Anterhaltungsblatt des Vorwärts

Nr. 213.

Freitag, den 31. Oktober.

12 Helge Bendels Luftfchlöffer.

Ein Chikago- Roman von Henning Berger.

3.

Ein grüner Märzhimmel, an dem die Sterne weiß wie Milchtropfen hervortraten, wölbte sich über dem alten Post­amt. An einem Flügel hatte man schon mit Niederreißen begonnen, und drunten an Lake Front wurde eine lange Baracke errichtet, die während des Neubaues benützt werden sollte. Aber noch war der Briefmarkenverkauf im alten Haus, und in einem kellerartigen Dämmerlicht wurden drinnen durch Kleine Fenster die blauen und roten Vierecke mit Washingtons Bild ausgegeben. Ein Holzgerüst versperrte den Eingang zum Abbruchterrain, und hier haften Spalten und Risse die alten, schwarzen Mauern durchfurcht, die sich auf ihren von Hauen und Spaten zertrümmerten Grundfesten sentten und buchteten und. neigten. Auch die Außenwände wiesen kleine, runde Stellen auf, wo der Bewurf unter den Stößen von innen abgefallen war, und im grünblauen Licht des Nach mittags schimmerten diese Kalkflecken wie die frühen Sterne in der Höhe.

Helge Bendel war auch dagewesen und hatte eine Un­menge Freimarken gekauft. Fast täglich wurden neue Fracht­zirkulare ausgeschickt, die immer steigende Preise ankündigten. Und zwischen diesen Frachterhöhungen kamen die kurzen Mit­teilungen an die Agenten, daß die Boote voll wären und kein Raum mehr zu haben sei. Die Stiere hatten mit den Liefe­rungen begonnen, um sich rechtzeitig Play in den Elevatoren für die Weizenflut des Sommers zu sichern, und die Baum­wollbörsen in St. Louis   und New Orleans   erhielten immer öfter die lakonische Meldung:

Gänzlich voll. Kein Raum.

J. D. R. Mystisch und seltsam trat auch der mit stets gleicher Spannung erwartete Herr Wolsey   in Erscheinung. Erst hatte er sich drei Wochen oder mehr in Newyort aufgehalten. Die Berichterstatter schrieben über seine Kleider, seine Schuhe und Hüte, über das Muster seiner Krawatte, über seine Launen und Gewohnheiten, seine englische Aussprache, sogar über seine Ansichten in Kolonialpolitik. Aber über Dampfschiffs­angelegenheiten und Linienpläne kein Wort. Später kam ein Ausspruch über den drohenden Sturm in Afrika  , wo diese ver­dammten Buren gegen die Briten   zu murren anfingen. Aber der britische Löwe würde zuzuschlagen wissen, wenn es not tat, sagte Herr Wolsey  , wobei er gleichzeitig ein Kompliment für den amerikanischen   Adler mit einflocht:

Ebenso wie Ihr stolzer Adler! lauteten Herrn Wolseys Worte dem Vertreter der gelben Presse gegenüber.

Aber über Kontore oder Agenten oder Frachten und Passagiere erfuhr der Reporter feine Silbe,

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1913

Abteilung führte er mochte den Umweg außen herum nicht mehr machen. Und zudem wurde ja jezt gleich geschlossen.

Eine Dame stand vor dem Schalter. Sie war in irgend etwas Mausgraues gekleidet, wo ihr Parfüm hatte einen Veilchenduft. Im Zwielicht sah Belge eine Schnalle an ihrem großen Hut glänzen.

Drunten in der Frachtabteilung stampften die Adressie­rungsmaschinen, während die Briefmarkenfartons so eilig in Streifen gerissen wurden, daß es in der Perforierung pfiff, wie wenn ein Geigenbogen hastig geharzt wird. Herr Noth war gegangen, und Helge schloß die Bulte ab. Als er lang­sam den Gang an dem endlosen Schaltertisch hinabschlenderte, war die Dame in Grau fertig, und er hielt die Tür offen für fie. Sie dankte mit einem Nicken und Lächeln und einem großen, sich erweiternden Blick aus zwei Augen, die dieselbe Farbe hatten wie ihr Kleid und zugleich schimmerten wie die Schnalle am Hut.

Helge Bendel war ganz verwirrt; er errötete wie ein Knabe. Seine Erfahrungen mit Frauen beschränkten sich auf ein paar gekaufte Stunden, an die er sich oft mit Widerwillen erinnerte, und die zu wiederholen er sich erst nach ein paar Cocktails in einem zufälligen Zechgelage mit Kameraden- Kontoristen oder Kunstbeflissenen selbst hinreißen konnte. An irgendwelche Verbindung sonst wagte er nicht zu denken, so wenig wie einer seiner Freunde. Tief im Innern konnte er träumen von eigenem Heim, von Ehe, Kindern; aber ein Grauen vor kleinen Verhältnissen, das schon von seiner Kind­heit an ihm eingepflanzt war, hatte sich festgewachsen und mehr und mehr verstärkt, und verurteilte ihn wie er sich einbildete zu ewigem Zölibat. Denn an Wunder glaubte er nicht mehr, wenn auch die Zeit noch gar nicht so fern lag, da er, im Verein mit Bendel u. Co., ein Luftschloß auch für die Fee einrichtete, die in seinem Herzen herrschen sollte.

Aber draußen lag noch immer die grünblaue Märzdämme­rung, in der die Sterne anfingen weiß zu werden; und es war die seltsame Zwischenzeit, die selbst der häßlichsten Stadt einen Schimmer von Unwirklichkeit und Romantik verleiht. In diesem Schimmer wanderte das junge Weib, das soeben Helge den gefährlichen Blick zugeworfen hatte, und im selben Schimmer ging er ihr nach erst halb unbewußt, dann mit Ueberlegung.

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Es fing damit an, daß er ihr, als sie auf die Straße getreten waren, nachsah und den feingeschwungenen Rücken beobachtete, wie er sich bog, spielte, die Muskeln regte unter dem ele­ganten, flotten, tailormade Promenadenmantel. Sie ging keď und rasch und sicher zwischen den anderen Fußgängern auf dem Trottoir dahin; einmal sah man eine Schulter, dann wieder den Hut, manchmal war sie auch ganz verschwunden; und dann tauchte ihre elegante und sichere Erscheinung aufs neue auf. Manchmal blieb sie eine Sekunde lang vor einem Juwelier­laden stehen und warf einen Blick in die Modewaren- Auslage

in einem raschen und bestimmten Beobachten, ohne Neugier oder Ueberraschung. Darauf ging sie weiter, dann und wann in einem blißschnellen Seitenblick ihr Spiegelbild in den großen Schaufenstern musternd.

Helge folgte.

Später wurden sämtliche Klubs genannt, in die Herr Wolsey   gewählt worden war eine schwarze Kugel existierte überhaupt nicht für diesen Namen. Und dann erschien täglich sein Name bei den Diners und Bällen der Vierhundert; zuletzt wurden auch einige Goldtöchter genannt, die möglicherweise das Ziel seiner Gedanken sein mochten. Aber jeder Gedanke Ihm war, als ob gleich einem unsichtbaren Rauch im an Seefahrt schien ihm völlig fern zu liegen. Ich spreche Rielwasser eines Schiffes, zwischen all den schwarzen Nacken nie von Geschäften, wurde als einer seiner Aussprüche zitiert. und weißen Gesichtern der Wandernden der feine Duft ihres Endlich reiste er westwärts, und jetzt erzitterten die Terri- Veilchenparfims wogte. Darauf entdeckte er, daß ihr Haar torien. Aber aufs neue ward es eine geheimnisvolle und rot war; aber war es wirklich das Haar und nicht etwas, enttäuschende Ungewißheit. Herr Wolsey   passierte in einem was zum Hut gehörte, dessen Rand so breit war, daß er die Extra- Salonwagen Chikago wie ein Schatten bei Nacht und Schultern beschattete? Diese weiche und warme Farbe unter fuhr direkt nach San Franzisko. Und dort war er noch. So und zwischen dem Grau erinnerte ihn an eine Modefarbe in daß man augenblicklich glaubte, vom Stillen Ozean würde der der Heimat vor langer, langer Zeit, die man damals Sturm ausgehen, der, wie man annahm, reinfegen sollte bis Eiffelfarbe nannte. Er mußte schneller gehen, um zu sehen, an die Küsten des Atlantischen Ozeans  . ob es das Haar war. Ja, wahrhaftiges war das Haar! Ein dichtes, prachtvolles, schwer geflochtenes Haar mit mattem Kupferglanz, das gleich Metallbuckeln zu beiden Seiten stand und fast die Ohren verdeckte. Als sie den Kopf wandte- den fie etwas hintenübergebeugt trug, kam ein kleines, weißes Ohrzipfelchen zum Vorschein, in dem ein von einem Kranz kleiner Brillanten umrahmter Smaragd saß. Das Gesicht war im Dämmerlicht außerordentlich bleich: aber die Lippen schimmerten wie Wein..

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Sonnenwärts! drückte sich Herr Roth aus.

Ich bin bald dreißig jezt, dachte Helge müde, und bin noch immer Kontorist in diesem Land der Unsicherheit und zittere vor dem Morgen. Was eigentlich tu ich? Brief­marken kaufen und Zirkulare versenden wie ein Automat. Und das tu ich nun seit bald zehn Jahren.

Und in plößlichem Ueberdruß vor dem ganzen Leben ging Bendel durch die Haupttür, die direkt in die erste Klasse­

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