auf Polnisch : „CKeete papyrosi?"(Wollt Ihr Zigaretten?) Verdutzte Gesichter einen Augenblick lang. Dann ein freudiges: „?z>a krevl On umi po polskil"(Hundeblut l Er kann polnisch!) Natürlich wollte ein jeder Zigaretten haben, und bald hatte ich sie auch alle verteilt. Und nun begann ein Ausfragen: woher, wohin, ob ich schon mit Polen zusammengearbeitet habe und wo. WaS ich in der Stadt verdient hätte? 28 M. jede Woche. Sie machten grohc Augen und meinten, das sei sehr viel. Na. was verdient Ihr denn? 13,20 M. in einer Woche. Doch da dürfe es nicht regnen, voll müsse sie sein. Also denselben Lohn wie ich. Aber nach drei Wochen gibt es blost noch 1,7l> M. Ja, warum denn? Weil dann die Ernte vorbei ist. So. Wie lange arbeitet Ihr jetzt? Von früh um 5 Uhr bis abends um sieben. DaS Bürschchen, um den der Krach vorhin war, meint: Und ich habe eine Mark auf den Tag. Wie alt bist Du? 18 Fahre. Dort, das ist mein Bruder, der ist 14 gewesen. Der kriegt 88 Pf. Mit Kost, natürlich? Nein, ohne Kost. Die kostet 88 Pf. Bist Du allein mit Deinem Bruder hier oder sind Deine Eltern noch mit? Nein. Mein Vater ist krank. Er must zu Hause bleiben. Und Mutter hat Arbeit zu Hause. Wir haben ein kleines Haus und zwei Morgen Feld. Eine Kuh auch? Nein, blost zwei Ziegen und ein Schwein. Gefällt es Euch so allein? Wir haben unsere Tante und den Onkel mit. Von unten aus dem Speisesaal erschallt die Stimme des Vorschnittcrs: „Ludie, ludiel"(Leute, Leute!) Eilig gehen alle nach unten. Ich gehe mit. Rasch füllt sich der Raum wieder mit den Menschen, und der Vorschnitter verteilt die Arbeit für den kommenden Tag. Die Mehrzahl der Leute, etwa 88, müssen morgen Gerste auf den Feldern wenden, damit die Körner nicht anfangen zu keimen. Zehn Mann, fünf Schnitter und fünf Abraffer, sollen den Weizen im Schlag VI rings am Rande ab- mähen, damit der Selbstbinder dann anfangen kann mit Mähen. Denn ehe die Mähmaschine in Tätigkeit treten kann, must so viel mit der Sense abgemäht werden, dast die Maschine und die Pferde, die sie ziehen, neben dem noch stehenden Getreide vor- über können. In der Regel must dieser Rand zwei Meter breit sein. Die Schneidemesser laufen im Getreide. Bei dieser Kolonne von zehn Mann war auch ich. Ich sollte abraffen. Nach und nach wurde es wieder leer unten. Ich ging mit den anderen hinauf. Ihr Gespräch drehte sich um die Arbeit, die für morgen aufgetragen war. Drüben pochten die Mädchen an die Wand, die unseren Schlaf- räum von dem ihren trennte. Zjarum, konnte ich nicht erfahren. Und nun flog eine Menge zwei- und eindeutiger Redensarten hin- über und herüber, denn die Mauer war nur dünn, so dast man jede» laut gesprochene Wort auf der anderen Seite hören konnte. Einige meiner Gefährten fingen an, Zoten zu singen, und der Moni warf sein mildes Licht durch die Fenster herein. Vom nahen Kirchlein schlug die Uhr zehn. Einer nach dem anderen warf sich angekleidet wie er war auf seinen Strohsack. Nur die wenigsten zogen ihr Schuhwerk von den Füsten. Nun lagen sie schon alle. Ich aber fast noch immer aufrecht auf meinem Strohsack und zögerte. Mir ekelte vor diesem Lager, das vor Schmutz starrte. Um diesen Augenblick möglichst weit hinauszuschieben, brannte ich mir eine Zigarette an der anderen an, bis ich bei der letzten angelangt war. So must es den armen Seelen zumute sein, dachte ich, wenn die Geschichte von der Seelenwanderung keine leere Fabel ist. Noch ein letzter Zug aus der Zigarette, dann warf ich den Stummel durchs Fenster hinaus, zog die Schuhe aus und lvarf mich angekleidet, so wie die anderen, aufs Lager. Dabei hielt ich den?ltem an wie einer, der sich ins Wasser stürzt. Die 5tirchturmuhr kündete bereits die elfte Stunde. (Fortsetzung folgt.) kleines Feuilleton- Naturkunde. Können die Nervenzellen autzerhalb des Or- ganismus leben? Der Nachtveis, dast die Zellen und Gewebe höherer Organismen, von diesen künstlich getrennt, noch auf lange Zeit hinaus lebens- und vermehrungsfähig sind, ist eine der glänzendsten Leistungen unseres an hervorragenden Errungen- schaften wahrlich nicht armen Zeitalters. Ja, es hat nach den Ver- suchen von Harrison, Loeb, Burrows, Lewis, Lambert und be- sonders Carrel sogar den Anschein, als ob das Muskel- und Binde- gewebe des tierischen Körpers gewissermasten unsterblich ist. Wenn man ihnen Sauerstoff und andere unbedingt notwendige Nähr- stoffe zuführt, die Zerfallsprodukte dagegen entfernt, so gedeihen sie unter der Normaltemperatur außerhalb des Organismus auf das beste, üben ihre Funktionen aus und vermehren sich. Gewiß sterben die einzelnen allmählich ab. Aber sie erzeugen fortwährend neue und kommen durch diese immer wieder zum neuen Leben. Die Versuche der genannten Forscher erstreckten sich indes auf Zellen von verhältnismäßig niederem Bau. Nun gilt es zu er- forschen, ob auch die höchst organisierten Zellen, die Nervenzellen, denen die Funktionen des geistigen Lebens obliegen, außerhalb des Organismus kultiviert werden können. Eine ganze Reihe von ungeahnten Perspektiven knüpft sich an diese Frage. Kann die Menschheit hoffen, dast es ihr jemals gelingen wird, das Organ ihrer höchsten Funktionen am Leben zu erhalten und künstlich zu erzeugen? Der berühmte spanische Physiologe, der Nobelpreis - träger Don Santiago Ramon y Cajal , gibt auf diese Frage ein entschiedenes Nein. In seinem auf der 4. Jahresversammlung der spanischen Gesellschaft für den Fortschritt der Wissenschaften kürzlich gehaltenen Vortrage schilderte er die Ergebnisse der Ver- suche, die Ncrvensubstanz außerhalb des Organismus leben zu lasse». Die Versuche schlugen fehl: nach zwei bis höchstens neun Tagen waren die Nervenzellen tot. Und es besteht keine Aussicht, diese enge Zeitgrenze wesentlich hinauszuschieben. Warum? Weil die Nervenzellen überhaupt unfähig sind, die Nachkommenschaft zu erzeugen. Innerhalb wie austerhalb des Organismus bleiben sie auf Lebenszeit rein und ansschlietzlich an ihre Funktionen ge- bunden. „Sie werden mit uns geboren," sagt der berühmte Gelehrte, und sterben auch mit uns ab. Nicht ohne Grund sagt man, daß der Mensch nichts anderes ist als das Gehirn, bedient durch die Organe des Körpers. Daraus folgt, daß wir der Hoffnung, die Nervenzellen zu vermehren, entsagen müssen, wie auch dem ehr- geizigen Streben, das menschliche Gehirn ganz oder teilweise leben zu lassen, indem wir es in unseren Retorten einschließen und es unversehrt und lebensfähig auch nach dem Tode des einzelnen auf- bewahren. Und wenn auch die Wissenschaft, die doch schließlich vieles von dem erreichte, was zunächst für eine augenfällige Un- Möglichkeit galt, es je so tveit bringen würde, auch dieses ver- bluffende Wunder zu vollbringen— was für einen Zweck könnte wohl die Erhaltung des Gehirns eines Newton oder eines Pasteur in einer Glaswanne haben? Würde es auch das mindeste denken können? Getrennt von den Muskeln, den ausführenden Organen des Gehirns, abgeschnitten von den Sinnwerkzeugcn, den Pforten für die Eindrücke der Außenwelt, entblößt von allen Anregungen seitens der Organe, worin doch die Wurzeln des Gefühls und der bewußten Aktivität liegen, würde die Existenz dieser armen, ein- samen Nervenzellen auf das Niveau des Fortvegetierens herab- sinken und geistig ebenso arm sein wie die einer ganz groben Haut- oder Bindegewebezelle. Und sollten einmal— durch irgendeine un- glaubliche Heldentat der experimentellen Technik— diesen ver- waisten Zellen die wunderbar chemisch oder mechanisch imitierten Reize des Gedankens oder des Gefühls auch wirklich übermittelt werden— welch eine ungeheure Quall Der Schmerz— und keine Möglichkeit zu schreien und zu weinen! Der Wunsch und keine Hoffnung auf seine Erfüllung! Der Gedanke ohne Wort! Dante selbst könnte nicht eine solche Höllentortur erfinden!" «erantw. Redakteur: Alfred Wielepp, Neukölln.— Druck u. Verlag: Vorwärts Buchdruckerei u.VerlagsanstallPaul Singer L-Co..BerlinL�.
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30 (3.9.1913) 171
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