Anterhaltungsblatt des Vorwärts
Nr. 238.
Sonnabend, den 6. Dezember.
1913
verschiedene Material weiter zu entwickeln und zu bearbeiten. Alles war da, auf den dünnen Papierblättern mit Nummer und Namen und Zeichen, Adressen und Gewicht und Wert und Anzahl. Nur nicht ein einziges bißchen Trost oder Hoffnung oder auch nur Dank für gute Behandlung.
Er schielte zu seinem Chef hinüber.
87 Helge Bendels Luftfchlöffer. Ein Chikago- Roman von Henning Berger. -Ay, sagte Wolsey und trat durch eine der Abteilungsschranken, so daß er jetzt zwischen den beiden Kontoren stand ich habe jetzt nicht Zeit, das ganze Personal zu begrüßen. Roth saß noch immer wie zuvor. Seine Zigarre war ausIch hätte sonst gern jedem einzelnen besonders gedankt für gegangen, und eine kleine Aschenpyramide war auf seine Knie treue und anerkennenswerte Arbeit im Dienste der Linie. gefallen. Das semitische Profil war verschlossen und ernst, Leider muß ich unverzüglich weiterreisen. Und leider muß fast streng. Bendel wagte feine Frage an ihn zu richten. ich auch in aller Kürze mitteilen, daß das Hauptquartier in Es war, als weile H. Maitland Wolseys Schatten mitten London einschneidende Veränderungen bestimmt hat, Beim Kontor. Jeder der Anwesenden trug noch in der Netzhaut stimmungen, für die ich bloß ein außerhalb stehender Dol- das phantastische Bild in Schwarz und Weiß, und hätten sie metscher bin. Die Linie soll neu organisiert werden. Unser an die Decke emporgeblickt, so wäre der Mann sicher auf der Herr Curtis( und hier heftete er einen funkelnden Monokel- gegipsten Fläche in natürlicher Größe hervorgetreten. Bendel blick auf Mr. Ranch, der nach einer Schreibmaschine als Stüße kam es vor, als sei der ganze Blizbesuch unwirklich gewesen. griff) hat leider in seinen Berichten einen Niedergang anstatt Entlassen! War es möglich, daß diese dreißig Minuten eines Aufschwungs in den ja, wie soll ich mich ausdrücken? möglicherweise den Ruin aller, die da rund um ihn her saßen, -in den Büchern und Rechenschaftsablegungen des Chikago- in sich schlossen. Und all derer, die von ihnen abhängig waren? fontors fonstatiert. Das heißt einzig in der Passagier- Alles in allem mehrere hundert Individuen? abteilung. Was die Fracht betrifft, so steht ihre Tätigkeit-Aber es ist ja unmöglich! rief er ganz laut. über jedes Lob erhaben da. Aber die Zeiten haben das eben Roth wandte hastig den Kopf. so mit sich gebracht. So daß niemand denken soll, die Linie .hätte Mr. Ranch auch nur das Geringste vorzuwerfen. Im Gegenteil. Unsere Sachverständigen in London haben beschlossen, seine eminente Tüchtigkeit als Geschäftsleiter und Rechenschaftsführer an anderer, schwierigerer und höherer Stelle zu verwerten. Wo, das ist noch nicht bestimmt. Für die nächste Zeit, bis neue Anordnungen getroffen werden können, wird Mr. Noth der Fracht- und Passagierabteilung vorstehen. Mr. Ranch wird, wie die Londoner Direktion bestimmt hat sofort seine Demission eingeben und auf weiteres ehrenvolles Avancement warten. Es tut mir leid, daß diese Aenderungen ohne Zweifel eine ſtufenweise Ausmusterung des gesamten Personals bedeuten. Alles soll mit neuen Kräften organisiert werden. Aber das hat noch Zeit; und ich bin nicht eingeweiht in die Einzelheiten. Hier im Bureau bleibt Mr. W. K. Fay, als Assistent von Mr. Noth. Ay.
Was ist, Bendel? sagte er.
Helge stand auf.
gefaßt
daß
das
Ich möchte wissen, ob ich mich auf meine Entlassung machen oder als entlassen betrachten soll, Mr. Roth! Der Agent schob die Lippen vor.
Na, noch ist ja nichts im einzelnen bestimmt. Aber ich Sie behalte, Bendel, solang' mein Wort etwas gilt, ist ja klar.
Helge wurde kühner.
Aber wenn Mr. Wolsey jemand hat, dem er eine Stellung verschaffen möchte, oder eben jemand anders denn ich kenne doch das System bei einem Wechsel Ich habe doch auch ein Wort mitzusprechen sagte Herr Roth kurz.
So nach und nach machte das Personal sich wieder an die Arbeit. Aber das Rattern der Schreibmaschinen klang sonderDiese ganze, lange Rede hatte Herr Wolsey tonlos und bar leblos, im Tippen, Klingeln und Signalisieren war etwas unnuanciert abgelesen, wie eine Rede bei einem öffentlichen Totes, und selbst das Kraßen der Federn schien inhaltslos. Banfett. Jetzt jah er sich um, und ein Herr in grauem An- Nur wenn in einem der großen Folianten in der Buchzug, mit typisch englischem Portweingesicht und dünnem, kurzgeschnittenem Badenbart kam auf ihn zu.
Mr. Fay, stellte er vor. Mr. Ranch. Mr. Roth. Beiden Agenten fiel es schwer, ihren Gefühlen Ausdruck zu geben; aber die Gegenwart dieses Wolsey wirkte wie ein Zauberbann. Erst ging er in die Frachtabteilung und saß fünf Minuten lang in leisem Gespräch mit Mr. Roth zusammen. Darauf schloß er sich zehn Minuten lang mit Mr. Ranch in dessen Privatkontor, ein. Inzwischen unterhielt sich Herr Fay mit Herrn Swanson, und die beiden übrigen Herren promenierten umher und besahen sich die Bilder und Schiffsmodelle. Schlag balb drei fuhren die Besucher, nach sefundenschnellem Händeschütteln, wieder ab. Die rein handgreifliche Zeremonie der so lange erwarteten Umwälzung hatte genau eine halbe Stunde Zeit in Anspruch genommen. Die betreffenden offiziellen Dokumente waren jedenfalls schon unterwegs.
Nach Mr. Woljeys Verschwinden fiel über das ganze Kontor ein Druck, den niemand zu verhehlen oder zu heben versuchte. Sie waren allesamt entlassen oder wenigstens hatten sie das Gefühl, als wären sie es. Sogar Mr. Roth saß gedankenvoll, mit müder Miene und gerunzelter Stirn, da. Herr Ranch hatte ihn beglückwünscht, aber mit einem Blick hinter dem goldenen Kneifer, der deutlich besagte, aufgeschoben sei nicht aufgehoben, falls die Jahre ihm günstig wären. Darauf hatte Herr Ranch sein Pult zugeschlossen und sich auf den Zug nach Evanston begeben.
führungsabteilung ein Blatt umgedreht wurde und im Wenden mit einem kleinen, scharfen Laut knackte, hörte das Geräusch sich sorglos und unbekümmert an. Aber das war auch ein ganz ungewöhnlich harter und falter Knall- fast wie das Abdrücken eines Revolvers.
Jeder einzelne beeilte sich, die notwendige Tagesarbeit, die, der Kontrolle wegen, nicht auf morgen verschoben werden fonnte, zu erledigen. Aber dann entfernte sich ohne weiteres einer um den anderen, lang vor Kontorschluß. Die Verheirateten fahen blaß und ernst aus; die Unverheirateten begaben sich in Gruppen zu den nächstliegenden Bars, um Möglichkeiten und Aussichten zu bereden. Die Stenographinnen schwazten ziemlich unbekümmert über das Ereignis des Tages, und die noch jungen und hübschen unter ihnen lachten sogar über die ganze Sache.
Um fünf Uhr ging Helge.
Ueber den nordwestlichen Teilen der Stadt schwamm ein roter Rauch, und in diesem Wolfendunst senkte sich die Sonne wie ein Feuerrad. Schlächtereigeruch schien aus der Erde zu steigen, sich von den Mauern zu lösen; es war, als ob der faule Atem der Stadt den Sonnenuntergang anbauchte. Die müden, stadtsommerschlaffen Gefichter der Fußgänger, ihre verschwigten Kleider, ihr bummeliger Gang, alles, die ganzen Gestalten, erschienen wie ausgewunden, ausgepreßt, wie durch eine Wäschemaschine gezogen. Und man konnte fast glauben, daß es die Ausdünstung dieser armen, halbtoten Geschöpfe war, die die Abendluft berpestete.
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Auch Helge jaß völlig stumpf am Konossementtisch. In Wohin soll ich gehen? Wohin soll ich gehen? Götter großen Stapeln lagen auf der breiten Platte Kopien von und Teufel wohin soll ich gehen? Frachtbriefen im Wert von Millionen. Alles war da, was Bendel stand an einer Straßenecke und hielt sich an einem zur Notdurft, zu Genuß und Lurus des Menschen diente. Laternenpfahl. Stumpfsinnig starrte er auf eine Stamung Speisen, Kleider, Maschinen, Feuergetränke zum Wärmen, von aufgeregt flingelnden Trambahnwagen und las mechanisch Beleben, Betäuben. Eisen- und Stahlwerkzeuge, um die Erde am Dach eines umgestürzten Omnibusses: Parmelées zur Saat zu bereiten, Apparate, um die Pflanze zu behandeln Expreß Co. und verwandeln. Andere mechanische Erfindungen, um das
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