morsche Treppe des Hinterhauses in der Adelgasse hinunterschlich, die vier Groschen zwischen den dünnen, verfrorenen Fingern einge- klemmt. Verstohlen trippelte sie in die naheliegende Hökerbude und verlangte„Gehacktes" für dies- vier Groschen. „Jawohl!"— Der Höker und seine Frau wechselten einen viel- sagenden Blick und begingen stillschweigend einen Schurkenstreich. Marie erhielt den allerletzten Rest, welcher in einer Steinschüssel unter dem Ladentische stand. „Der ganze Mist wurde mir in ZeitungSpapier eingepackt— so, nun guten Appetit!— Prrr! Das ganze Fleisch war verdorben und boller Maden I Und die beiden Schurken wußten es l War das nicht hundsgemein!" Ihr großes, bleichfettes Gesicht verzerrte sich und die Lippen machten eine Bewegung, als ob sie nach den beiden Betrügern beißen wollte. Aber Prügel bekam Marie obendrein noch von ihrem Vater. Sie schüttelte sich, gerade als ob sie diese jetzt noch spürte. Große blaue und rote Striemen blieben zurück auf dem mageren Körper. Und zuletzt fiel noch ein Platzregen von Ohrfeigen auf sie nieder, die in dem kleinen Mädchenkopf Blitz und Donner er- zeugten. „Es war zum wahnsinnig werden! Aber trotzdem gab es mehr Prügel— immer mehr Prügel!"— An einem Winterabend, nachts um 12 Uhr, stblug sie ihr Lvjähriger Bruder ganz erbärmlich, weil sie ihm ein Thcaterbillett weggenommen hatte. Schon zweimal hatte er das Stück„Der Kalif auf Abenteuer" gesehen, während sie nicht ein einzig Mal im Theater war. Und mit diesem Billett des Bruders verschaffte sie sich die einzigen vergnügten Stunden ihrer Jugend. Nach den: Theater schlich sie sich still nach Hause, und die alte, halbverfaulte Treppe hinauf, es war um 12 Uhr nachts. Aber ach, als sie in das Zimmer trat, saß der Bruder im Halbschlaf am Tisch, sie erwartend. Mit einem breiten Riemen, dessen eines Ende er um die rechte Hand ge- wickelt hatte, bearbeitete er sie: Kopf, Rücken, Anne, Hände, überall schlug er hin, ohne Wahl!„Spürst Du den Riemen?" höhnte er dabei. Und als er sich müde und sie halb tot geschlagen hatte, kroch sie auf die am Boden liegenden Lumpen, die ihr als Nachtlager dienten. Sie wimmerte die ganze Nacht vor Schmerzen und am nächsten Morgen war sie krank>— sehr krant!—— Später bekam sie wieder Prügel als Dienstmädchen auf dem Lande. Zuerst von der Herrschaft und den Knechten, dann von ihrem Schatz. Und als sie aus dem Dienst lief, wurde sie von der Polizei ins Gefängnis geschleppt und auch dort mißhandelt. Dann kam sie ins Spital und von da nach einer bewußten Straße. Und so ging es denn 25 Jahre lang. Das alte Mädchen rieb sich die Beule im Nacken, sie brannte und juckte so sehr. Und ihres Lebens Zukunft stand vor ihr in trüber, sorgenvoller Perspektive. Alles war bisher Schmutz und Niedertracht— und es war keine Aussicht auf Besserung. Verpfuscht war ihre ganze Jugend, verfehlt ihr ganzes Dasein!-- „Und ehe man sich versieht, wird man alt dabei," klagte sie still und hoffnungslos. ---- Man ist alt geworben! Ja, diese Worte klangen wie der schnarrende Ton der Zuchthauspforte, die sich schließt hinter einem lebenslänglich Ver- urteilten. Ich ging. Aber Marie blieb. Sie trat wieder hervor in die bleiche Lichtwelle, die durch den Kcllerhals heraufschimmerte. Ihr großes, wachsbleiches Gesicht, umkränzt von grauem Haar, nickte jedem Manne zu. der vorüberging. Die Falten ihres Gesichtes klemmten sich zusammen und glätteten sick, und die nassen, weißen Augen starrten trostlos in da- nächtliche Dunkel. So stand sie Stunde auf Stunde, die ganze Nacht hindurch, stets hoffend, die vier Mark Miete und den kärglichen Unterhalt für den nächsten Tag doch noch erhaschen zu können. Und verzerrte sie hin und wieder die Gesichtsmuskeln zu einem Lächeln, so grinste ein unendlich trauriges soziales Drama zwischen den grauroten Lippen ihres schwarzen Mundes, ein Drama, das zu einer furcht- baren Anklage gegen unsere„göttliche Weltordnung" sich ver- dichtete.---— Aber über ihr wölbte sich der dunkle Himmel und ein paar Sternlein blitzten auf sie herab, und aus der Kellerkneipe kamen die verrosteten Tone einer defekten Spieldose, die zu einem munteren Walzer aufspielten. kleines feuiUeton. Massenmord. A. Wir im Norden waren ja diesmal weit vom Schuß. L. Gottseidank ja. Das ruhige Blut ist aber nicht daran schuld. Wer weiß, ob der männermordende Wahnsinn nicht eines Tages »uch bei uns ausbricht. A. Sie meinen, so ein Massenmorden könnte hier auch jederzeit passieren? L. Ja, natürlich. Hart genug dabei waren wir doch oft genug. A. Das stimmt. Wenn man bedenkt... B. Und das ist doch sicher: Wenn es einmal anfängt, dann geht eS um kein Haar bester zu als da unten. A. Glaub's wohl. Man müßte eigentlich vorbeugen, Maßregeln treffen. B. Was soll daS helfen? Man kann doch nicht alle einsperren die... A. Natürlich nicht. Es sind ja sonst ganz friedfertige Leute. Bis es sie auf einmal packt. Und dann fangen sie an, wie verrückt um sich zu schießen, als wäre es daS höchste auf Erden, möglichst viele Menschen umzubringen. B. Ja, so sieht es wirklich aus. A. Und obendrein Menschen umzubringen, die einem gar nichts getan haben! Aus blindem, sinnlosem Haß gegen die Gesamtheit. B. Ja, es ist ungeheuerlich. Und dann muß man doch noch bedenken: all diese Leute haben Weib und Kinder. A. Ja, daran denkt so ein Bursche gar nicht. So ein los« rasendes Tier. B. Da hilft nichts als gründliche Aufklärung in den Schulen und späterhin im Leben. A. Der Staat müßte irgendwie einschreiten, sich ins Mittel legen. B. Leicht gesagt. Der Staat ist doch selber... A. Sie wollen dem Staat die Schuld geben? Natürlich! B. Allerdings natürlich. Der Klajsenstaat braucht diese Dinge, er fördert sie bewußt... A. Erlauben Sie: Sie sind wohl nicht ganz... Pardon, ich loeiß ja, daß Sie ein Sozi sind, aber bisher habe ich Sie doch immer als vernünftigen und ruhig denkenden Menschen geschätzt. B. Danke. Ich war nie vernünftiger als eben jetzt. A. Und dann behaupten Sie, der Klastenstaat sei daran schuld? Die bürgerliche Gesellschaft? B. Noch mehr. Sie treiben es geradezu mit Absicht dahin, daß solche Katastrophen entstehen, denn Sie brauchen das gewister« maßen. A. Na, hören Sie, da sieht man tviedcr, was die wüste Hetze Ihrer Agitatoren selbst in den besonnensten Köpfen für Unheil an« richtet. Sie wollen für all das Gräßliche im Ernste die bürgerliche Gesellschaft verantwortlich machen? B. Für all das Gräßliche. A. In jedem Falle? B. In diesem wie in jedem Falle. A. Ich sehe wohl, Sie sind unrettbar der revolutionären Phrase verfallen. Man möchte beinahe glauben, der Wahnsinn des Massenmörders habe Sie angesteckt. B. Danke schön. Weichen Mastenmörders übrigens? A. Na, dessen, von dem wir hier die ganze Zeit reden. B. Wir? Wir reden allerdings vom Massenmord, aber so sehr es mich freut, von Ihnen den Ausdruck Mastenmörder angewendet zu sehen, so wenig weiß ich, warum Sie nur von einem Massen- mörder reden. A. Augenblicklich ist doch der Hauptlehrer Wagner der einzige seiner Art... B. Von dem reden Sie?— so l Nun versteh ich erst... A. Von wem denn sonst! Wovon sprachen denn Sie? B. Zch? Natürlich vom Krieg. Vom Balkankrieg und über«. Haupt. A. Vom Krieg? Aber der hat doch mit Wahnsinn nichts zu tun. Da ist doch nichts Verrücktes bei. Der ist doch ganz logisch und gottgewollt. B. Ja, natürlich. Wie konnte ich das nur vergessen! A. So was! Wagners Massenmord mit einem Kriege zu ver« wechseln! B. Nicht wahr? Wirklich verrückt!— E. F. Berkehrstvesen. „Telekav a". Aus der gepeinigten Seele eines österreichischen Telephonabonnenten kommt dieses mystische Wort. Es bedeutet 83.332.000 und dient als Titel einer kleinen Broschüre, die uns eine neue internationale Zahleusprache offeriert. Mit bitterem Ernst setzt der Verfasser, Prof. C. v. Pirquet , die Vorzüge seiner neuen Sprache für die Ziffernschrift, insbesondere im buntsprachigen Oesterreich, auseinander. Und wir glauben ihm gern, daß seine, übrigens recht volltönende und leicht zu handhabende künstliche Sprache viele theo- retischen Vorzüge im Vergleich mit den natürlichen Zahlenbezcich« nungen hat. Möglich ist auch, daß sie sich im telegrichhischen Verkehr bewähren könnte.. Aber weiter wird sie es kaum bringen. Und am allerwenigsten in Oesterreich , denn dort würde nur neben den bereits bestehenden Sprachstreitigkeiten noch eine neue um die„Telekaba" entstehen.... Es gibt eben innerhalb der österreichischen Grenz« pfähle noch vielerlei zu vollbringen, ehe man an die Beseitigung der Unebenheiten im Telephonverkehr durch„Telekaba" geben kann.
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30 (18.9.1913) 182
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