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aus den deutschen   Zeitungen des sechzehnten, siebzehnten und acht zehnten Jahrhunderts zusammengetragen. Wer ein wirklich lebendiges Bild von jenen Zeiten bekommen will, wird fünftig an diesen Bänden Buchners nicht vorübergehen können. Es stedt in ihnen ein ungeheurer Sammler- und Sichterfleiß, und wenn man alle diese Dokumente, die da zusammengetragen sind, nicht nur durchblättert, sondern wirklich durchstudiert, so wird man dem innersten Wesen jener vergangenen Zeiten viel näher kommen als durch die Lektüre so manchen didleibigen Geschichtswerkes. Denn hier wird nicht über die Zeit berichtet hier spricht die Zeit selbst zu uns in all der lebensvollen Unmittelbarkeit, wie sie vor der Erfindung des Kinos nur die Zeitung späteren Geschlechtern zu überliefern vermochte.

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Doch wir wollen hier keine Rezension schreiben. Wir wollen heute nichts anderes, als aus der überwältigenden Masse des in Buchners Bänden aufgestapelten Materials auf gut Glück ein paar Notizen herausgreifen, die uns Menschen des zwanzigsten Jahr­hunderts verblüffend modern" anmuten, die, wie es in der Zeitungssprache von heute heißt, durchaus den Reiz der Aktualität" haben und die uns zeigen, daß so manches, auf das wir heute mit mehr oder weniger Recht stolz sind, seine Wurzeln in längst vergangenen Tagen hat.

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Auf was z. B. sind wir wohl stolzer als auf unsere Groberung der Luft"? Wie sehr man sich aber vor bereits 125 Jahren mit Fragen der Luftschiffahrt befaßte, zeigt uns- um nur diese eine Herauszugreifen die Nr. 102 der Berliner   Vossischen Zeitung" vom Jahre 1784. In dieser einen Nummer finden wir nicht weniger als 5 Berichte aus verschiedenen Städten über Versuche, die man mit Luftfahrzeugen gemacht hat. So wird aus Bordeaux   berichtet, daß dort zwei Erfinder Versuche mit einer großen aerostatischen Maschine" gemacht hatten, die 70 Fuß im Durchmesser" hatte. Sechs Stunden lang sind die Herren auch wirklich in der Luft herum­geflogen, dann aber ist( ganz wie so oft auch heute!) ihre Maschine berbrannt, da sie eben die Erde berührte". Ein in Chelsea   er­bautes Luftfahrzeug, das hundert Fuß im Durchmesser hatte, wurde von den bei seinem ersten Aufstieg angesammelten Bolts­massen( über 30 000 Menschen sollen zusammengelaufen sein!) zerstört. Auch bei Cöln fiel ein Luftfahrzeug nach seinem ersten Aufstieg der Zerstörung durch die Bauern anheim, in Mainz  wiederum verbrannte ein Luftballon, an dessen Herstellung der Er­bauer fünf Monate gearbeitet hatte, beim ersten Versuch, und in Rom   wurde zu gleicher Zeit die Luftschiffahrt überhaupt ver­

boten!

Alle diese Berichte bringt, wie gesagt, eine einzige Nummer der Vossischen Zeitung". Im ganzen hat Buchner aus deutschen   Zeitungen allein aus der Zeit von 1750 bis 1787 ( d. h. im dritten Bande seiner Sammlung) nicht weniger als 45 zum Teil sehr interessante und ausführliche Artikel über Luftschiff­fahrt zusammengestellt, wobei Mitteilungen wie jene erwähnten 6 aus einer Beitungsnummer immer nur als ein Artikel ge­rechnet sind.

Neben der Luftschiffahrt sind wir Menschen von heute besonders stolz auf die Erfindung des Automobils. Auch da macht uns Buchner bescheiden, indem er uns, gleichfalls aus der Vossischen Beitung", und zwar unter dem 26. Mai 1769, die Nachricht mit teilt, daß zu London   jemand eine Art von Fuhrwerk erfunden hat, welches ganz von selbst gehet und wozu man keine Pferde oder sonst etwas, dasselbe zu ziehen, gebraucht". Also: ein Automobil!

Auch die Stenographie halten die meisten Leser gewiß für eine Errungenschaft zwar nicht des zwanzigsten, wohl aber des neunzehnten Jahrhunderts. Demgegenüber sei festgestellt, daß nicht nur die alten Römer schon eine Art von Schnellschrift kannten, über deren Einzelheiten wir allerdings nicht mehr unterrichtet sind, sondern daß auch im Anfange des achtzehnten Jahrhunderts wieder hundert Jahre vor Gabelsberger!- eine Schnellschrift erfunden worden ist. Wenigstens meldet im Jahre 1725, in seiner Nr. 78, der Hamburgische Korrespondent" aus London  , den 4. Mai, das Folgende:

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" Für Herrn Jacot Westen wird ein Patent ausgefertigt, fraft dessen er allein befugt ist, von der Tachygraphie( Sturzschrift) was im Druck zu geben und zu zeigen, wie man durch einen oder gar wenige Charakters( Schriftzeichen) ganze Wörter exprimieren ( ausdrüden) könne, welches dem Publiko großen Vorteil bringet, im Falle man sich solcher Methode bedienen will.") vindla

Auch sonst mutet uns sehr viel aus diesen alten Zeitungen überaus modern an. In Berlin   und wohl auch in manchen anderen Großstädten grassiert 3. B. seit Jahr und Tag der grobe Unjug, daß sich gewisse Kaffeehäuser allerlei Abnormitäten engagieren, die dort als Kapellmeister oder Musiker auftreten müssen. Das sind dann immer besonders große Attraktionen". Auch dieser Unfug ist schon einmal dagewejen bor fast einhundert und fünf­zig Jahren! Es berichtet nämlich die Vossische Zeitung" in ihrer Nr. 126 des Jahrganges 1771:

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Die Kaffeehäuser in Paris   werden jetzt wenig oder gar nicht besucht, und die Cafétiers sind darüber sehr verlegen. Giner von ihnen hat sich zu helfen gewußt. Er hat ein Konzert aus lauter blinden Mujitanten eingerichtet und zu dem Ende( Zwecke) viele blinde Bettler, die singen und spielen, von der Straße genommen, jie grotest gekleidet und nebeneinander auf ein besonders gebautes Orchester Hingestellt, vor jedem ein Licht,

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auch am hellen Tage, hingeseket, und einen Bogen Noten hingeleget. hier fingen sie wechselweise Gassenlieder, und wenn einer finget, so accompagnieren( begleiten) ihn die anderen alle... Ein anderer Cafétier hat diese Erfindung nachahmen wollen und ein Konzert von lauter Bucklichten ange­legt, allein mit minderem Beifall; das Publikum dort sieht lieber einen, der keine Augen, als einen, der einen Buckel hat." Zu den wirksamsten und angeblich modernsten" Methoden der Seilwissenschaft gehört bei sehr zahlreichen Leiden heute die soge­nannte Vibrationsmassage. Daß man deren Heilwert, wenn natürlich auch nicht in der heutigen Form, schon im acht­zehnten Jahrhundert sehr wohl zu schäzen wußte, zeigt ein längerer Artikel der Vossischen Zeitung" aus dem Jahre 1773( Nr. 95); allerdings war die Anwendung dieser Massagen damals nur von den Reichsten möglich: kostete der Apparat, der die Gestalt einer eleganten Rutsche hatte, doch nicht weniger als zweitausend Taler. und wer die Vorteile solcher Vibrationsmassage damals genießen wollte, konnte sie sich nicht, wie heute, beim Arzt verabreichen lassen, sondern mußte sich selbst eine derartige Vibrationstutsche zulegen. Auch Klagen über die allzu hohen Hüte der Damen­welt sind nichts Neues. Im Jahre 1776( Nr. 36) berichtet die " Vossische Zeitung" aus Edinburgh   in Schottland  , die Frauenhüte hätten einen so ungeheuren Umfang angenommen, daß ihre Trägerinnen außerstande seien, in den gewöhnlichen Postechaisen" ( Kutschen) noch Platz zu finden.

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Dann wieder hören wir von der Erfindung eines Seismo­graphen( Erdbebenmessers), der die Erdbeben sogar noch vor ihrem Gintreten registriert haben soll, demnach also anscheinend noch mehr geleistet hätte als die berühmten Meldeinstrumente für Erdbeben in unseren Tagen! Es heißt nämlich in Nr. 77 der Bossischen Zeitung"( Jahrgang 1783) in einer italienischen Korrespondenz vom 4. Juri:

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" Der berühmte Mechanikus Saljano in Neapolis hat eine Maschine erfunden, wodurch die Erdbeben und ihre Richtung vor ihrer Wirklichkeit genau angezeigt werden. Entspricht diese Ma­schine ihrem Zweck, so verdient der Erfinder eine Bildsäule." Der Kampf zwischen Kaffee und Kaffeefurro­gaten, der auch heute noch häufig die Gerichte beschäftigt lich befaßte sich erst wieder ein Dresdener Gericht mit der Zulässig= feit der Bezeichnung Kaffee" für gewisse Surrogate ist auch schon über zweihundert Jahre alt. In Nr. 18 der Mercurii Relation"( München  ) wird nämlich im Jahre 1692 aus Paris   von einem Prozeß gegen diejenigen berichtet, welche von hart gedörrtem Rocken( Roggen)- oder Gersten- Brod nachgemachtes Coffe verkaufen".

Nicht jeder wird wissen, daß auch das Universitäts­it ud i um und die akademische Lehrtätigkeit von Frauen schon auf eine Geschichte von Jahrhunderten zurückblicken. In den Zeitungs­berichten aus dem achtzehnten Jahrhundert ist sehr häufig von studierten Frauen die Rede; nur eine derartige Meldung sei statt vieler hier mitgeteilt: die Bossische Zeitung" berichtet in der Nr. 128 unter dem 16. September 1732 aus Bologna  :

Mittwochs wurde in dem gesammten Rath beschlossen, der neuen Doktorin Laura Maria Bassi   die Haltung derer öffentlichen Kollegien samt einer jährlichen Besoldung zuzugestehen und indeme fie auch schon bereit ist, infurzem die erste Lection zu halten, als wird darbey der ganze Rath, und viele ausländische sowohl Adels­personen als Gelehrte erscheinen."

Auch von der Hypnose und den Wundern der Elektrizität, von fünstlich erzeugter Kälte, von Statistit, von wissenschaftlicher Wetterbeobachtung und wissenschaftlicher Erforschung der Luft, von der Jesuitenfrage und von unerhörten Uebergriffen der Polizei, vov Ritualmordmärchens und von dem gelegentlichen Auftauchen des vielen, vielen anderen heute noch sehr aktuellen" Dingen ist in den Konrad Haenisch  . alten Zeitungen gar oft die Rede.

Kleines feuilleton.

das

Millionen, die sie nicht erreichten. Wenn die großen Maler die Höchstpreise bekämen, die für ihre Bilder bezahlt werden ist ein Gedanke, den Louis Gillet   in einem Aufsatz der Lectures pour Tous" ausmalt. Millionen und aber Millionen sind es, die den eigentlichen Schöpfer dieser Werte nicht erreichen, ja zumeist erst erzielt werden, wenn den Künstler schon längst die fühle Erde deckt. Manche moderne Meister sehen freilich noch diese Summen einem anderen Bestimmungsort zuströmen. Für die Bilder von Degas   sind bereits Millionen bezahlt worden, wäh­rend der große Impressionist in bescheidenen Verhältnissen lebt; aber er sieht dieser Ungerechtigkeit des Schicksals ohne Bitterkeit zu. Als man ihm den Rekordpreis seiner Werke, den Preis von 435 000 Frank für die Tänzerin an der Ucbungsstange, meldete, sagte er mit seiner brüsten Jronie:" Pah, ich bin darauf so stolz, wie das Pferd, das den Grand- Prix gewinnt: ich habe immer nur meinen Hafer!" Der Wert der Werke von Degas   hat sich bei seinen Lebzeiten bereits mehr als verzweihundertfacht.

Auch Millet erreichten die Millionen nicht, die seine Gemälde brachten und bringen. In welchem Glend hatte er den berühmten Angelus" geschaffen, der nachher für 800 000 Frant aus Amerifa