Anterhaltungsblatt des Vorwärts

Nr. 181.

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Ein Mann.

Mittwoch, den 17. September.

Von Camille Remonnier.

Ueber die Ebene wölbte sich in unendlicher Ausdehnung das silberschimmernde Firmament, mit glibernden Sternchen über und über besät. Unter dem milden Mondenscheine glichen die weiten Felder dem ruhigen Spiegel eines schlummernden Sees. In der Ferne, weit hinter dem lang­gestreckten Gehölz, sah er den Giebel eines Schieferdaches blinken. Da fühlte er sich von einer solch heftigen Erregung gepackt, daß ihm fast die Sinne bergingen; er setzte fich nieder, Den starren Blick unverwandt auf die Dächer des Gehöftes gerichtet. Wilde Hammerschläge arbeiteten in seiner Brust. Es überkam ihn wie eine Offenbarung, daß sein ganzes Lebensglück nur dort, unter jenem Dache ruhe. Germaine sehen, die Nacht bei ihr sein, sie in den Armen halten wie in der guten, früheren Zeitwas scherte ihn dann noch alles andere auf der Welt, Gendarmen, Flinten, der Tod?

Uebrigens war die Kugel, die ihn treffen sollte, noch nicht gegossen: er hatte noch manchen Pfeil in seinem Köcher. Und als ihm einfiel, wie er seit vierzehn Tagen die Meute feiner Verfolger irreführte, mußte er laut in die Nacht hinauslachen.

Er erhob sich. Ihn trieb jezt die Ungeduld zu ihr. Um diese Stunde schlief alles im Pachthofe. Das war der günstigste Moment. Er erinnerte sich, eine Reiter im Obst­garten gesehen zu haben; die würde er behutsam an die Mauer lehnen, zu ihrem Fenster hinaufsteigen und an die Scheibe trommeln. Sie würde ahnen, wer es sei; er würde ihr ein Zeichen machen, sich still zu verhalten; dann ein Sprung ein Auß auf ihre roten Lippen die heiße Um­schlingung ihrer Arme und das Beisammensein bis zum dämmernden Morgen!

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Blöblich tauchte in der Ebene eine dunkle Masse auf. Von dem Flußpfad her, der ein Kornfeld umfäumte, tamen einige Männer auf das Gehölz zu. Cachaprès fonnte von seinem Standpunkte aus die emporragenden Köpfe gewahren, ohne jedoch ihre Gestalten zu unterscheiden, die durch die hohen Nehren   verdeckt wurden. Da weiteten sich seine Pupillen, und er bemühte sich, sie zu zählen.

Je näher sie heranrückten, desto schärfer umrissen wur­den ihre Gestalten. Es waren vier Mann. Einer von ihnen trug eine Rappe mit funkelnden Tressen, alle vier waren mit Teinenen Blusen bekleidet.. Als sie endlich vom Felde ab­bogen und in ganzer Gestalt sichtbar wurden, erkannte er bier junge, stämmige, wohlgebaute Forstwächter. Hinter ihren Schultern blitten Gewehrläufe auf. Sollte er entdeckt sein? Oder war man auf den Einfall gekommen, ihn in der Nähe des Pachthofes abzufangen? Unmöglich! Die einzige, die seine Absichten kannte, war die Cougnole, und auf diese konnte er sich verlassen; die Alte würde ihn nicht verraten. Bah! Es würde sich ja zeigen! Vier Forstwächter schredten ihn nicht; auch nicht fünf oder sechs; er hatte sich sein wunder­bares Selbstvertrauen bewahrt. Während sich die Truppe dem Walde zuwandte, stahl er sich durchs Getreide, den Ober­förper bis zur Erde geduct, nur den Kopf bisweilen er­hebend, um Ausschau zu halten.

Die Patrouille hatte sich entfernt. In dem bläulichen Dunst konnte er noch die hinter den Bäumen verschwindenden Gestalten sehen, bis sie sich allmählich im Dunkel des tiefen Waldes verloren. Anscheinend sollte das Gehölz wie bei einer Treibjagd umzingelt werden, wobei der Pachthof und seine benachbarte Umgebung besonders scharf beobachtet wurden. Er zerteilte die Wogen des Getreides, indem er mit seinen weit ausgebreiteten Armen mächtig ausgreifende Schwimm­bewegungen machte. Die Entfernung vor ihm verringerte sich, aus der schwarzen Nacht wuchs der massive Block des Gehöftes empor.

Da ließ ihn ein neuerliches Geräusch innehalten. Er hob seinen Kopf über die Aehren empor. Am Ende der Ebene lief rechter Hand, an einem Teiche vorbei, eine pappel­umsäumte Chaussee. Von dort her fam das Geräusch, der rhythmische, taktmäßige Schritt einer marschierenden Truppe. Der dichte Schatten der Pappelallee entzog sie noch seinen

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Blicken. An den Stellen, wo ein fahler Mondenstreif das düstere Dunkel der Straße unterbrach, konnte er dann und wann eine dunkle, kompakte, vorwärtsstrebende Masse ge­wahren, doch Gestalten zu unterscheiden, war unmöglich. Dann berklang das Geräusch ihrer Schritte und schien in dent Rauschen der windbewegten Bäume unterzugehen.

Ah! Das war also ein taktischer Vorgang! Es wurde ihm immer klarer, daß eine regelrechte Treibjagd organisiert worden sei. Das wäre doch zu dumm, wenn er sich in einer Maufefalle fangen ließe! Unter den buschigen Aehren wie ein Hase zusammengeduckt, überlegte er unschlüssig.

Aber das Fleisch blieb Sieger in ihm.

Das Feld wurde durch den Flußpfad, den die Waldhüter gekommen waren, in zwei Teile geschnitten. Darüber lag das volle Mondenlicht. Ein gefährlicher Weg! Er rollte sich wie ein gel zusammen und sprang mit einem Satz über den Weg in die Aehren, die den Pfad auf der anderen Seite be­grenzten. Aber das Getreidefeld hörte plößlich auf, und er befand sich vor einem Kartoffelacker, der unter dem klaren Mond wie eine weite, nackte Fläche dalag. Es hieß also eine neue List ersinnen! Er warf sich der Länge nach in eine der Furchen. Die struppigen, bräunlichen Kartoffelstauden schlossen ihre dichten Ruppeln über ihm. Er froch auf dem Bauche vorwärts, das Gewirre der Stengel vorsichtig zer­teilend. Der Wald lag wieder im tiefften Schweigen; in­mitten der starren Reglosigkeit der Fluren war der geheim­nisvolle Marsch in der Nichtung des Teiches erstorben. Dann verrammelte ihm der Gemüsegarten den Weg. Außerhalb der Hecke herumzukriechen, wäre unklug. Es brauchte bloß einer der Gendarmen, sei's aus Ermüdung, sei's aus Vorsicht, am Rande des Gehölzes zurückgeblieben zu sein.

Er bohrte ein Loch in die Secke, schlüpfte in den Gemüse­garten und lief mit großen Schritten, den Kopf tief zur Erde gebückt, längs der Hofmauer hin. Ein wenig seitlich drängten sich die Bäume des Obstgartens, der vom Gehöfte durch einen Wirtschaftsweg getrennt wurde. Da lagen Schiebfarren, ge­spaltenes Holz und ganze Baumstämme in wirrem Kunter­bunt, und am Ende des Gemüsegartens ruhte das braune Schindeldach einer Scheune auf vier Mauerpfeilern.

Cachaprès schlich sich an der Scheune vorbei, ängstlich das Geräusch seiner Schritte unterdrückend. Aus den Stallungen kam ihm das tiefe Schnauben der Rinder ent­gegen, dann und wann scharrte ein Pferd mit dem Hufe oder riß flirrend an seinem Halfter. Ueber all diefen Dingen wob ein Hauch von Germainens eigener Persönlichkeit. Voll Ent­zücken lauschte er, ohne selbst zu wissen, was das Heimliche war, das ihn hier so wohltuend berührte. So nah von ihr, begann er wieder zu beben; ihm war's, als wankte der Boden unter seinen Füßen. Seine Kehle brannte wie Feuer. Vont Teiche her erscholl das mißtönige Quaken der Frösche.

Einen Moment gab er sich wie betäubt dem Rauber des geheimnisvollen, nächtlichen Webens hin; plöblich ließ ihn ein Geräusch zusammenfahren, und angestrengt lauschend wandte er den Stopf zurüd. Hinter der Scheune hatte sich etwas bewegt.

Er hatte keine Zeit, sich zu sammeln; eine dunkle Er­scheinung löste sich von der Wand: zwei Gendarmen stürzten ihm mit gesenktem Bajonett entgegen.

Er sprang hurtig zurück, legte an und spannte den Hahn. Eine doppelte Detonation zerriß die Nacht mit furcht­barem Getöse; das rollende Echo pflanzte sich weiter fort und schien im Walde eine ganze Gewehrsalve wachzudonnern.

Die Gendarmen hatten nicht einmal Reit gehabt, Deckung zu suchen. Eine rötliche Flamme war neben dem dunklen Gemäuer aufgeblißt, und der eine war mit einem Aufschrei zusammengebrochen, eine Ladung Nebposten in der Brust. Der andere hatte auf eine davonhüpfende Gestalt, die wie ein Bidlein durch den Gemüsegarten sprang, angelegt, doch die Kugel traf einen Apfelbaum, während Cachaprès mit übergroßen Sprüngen auf dem Fußpfad enteilte. Nun machte sich der Gendarm ebenfalls auf die Jagd, so rasch es seine durch dicke Stiefel beschwerten Füße gestatteten. Der Flüchtling dagegen, geschmeidig und unbehindert, jagte int rasendem Laufe dahin und gewann einen immer größeren