Anterhaltungsblatt des Vorwärts
Nr. 177.
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Ein Mann.
Donnerstag, den 11. September.
Und um ihn herum bleichten die Gelände, ohne daß er des nahenden Tages inne wurde. Noch immer lag er auf der Erde, das Haupt auf die Hände gestützt und mit stumpfen Blicken auf die Fensterscheiben starrend, wo sich jetzt statt des zarten Mondenscheines das rosige Tageslicht spiegelte.
Nun wurde das Hoftor geöffnet; dieses Geräusch riß ihn aus seiner Betäubung auf. Wie gehezt lief er davon und irrte den ganzen Tag im Forste umher, eine Beute blutrünstiger Gedanken. Bei Anbruch der Nacht fehrte er an feinen früheren Lauerposten zurück, bemüht, mit seinen wilden Blicken die Fensterscheiben zu durchbohren.
Ab und zu verließ er sein Versted und näherte sich dem Hause, die Höhe der Fenster zu prüfen. Es war eine geheime Macht, die ihn vorwärtstrieb: er fühlte sich mit aller Gewalt zu dem jenseits der Wand ruhenden Körper hingezogen.
Neben dem Gitter des Obstgartens lag ein Stoß frisch gefällter Baumstämme, darunter einige von ansehnlicher Höhe. Er wählte den stärksten aus und lehnte ihn an die Hauswand; allein seine Hände zitterten; er befand sich nicht in der richtigen Verfassung für ein Wagestück.
Die Spitze des Baumstammes berührte das Giebeldach. Seine Arme um ihn schlingend, begann er hinaufzuklettern; doch der Baum fnidte ein, und er fiel zu Boden. Er, der sonst so tapfer war, er fühlte sich jetzt von feiger Furcht erfaßt; wie gejagt rannte er in den Wald in der Meinung, verfolgt zu werden. Ueber dem Forste toste ein Gewittersturm wie ein brausendes Meer. Die untersten Aeste beugten sich bis zum Boden herab und peitschten ihm ins Gesicht. Er sah die gigantischen Massen des hohen Waldes vor sich schwanken. Bisweilen riß ein Wirbelwind alle Zweige empor, daß sie sich mit ihren zausigen Laubmähnen hoch aufbäumten. Und unaufhörlich grollte der sausende Sturm, sang zu dem Knirschen der Wipfel im tiefften Baß, bald schwächer, bald wieder stärker anschwellend, bis alle anderen Geräusche der Sturmesnacht in seinem Getöse untergingen. Bis zum Morgen irrte er in diesem Grauen des Forstes. Der Aufruhr der Natur, die ebenso zerwühlt schien wie er, tat ihm wohl und linderte seine eigenen Schmerzen. Allmählich legte sich der Sturm, dafür aber stürzten Regengüsse hernieder. Und diese währten zwei Tage.
Cachaprès verließ den Wald und zog sich ins Dorf zurück. Er besaß nicht mehr als einen halben Taler. Das langte gerade, um sich für einen Nachmittag mit Branntwein Bergessenheit zu erkaufen. Der gepfefferte Schnaps brannte in seinen Adern; er schmachtete nach üppigen Gelagen. Aber das Geld!
Da mußte wieder eine gewohnte Hilfsquelle, der Wald, herhalten. Acht Meilen wanderte er durch Dornen und Ginstergestrüpp, brach in die abgegrenzten Jagdgebiete ein und begann wieder sei rohes Mordgewerbe, für das ihn die Natur eigens geschaffen zu haben schien. Er fing zwei Rehe mit der Schlinge ein, brachte ein drittes mit einem Schuß zur Strede, veranstaltete unter den Kaninchen ein Blutbad, mordete und wilderte, wo er nur fonnte. Er hatte rechtzeitig Sorge getragen, daß die Händler benachrichtigt würden, und so gelangte das Wild unbemerkt von den Gendarmen in die Stadt. Abends fand er sich mit wohlgefülltem Beutel in den Schenken ein, bezahlte mit großartigen Gebärden eine Flasche nach der anderen, und gab sich alle erdenkliche Mühe, den Bauern durch sein Benehmen zu imponieren. Bier, Wein und Schnaps verschafften ihm Erleichterung: bei Alkohol und Geschwäß mußte sein Kummer schweigen. Disweilen schlug er im Rausche alles furz und klein und zahlte dann ohne zu murren, sich in seinem törichten Vagabundenstolz an solchen Späßen ergößend. Er gab laut seine Verachtung gegen die Kanaillen, die Forsthüter, fund, troz aller Gendarmen seine Abenteuer erzählend. Das Haupt in den Nacken geworfen, stand er aller Vorsicht zum Hohne bei den Tischen und verblüffte die Bauern durch seine bra marbasierenden Reden. Er rauchte schwere Bigarren, warf mit vollen Händen Geld unter die Dirnen, denen er mit
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Vorliebe den Busen zu entblößen pflegte, um sie dann spottend stehen zu lassen, von Ekel erfaßt gegen alles, was Liebe hieß.
Diese Ausschweifungen betäubten ihn zwar, allein sie vermochten ihn nicht gänzlich zu berauschen. Manches Mal sogar versette ihn das Bier in eine noch wildere Verzweif lung. Dann saß er, den Kopf in die Hände vergraben, in irgendeinem Winkel der Wirtsstube und wühlte in trüben Erinnerungen. Das Leben war ihm widerwärtig geworden: er wünschte sich, daß sein Kadaver schon am Rande einer Lichtung verweste; und mit geballten Fäusten schlug er in die Luft. Mit Verwunderung sahen die Bauern den Riesen so heftig leiden. Als eines Abends jemand den unglücklichen Einfall hatte, ihn gutmütig zu neden, begann er zu rasen. Es kam zu einem heftigen Wortgefecht, das sicherlich in eine Schlägerei ausgeartet wäre, hätten ihm die anderen Bauern nicht rechtzeitig den Spötter aus den Händen gerissen. So beschränkte er sich darauf, achselzuckend zu erklären, daß er der ganzen Bande die Rippen zerbrechen könnte, wenn er bloß wollte. Man ließ ihn ruhig reden.
Er spielte; die Aufregung von Gewinn und Verlust tat ihm wohl. Zu allem und jedem var er bereit, was seinen inneren Wunden Linderung brachte. Er ging die törichsten Wetten ein und brüstete sich mit seinen Kräften. Einmal wettete er, mit einem Sad Kartoffeln unter jedem Arm vor allen Leuten zu tanzen. Und er gewann die Wette. Ein andermal wettete er, einen halben Liter Bier auf einen Bug zu trinken und das zehnmal nacheinander zu wiederholen; und abermals gewann er die Wette.
Die Mittel zu diesem verschwenderischen, unsinnigen Er Leben flossen ihm von dem täglich erlegten Wilde zu. nanute den Wald sein„ Kapital", von dem ihm seine Einkünfte kamen, und verhöhnte und verspottete die anderen Wilddiebe, die, weniger verwegen als er, in beständiger Angst vor den Gendarmen lebten. Nie war er kühner gewesen als jetzt. Er verabschiedete sich von den Wirtshausgästen, indem er ankündigte, er gehe jetzt Schlingen auslegen, und schlug demonstrativ den Weg nach dem Walde ein.
Der Forstauffeher dieses Reviers, ein betagter Mann, den die Gicht plagte, hatte sich anfangs ganz allein an die Verfolgung des Spißbuben gemacht; aber ebensogut hätte man eine Schildkröte einem Eichhörnchen nachsenden können. Da meldete er der Forstverwaltung, daß Cachaprès die Wälder verheere und erhielt daraufhin zwei Gendarmen zur Unterstüßung. Nun waren ihm alle drei auf den Fersen, fundschafteten auch, wenn nötig, in den Schenken, in denen er sich herumtrieb. Da und dort tauchte eine fremde Gestalt auf, die sich mit geheimnisvoller Miene an einem Nebentische niederließ, scheinbar ohne auf seine Prahlereien zu hören. Dann entfernte sie sich wieder und erzählte das Erlauschte den Gendarmen. Später sahen ihn diese pfeifend, mit seinem federnden Gang vorübergehen und in aller Seelenruhe im Walde verschwinden.
Eines Abends beobachteten sie ihn im Dickicht, wie er fich eben mit einer unverkennbaren Gebärde bückte, eine Schlinge zu legen. Hinter einem Busch warteten die drei zusammengeduckt, bis er fertig war. Er erhob sich, ging eine furze Strecke und bückte sich neuerdings mit derselben Bewegung wie früher. Auf diese Weise führte er sie zwei Stunden lang spazieren, seine Schlingen so unbekümmert auslegend wie nur jemand, der sich unterm Schutze des Dickichts völlig in Sicherheit fühlt.
Die Nacht brach an. Er verschwand in der Finsternis. Diesmal waren die Gendarmen ihrer Sache sicher. Jeder von ihnen stellte sich an einem anderen Posten auf, in der festen Ueberzeugung, der Bursche würde mit Tagesanbruch nach seinen Schlingen sehen. Der Morgen fam: Cachaprès nicht. Da schlich sich einer zum anderen hin, und sie mußten sich kleinlaut gestehen, daß sie genasführt worden seien. Während sie ihm in der eisigen Morgenluft halb erfroren aufgelauert hatten, war er gemächlich zu den Schlingen geschlüpft, die er eine halbe Meile weiter ausgelegt hatte.
Nun begannen die Gendarmen zu wüten. Sie be riefen Forstgehilfen zu ihrer Verstärkung und veranstalteten Tag und Nacht Streifungen im Walde