Anterhaltungsblatt des Vorwärts

Nr. 231.

Donnerstag, den 27. November.

80] Helge Bendels Luftfchloffer.

1913

ihre geistige. All diese Aeußerungen von höherem oder niederem Interesse erschienen ihm banal und frivol in Ge­danken und Worten sowohl wie in Handlungen, und in einer unflaren Ideenverbindung brachte er fte in Busammenhang mit dem unangenehmen Eindruck, den die Reihe der Lurus­schuhe droben in dem Hotelzimmer auf sein Gemit ge­macht hatte.

Ein Chikago- Roman von Henning Berger. Helge war jetzt immer morgens der erste auf dem Kontor, um die Post durchzusehen. Da lagen die dicken Kuverte wie fleine Bakete und dufteten ihm entgegen. Sein Herz hüpfte, Fehlte aber auch nur einen einzigen Tag der wohlbe­die Finger zitterten. Manchmal war es wirklich ein Baket. kannte Briefumschlag auf dem Posttisch, so war er ganz außer Er besaß bereits über zwei Dußend verschiedene Kabinettauf- fich. Dann hatte er das Gefühl, als stürze die ganze Stadt nahmen von Lilly und ihrer Schwester. In allen möglichen zusammen und er stünde einsam zwischen den Trümmern. Kostümen und Stellungen, auf dem Bodium und auf der hm war, als verlöre er das einzige Glück des Lebens, ja, Promenade, im Straßenanzug und im intimen Negiglé. das Leben selbst. Er ward bleich und krank vor Verzweiflung, Kopf- und Brustbilder, halbe und ganze Figur. Als Madonna Spannung und wahnwißigen Vorstellungen. Es war ihm und Heilige, als Königin, als Unschuldsengel, als ernsthafter unmöglich, auch nur die einfachste seiner täglichen Aufgaben Typ und als Verführerin und Nachtschmetterling, als Sappho , zu erledigen, und bizarre und unausführbare Pläne, wie als Thais, als Hetäre der Antike und Kokette der Gegenwart, 3. B. Urlaub nehmen und nach New York zu fahren, tauchten als Schauspielerin und als Nana. Und alle diese Photo- in seinem verwirrten Hirn auf. Wenn die letzte Post ein­graphien trugen ihren Namenszug und lange Dedikationen, lief, schlich er sich heimlich zur Hauptpoftabteilung hinüber, kosende oder schalthafte Worte, versteckte Anspielungen oder log- im Namen des Geschäfts- allerhand Geschichten zu geheime Chiffresprache.

Aber die Briefe waren doch das Ueberwältigendste, und sammen von wichtigen Briefen vom Osten her, die erwartet Aber die Briefe waren doch das Ueberwältigendste, und würden, bloß um sich zu überzeugen, daß wirklich nicht etwa zuletzt hatte Helge nicht mehr Raum für sie in seinem Bult. ein Brief aus Versehen beim Austragen vergessen worden Den letten trug er immer bei sich, und brachte so nach und war. Und in der Nacht nach solch einem Tag konnte er weder nach die zuletzt angekommenen nach Hause in sein Zimmer. schlafen noch überhaupt im Bett still liegen. Dann suchte er Beim Schlafen hatte er stets ein paar von ihnen unter dem Griff auf oder Hannover , schleppte sie in irgendein Nacht­Kopfkissen und bildete sich ein, was er träumte, müßte etwas café und entwickelte eine ganz unnatürliche Lebendigkeit, bedeuten oder voraussagen. Auf dem Kontor konnte er sie bloß um fie so lang wie möglich bei sich festzuhalten. nicht offen lesen, sondern mußte die unglaublichsten und wenigst poetischen Orte aufsuchen, um den Inhalt ein erstes Mal ungestört zu verschlingen. Manchmal trug er den Brief uneröffnet einen ganzen Tag mit sich herum, um abends in irgendeinem Kneipenwinkel ein Fest zu feiern. Oder er öffnete den Umschlag und sah bloß nach, ob der Brief wieder mit einem Meer von Umarmungen, einem Sturmwind von Küssen schloß und der angebetene Name sich ihm einzig und allein zuschwor. Das weitere schob er dann auf bis zur Frühstücks­pause.

genossen

Wenn dagegen die Briefe regelmäßig, wie von einem Uhrwerk getrieben, sich in seinem Bultfach häuften, war die Reaktion gerade umgekehrt. Dann konnte er einen stumpfen Ueberdruß fühlen, über den er sich selbst wunderte, und über den er sich reuevoll Vorwürfe machte. Aber es half nichts. Das Ganze kam ihm falsch und unmöglich vor; er fragte sich selbst, wie er sich hatte in etwas so Schimärisches stürzen können, und ärgerte sich über ihren Widerstand und ihre zu­rechtweisende Weigerung damals, als er begehrte, was Auf allen Arten von Papier, in allen Farbentönen waren Dußende von anderndessen war er ganz ficher diese Brirse geschrieben. Dickes, quadratisches Format, un- hatten. Unerfahren und männlich egoistisch erhitte er seine beschnittener Rand, im Wasserstempel eine Krone, ein Löwe eigene Phantasie, stellte sich unwahre ungerechtigkeiten vor, mit einer Art, ein Einhorn oder irgendein anderes heraldichtete Szenen, spielte sich selber Komödie vor und genoß disches Wahrzeichen. Berlgraues Papier mit Silbermono- eine Art Wollust in dieser kindischen Selbstquälerei. Aber gramm, Hyazinthfarbenes mit violetten Initialen, elfenbein- auch nur der entfernteste Gedanke daran, daß er sie im Ernst weiß , moosgrün, lila; Japanpapier mit Goldarabesken wie nie wiedersehen könnte oder die Hoffnung aufgeben müßte, ein Drache; indisches Binsenpapier mit Kobraschuppen im fie zu befizen, führte sofort einen Umschlag herbei, und er Wappen auf der rechten Ecke. Alle rochen stark nach Barfüm, weinte und glaubte dabei, daß seine Tränen aus leidenschaft­und Helge fürchtete, man fönnte es merken. Seit er eines licher Liebe flösſſen. Tages einen Brief in der Tasche herumgetragen hatte, war der Duft in seinen Kleidern hängen geblieben.

Das Hin und Her zwischen diesen beiden Polen füllte den April aus. Noch nie war Helge Bendel seinen Pflichten Sogar die Kuverte hatten ihren eigenen Charme; fie schlechter nachgekommen, hatte nachlässigere und untüchtigere waren mit Seidenpapier in den verschiedensten Farben ge- Arbeit geliefert, hatte sich so glücklich oder unglücklich ge­füttert, und ihm war, als erinnere dies raschelnde und fühlt. Im Kontor besorgte er die laufenden Arbeiten rein duftende Innenfutter an Frauenunterkleider, diese Hüllen, mechanisch, überließ es dem Instinkt, zu entscheiden, was die nur vor dem Begnadeten fallen. Aber noch anderes kam notwendig war und was nicht; lud einen Teil auf Burkes außer Briefen und Telegrammen, Zeitungen und Ansichts- Schultern ab und holte ab und zu das Versäumte durch ein farten. Auch Geschenke kamen. Er war darüber erschrocken; paar Stunden hastiger, forcierter, konzentrierter Nachtarbeit denn er konnte ja nichts dafür wiedergeben. Nach langem wieder ein. Die allgemeine Geschäftsnervofität, die durch Ueberlegen schrieb er ihr das auch. Und troß ihres Protestes Reuters Manipulationen und Wolseys unbegreifliche Un­beharrte er bei dieser Idee, bis sie den Grund einsehen mußte, sichtbarkeit jetzt bis auf die Spike getrieben war, half die Bu seinem Geburtstag im April hatte sie ihm ein Paar Lücken verdecken. goldene Manschettenknöpfe mit kleinen Brillanten geschickt. Er bettete sie sorgfältig in die Watte zurück- tragen würde er sie sicher nie. Dann, ohne Anlaß, schickte fie plöglich ein Toiletteetui aus Ebenholz, mit Silber eingelegt. Er legte es in seinem Roffer, damit es nicht allzu sehr mit seiner Boarddinghauszelle kontrastieren sollte. Schließlich, in einem Anfall von Aberglauben, sandte sie ihm ein kleines Medaillon, das nach französischer Sitte ein paar Haare von ihrem Körper enthielt. Sie waren dunkler als ihre Kopfhaare und sollten, wie die Silberlaterne, Glück bringen. Und diese kleine Kapsel trug er in der Westentasche bei sich.

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Bendel fühlte sich abwechselnd gerührt und gereizt durch diese Einfälle, die ihr wie ihm sein Verstand fagte- allen gegenüber famen, zu denen sie in freundschaftlicher Beziehung stand. Wohl vermißte er ihre persönliche Nähe, aber noch mehr

Im Mai veränderte sich die strategische Lage insofern, als Lilly Fanchettis Briefe seltener wurden. Erst tamen fie nur noch jeden zweiten Tag, dann jeden dritten, und zuletzt ent­nur einmal in der Woche. Sofort begann Helge sprechendermaßen öfter zu schreiben ein-, zwei, drei­mal die Woche, zuletzt jeden Tag. Und da die Telegramme wenn er nicht jekt ganz aufgehört hatten, geschah es, daß schnell genug Antwort auf einen Brief erhielt- er tele­graphisch Fragen und Vorwürfe vom@tapel ließ.

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Alles war jetzt von seiner Seite lächerliche Uebertreibung. Er dachte nicht mehr über dies Verhältnis nach, das doch bloß ein Schein war. Jest bedeutete ihm plötzlich die Sängerin alles, wie während des kurzen Momentes am Tag ihres ge­meinschaftlichen Diners. Sie war ihm Gattin, Mutter, alles, nur nicht Geliebte. Er wurde Schwester, Freundin

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