Nr. 47.- 1915.
Unterhaltungsblatt ües vorwärts
Dounerslag, 35. Februar.
Der gute Kamerad. Heiner war der gute Kamerad der Kompagnie. Er zeigte eine stets dereite Hitfswilligkeit und, was noch bester wirkte, einen numer sprudelnden Humor. So hatte er es gehalten in der Werk- statte, so hielt er es im Felde. Aber noch etwas stak in ihm. Er trug in seinem Herzen das Ideal des modernen Arbeiters, tat da- ■für seine Pflicht und hielt ihm die Treue. Was er in der Schule des Sozialismus gelernt hatte: Solidarität üben, Mensch sein und seine Pflicht tun, das übte er im Felde. Als er am dritten Mobilmachungstage einrücken mutzte, nahm er Abschied von seiner Frau und seinem dreijährigen Buben: „Mutter," sagte er,«die meisten Kugeln machen nur ein Loch in die Lust. Wenn aber eine da ein Loch macht"— er zeigte auf seine Brust—,„dann latz meinen Buben da nicht vergessen, was sein Vater war." Dann ging es in den Militärzug und in endloser Fahrt zur Grenze. Auf allen Bahnhöfen gab es Liebesgaben in überreicher Fülle. Mancher nahm mehr, als er brauchen konnte..Jungens," rief er diesen Kameraden zu,.nach den sieben fetten Fahrttagen iss'men die sieben mageren Marschtage." Und es kam so. Vor der Grenze schon mutzten sie aus dem Eifenbahnzug heraus, und nun begann das Marschieren. Und da war es unser Heiner, der dann immer noch etwas in seinen Taschen hatte und den Kameraden davon gerne mitgab: ein Stück- chen Schokolade, Dauerwurst, ein Priemchen, eine Zigarre. Seine Kameraden wunderten sich über die unerschöpflichen Taschen. Er aber lachte nur:„Das kommt ganz drauf an, wo man'ne Sache hinsteckt, wenn man sie kriegt. Steck ich alles gleich in'n Mund— dann ist sie futsch— man sieht sie niemals wieder. Steckt man nicht alles in'n Mund und mehr in die Tasche, dann ist immer was da zum Schnabulieren." Beim Marsch kam es Heiner gar nicht darauf an, einem Käme- raden einmal das Gewehr zu tragen, wenn er sah. datz es gar nicht mehr gehen wollte. Dabei hat er, selbst in dem glühendsten Sonnenbrand des Augustmonates, noch immer einige Wne in der Kehle, die er zu einem Liede formen konnte. Und gingen ihm diese aus, dann langte es immer noch zum Pfeifen. Beim Aufbruch war Heiner immer am ersten fertig und konnte seinen Nebenmännern stets ein wenig beim Umschnallen behilflich sein. Als sie die Grenze überschritten, sagte Heiner mit seiner klangvollen Stimme, die man weithin hörte: „Jungens, jetzt müssen wir uns zusammenreitzen. Wenn uns die Leute hier marschieren sehen, müssen sie sagen: Das sind Kerle! Und wenn wir ins Quartier zu ihnen kommen, müssen sie sagen: Das sind Menschen!" llnd wie es Heiner gemeint hatte, so geschah es, wenigsten» bei seinem Zug. Sie schieden von keinem Quartierwirt, der, so böse er auch bei ihrem Kommen geblickt hatte, ihnen beim Abschied nicht die Hand gedrückt hätte. Besonders bei den Frauen und Kindern wutzte sich Heiner in kurzen Stunden beliebt zu machen. Mit den Frauen, deren Männer oft im Felde waren, versuchte er in Zeichen- spräche oder mit Hilfe seines französischen Taschenwörterbüchels zu reden und sie zu trösten. Mit den Kindern hatte er immer Zeit, Hopplahopplareitcr zu machen, und etwas, waS ein Kinderherz er- freut, fand er stets noch in seinen Taschen. So kam Heiners Abteilung ziemlich durch ganz Belgien bis an die französische Grenze. Da kam es zum ersten Gefecht. Als die ersten Granaten daher kamen, flogen Seiners Gedanken unwillkür- lich zu Frau und Kind zurück. Einen Äugenblick. Zu seinem Neben- niann in der Schützenlinie raunte er:.Mensch, ich glaub, es ist uns ein bitzchen schwummerig ums Herz. Da mutzte denken, wie bei cnier gefährlichen Arbeit: Es kann ein Unglück geben; es braucht aber keins zu geben. Und wenn'S eins gibt, patz auf, datz es keinen anderen mitreitzt. Und so tue deine Pflicht." Kaum hatte er das gesagt, da krachte es über ihnen, und Heiner» Nehenmann schrie auf:.Ich Hab' meinen Teil weg!" Heiner sah aber nicht auf ihn; er starrte nach dem Hauptmann, der halb auf den Knien liegend, scharf hinüber zum Feinde spähte. Er dachte sich, jetzt wird's gleich kommen, ritz seinen Tornister herunter und stellte ihn vor den Kopf HeS Nebenmannes:.Mich drückt der Affe»nd Dich schützt er vielleicht davor, datz sie Dir auch noch ein paar Löcher in den Kopf schmeitzen." In diesem Augenblick klang des Hauptmanns scharfe Stimme: „Sprung auf! Marsch, marsch!" Das ritz Heiner empor und über das Feld hin auf die feindlichen Batterien zu. Noch ein paarmal mutzten sie sich hinschmeihen und wieder aufspringen. Mancher blieb freilich liegen— dann hatten sie die Batterie. Heiner drang zuerst zwischen die Feldgeschütze..Mensch," schrie er einem feind-
lichen Kanonier zu,.schmeitz Deinen Säbel weg— ich will Dich doch nicht totmachen." Ob ihn der Engländer verstanden hatte?— Er warf sein Seitengewehr weg und ergab sich. Heiner aber keuchte vor Aufregung, indem er mit dem Gewehrkolben an die Kanone schlug:„So, Luder, Du schietzt keine Menschen mehr tot." An diesem Tage war Heiners Kriegsarbeit getan. Zwei Tage darauf lag Heiners Kompagnie bei Bernisart in Quartier. In der Nacht galt es, Streiswachen in die Umgebung auszuschicken. Es war eine gefährliche Gegend. Heiner trat um elf Uhr mit einem Kameraden seinen Gang an. Sie mußten die Straße bis zum nächsten Weiler abpatrouillieren. In der milden Augustnacht schritten die beiden Männer dahin, scharf links und rechts aus- spähend. Es war so still, leise nur rauschten im Nachtwind die Blätter der Pappeln, die die Straße einfaßten. Sein Kamerad er- zählte Heiner; von daheim erzählte er, von seiner Frau, die jeden Tag niederkommen mühte. Heiner hörte schweigend zu. Als sie in die Nähe der Häuser kamen, sagte Heiner kurz:„Du bleibst jetzt ein bissel zurück. Du mutzt erst noch Vater werden." Dann ging er vorsichtig vorwärts. Er war noch keine dreißig Schritte von seinen: Kameraden weg zwischen den ersten Gebäuhchkeiten, da krachten mehrere Schüsse. Heiner brach zusammen. Noch konnte er rufen: .Zurück, Kamerad!" Zwei Schüsse hatten ihn in die Brust getroffen. Die Hand wollte das sickernde Blut zurückdrängen; bitter murmelte er:.Die dummen Menschen— ihren ganzen Ort stürzen sie in'S Unglück!" Dann sah er tröstlich nahe seine Frau mit dem Buben auf dem Arm; er wollte aufspringen und ihr entgegen gehen, da versank alles vor ihm und um ihn-- Am anderen Tage vollzog die Kompagnie das Strafgericht am Orte, in dem Heiner gefallen war. Jetzt steht ein Grabkreuz auf freiem Felde im Hennegau , nahe der französischen Grenze. Ein- fach ist die Inschrift:„Hier ruht der gute Kamerad." Darunter steht die Regiments- und Kompagnienummer. So.
Ckn Schlachtengesang. In seiner Schilderung des„Sturmes auf Humin" übermittelt W. C. Gomoll in der.Köln . Zeitung" einen höchst dramatischen Eindruck von der ungeheuerlichen Musik des Artilleriekampfes. Ueber die vielen landläufigen Kriegsberichte erhebt sich seine Dar- stellung durch die Kraft des Ausoruckes und Anschaulichkeit der Darstellung. Gomoll schreibt: Mit einem wahren Höllenlärm setzte das Schlachtkonzert ein. Eine große Zahl Batterien waren aufgefabren und sandten den Russen ihren eisernen„Segen" hinüber. Feldkanonen, lS-Zeuti- meter-Haubitzen, Itl-Zentimeter-Flachbahngeschütze, dazu 21-Zenti» meter-Mörser und, um den Gabenreichtum voll zu machen, auch die bundesbrüderlichen 30-Zentimeter-Mörser jauchzten in den Morgen- gesang der Artillerie hinein. Ein dumpfes Getöse brandete rund um Bolimow ; denn hinter, vor, rechts und links seitwärts der Stadt standen die Geschütze in Batteriegruppen und durch die Luft zog ein schrilles Pfeifen, ein Helles Heulen, wenn Salve auf Salve rollend dem Feinde entgegenfuhr. Wie wilde Sturmvögel schössen die Granaten aus den dunklen Rohren hinaus, und nachdem das Auge sich auf die Erscheinungen eingestellt hatte, konnte man sie gut scharenweise in hohen Bogen davon ziehen sehen. Vor den Geschützmündungen flammten unablässig grelle Feuerscheine auf. Die Rohre von den Kanonen, Haubitzen und Flachbahngeschützen bockten in den Lafetten; die Geschütze hoben sich, sprangen, duckten sich, sie stießen dampfend die langen spornbewehrten Schwänze in die Erde; doch dann standen sie wieder, nachdem sie sich aufgerichtet hatten, als wäre nichts geschehen. Jedes einzelne dieser Kriegs- instrumente glich einem edlen Tier, einem Renner, der aufbäumt in Wildheit und entschlossen in Kraft. Ungeheuer war das Getöse der Geschütze: denn man kann wohl sagen, daß in jedem Augenblick aus ö<Z0 bis 600 Rohren das entsetzlichste Feuer auf die feindlichen Stellungen von Humin hinübergeschickt wurde. Dumpf grollend schlugen die Mörserschüsse dazwischen, die alle der Ortschaft selbst galten; denn Humin mutzte vom Erdboden verschwinden, die Schlupflöcher der Russen darin mutzten zusammenstürzen. Ein eigenes Erlehnis für jeden einzelnen, der vorüberkam, der einen Augenblick verweilen konnte, war dos Feuern der öfter- reichischen Mörser. In diesem Schlachtenkonzert nahmen sie als Instrumente eine besondere Stellung ein. Peinlich genau nach der Uhr befohlen und beobachtet, schössen sie. Ein ungeheures Sausen, ein Aechzen und Jammern durchfuhr die Luft. Nicht der Knall, nicht der furchtbare Donner im Äugenblick des Abfeuerns machte den höllenmätzigen Spektakel, sondern das unheimliche, gewaltig
erregende Aufheulen deS fast steil durch die Luft davonjagenden Riesengeschosses erschütterte und ließ den Körper zusammenfahren. Es war jedes Mal, als ob ein au» der Erdtiefe emprogestf egenc. Gigant aufschluchze. Wie eine wilde Jagd zügellos entfesselter Elemente stieg die Gewalt des Geschosses aus dem Geschützrobr in die Höhe. Ein Aufschrei entsetzlichster Art, ein Zittern un' Beben entstand in der wild durchrissenen Luft, ein langanhaltendes. ftotzendes, zischendes Wirbeln schoß orkanartig zur Höhe hinaui. klang durch Sekunden fort und entschwand in der Ferne wie etwa: ganz Rätselhaftes, ganz Ungeheuerliches... Von einem Flammen- schein umgeben, grell uurbrandet von blendendem Licht, von einer Feuergarbe Hochauf umloht, zuckle das gedrungene Rohr des Gr schützes im Augenblick des Abfeuerns zurück... Staubwolken wirbelten auf; sie mischten sich Grau in Grau und Braun mit den' aufsteigenden, das ganze Geschütz für einige Augenblicke vollkommen verhüllenden Pulverdampf, und aus der Lust nieder ftelen noäi minutenlang die Stücke des in Hundertc von Fetzen zerrissenen Deckels der Kartuschladung... Wie mußten sich nach jedem Schusse die schweren Haubitzen und selbst die Ll-Zentimeter-Mörser. die sonst im Schlachtenkonzert das große Wort sprechen, zusammen nehmen, um gehört zu werdeu!... Eine ganze Batterie kam nicht gegen einen der österreichischen Mörserschüsse an. Sie bellte heiser und dünn gegenüber der Stimme des RieseninstrumenteS.� Ein Schlachtengesang, wie ich ihn noch nie zuvor gehört habe. wie ihn überhaubt wohl bisher nur wenige Menschen vernommen haben, drang an diesem Morgen an mein Ohr. Merkwürdig, aus dem wilden Kriegsgetümmel heraus, aus dem Gedröhne der Mörser. aus dem Gestampfe der Haubitzen, aus dem Singen und Pfeifen der Feldgeschütze, suchte ich nach Beispielen, nach Vergleichen, und was stand vor mir?... Goethes gigantische Geisteskraft, Beethovens Genie, seine himmelanjagende, sturmschwere, oft mit Urgewalt gesättigte Musik!... Bei aller Furchtbarkeit des Gc schehens: Musik, Sturmgesang, wunderbarste Kraftäutzerung war der ungeheure Geschützdonner, war das Getöse, das die Lust erbeben Uetz, ehe sie sie mit Stimmen erfüllte, als seien alle Geister der Hölle im Kampfe gegen die Heerscharen des Himmels aufgeboten worden. Inmitten all des Sturmes fiel mir Meister Liliencron ein, der Held und Schlachtensänger:„Wo steht der Feind?... „Ist das ein Strauß, ist das ein Streiten: Ter Wolf kam rings von Berg und Tal, Kaum kann ich meinen Atem weiten, Kaum lüft ich meinen Helm einmal. Gelingt der Sieg, wird eine Hand, Wird abends eine kleine Hand Die heiße Strin mir kühlen., ,* Einmal über das andere Mal haben wir in den Stunden diese? wild und heftig tobenden Artillcriekampfes im Stillen gedankt, datz nicht den Unfern der Granatsegen über die Köpfe geschüttet wurde-, denn bei der Fülle konnte die Wirkung nicht ausbleiben. Im Lause des Morgens hellte das Wetter auf, und so gewannen die Artillertc- beobachter, die, eng nebeneinander gedrückt, oben in den beiden Kirchtürmen von Bolimow saßen, auch eine gute Sicht: sie konnten das Artilleriefeuer zweckentsprechend dirigieren. Das Telephon übermittelte die Befehle, das Scherenfernrohr kontrollierte die Schutzwirkungen: denn man sah deutlich, wie in der Entfernung von einigen Kilometern der Geschotzbagel auf die feindlichen Gräben niederstürzte. Hochauf sprangen bei den Einschlägen die Erd- fontänen. Ueber den russischen Schützengräben lag eine lang. gestreckte weiße Pulverwolke, die, in sich auf und ab brodelnd, eme große wogende Wand bildete. Und dahinter, gegen Hümmerich- teten die Mörserbatterien, die deutschen wie die österreichischen, ihr verheerendes Feuer. Ungeheuer war der dumpfe Donner der Geschütze, die Heftigkeit des Artilleriekampfes, durch den der Feind erschüttert werden sollte. Die Luft war wie von wild ausgeteilten Gigautenhieben in Aufruhr versetzt. Das pfiff und heulte, da» schrie, klagte brauste wie Meeresbranden, wie unholdmatzig grol- leudes Ungewitter, dröhnte mit hundertfältigein scharfen Echo, und dazwischen brachen mit dumpfem Knall die gegnerischen Granaten nieder, denn der Russe antwortete, er schickte unfern Linien ischrap nells entgegen, suchte unsere Geschütze in der Rawkaniedcrung, streute nach seiner Kanipfart das ganze Gelände mit„Schwarzen Säuen" ab. In den Rawkagrund, die breite sumpfige Fluyniede- rung, brachen die Granaten ein; sie durchschlugen die Eisdecke, die mit ungeheurem Getöse brach, während aus der aufgewühlten Tiefe die Moorwasserfontäncn dunkel in die Höhe spritzten. Bret oder vier Schüsse bohrten sich in den Rawkagrund nahe des Damin- futzes der Straße ein, alle ohne Schaden anzurichten. Vor und hinter den Batterien lagen die Sprengpunkte, die russischen Cin-
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Ueberfluß.
Ter Brief war von seinem Vater. Nach einigen Mit- tcilungen allgemeiner Art�stand da: „Deine Gründe, den S-tab über mich und mein Tun zu brechen, verstehe ich nicht, aber ich will gern zugeben, datz Du als mütziger Zuschauer freie Hand hast. Derjenige, der selber keine Stellung zu den Erscheinungen des Lebens einnimmt, bleibt naturnotwendig frei von jeder Kritik, aber ist das so verdienstlich? Es mützte eher dazu auffordern, gegen andere schonend vorzugehen. �ch will übrigens nicht versuchen, mich zu verteidigen,— vielleicht kann ich es auch nicht, jedenfalls mag ich nicht. Wenn Du so hoch stehst, inein Junge, stehst Du nach meiner Ansicht auf unseren Schultern, und wir könnten wohl von Dir ver- langen, daß Du uns nicht auf den Kopf spuckst. Sonst ließe sich wohl viel sagen, was für mich befrie- digend wäre; aber nichts davon wäre es für Dich,— so verschieden sind wir, und das liegt wohl meist an Alter und Er- sahrung. Es gehört Selbstbewußtsein und Unreife dazu, ein höhnisches Urteil aufzustellen, aber mit den Jahren verliert inan beides. Gleich Dir und allen bin auch ich ein Produkt ganz be- stimniter Verhältnisse und werde von ihnen wie ein Stück Treibholz auf dem Meere umhergeworfen. Ich habe wie Du den Willen einzugreifen, und es bleibt notwendigerweise beim Willen. Uns allen fehlt das selbstbewegende Element, das uns eine eigentümliche(naturwidrige) Geschwindigkeit unserer Umgebung zum Trotz verleihen würde. Im übrigen bin ich derselbe wie immer, und ich habe nichts dagegen, datz Du etwas von Deiner guten Galle an mich verschwendest— vorausgesetzt, datz Du selber Linderung dadurch gewinnst. Dein Vater." Karl las den Brief nochmals von vorne. Er enffann sich nicht mehr recht, was er selber geschrieben hatte; es handelte sich ja wohl um die Stellung des Vaters zur Mutter, aber die ganze verbitterte Stimmung von neulich war verschwun- den. Er mußte etwas hart geschrieben haben, härter, als er gewollt hatte, denn der Vater war zugleich zornig und betrübt. Und was ging es ihn denn an, was die Mutter tat und wie der Vater sich dazu stellte? In diesem Punkte hatte der Vater recht; das Recht der Jahre und der Erfahrung, das
ganze unheimliche Recht der Selbstaufgabe war auf des Vaters:S>cite. So war es! Man mutzte lächerlich jung und unerfahren sein, um überhaupt etwas Selbständiges von sich oder anderen zu erwarten.� Die Menschen schlenderten durchs Leben wie eine Herde Schafe, wo jedes einzelne Geschwindigkeit und Richtung der ganzen Herde einhielt. Kein bestimmender Wille, nur Zufälle und ein Mit-dem-Strom-Treiben. Histo- risch gesehen, erinnerte der Entwickelungsgang an das idio- tische Taumeln eines nüchternen Kalbes, wenn es sich zum erstenmal aufrichtet und mit geschlossenen Augen und sabberndem Munde schwankend auf einem Fleck steht— und nur von der Stelle kommt, weil es von Zeil zu Zeit das Gleichgewicht verliert. Die Intelligentesten waren mit in der Schafherde. Der ganze Unterschied zwischen ihnen und den anderen bestand darin, datz sie sich ihres Mitschlenderns bewußt waren, es als unwürdig empfanden und sich auf die Erfahrung beriefen, um seine Unumgänglichkeit festzustellen. Seine ersten Schritte würden dem Eintritt in die Herde gelten, seine nächsten un- willkürlich darauf ausgehen, Tritt und Richtung zu halten, denn es gab überhaupt keine andere Form für das Leben als dieses zufällige, willenlose Vorwärtsschieben der Herde. Und da wollte er mit dem Vater ins Gericht gehen, der jedenfalls das vor ihm voraus hatte, datz er ehrlich war und die Dinge nüchtern betrachtete! Else brachte ihm seinen Ueberzieher, den sie ausgebürstet hatte. Still kam sie und stand mit unsicherem Lächeln vor ihm: „Du stehst so mißmutig aus, geht es Deinen Eltern nicht gut?" Er zog sie auf seinen Schoß und küßte sie heftig: „Gewiß, es geht ihnen so gut, wie sie's verdienen— so ist es init uns allen, nicht wahr?" „M i r geht es viel, viel besser. Aber Du darfst mich nicht so oft küssen. Mutter sagt, meine Lippen wären in der letzten Zeit so voll geworden." „Das sind sie, und Dein Busen und Dein Blick auch. Du gleichst einer schönen Blume, die im Begriff ist, sich zu ent- falten." „Das kommt daher, weil Du mich liebst. Du Teurer" sagte sie und errötete vor Freude.„Aber Du bist gar nicht so froh: ist es denn nicht schön, einander lieb zu haben?" „Doch, aber ich bin so unglücklich veranlagt, daß ich alle-Z in die verkehrte Kehle bekomme. Ich gehöre geWitz gar nicht ins Leben hinein, ich hätte eine Distel oder ein StachelkaktuS, allerhöchstens ein Igel werden sollen— irgend etwas, das sich
zusammenrollen und nach allen Seiten die Stacheln zeigen könnte. Dann würdet Ihr Euch alle an mir stechen." „Aber dann stäche ich mich ja auch an Dir, wenn ich Dich an mich und die beiden Kleinen hier zöge, von denen Du selbst sagst, sie wären so lieb; das wäre doch unrecht." Sic preßte seinen Kopf an ihre Brüste. Es war mildes, feuchtes Herbstwctter; der Weiße Nebel verhinderte die Aussicht: als feiner Staubregen trieb er Karl entgegen, als er seinen Morgenspaziergang machte. Der Weg war morastig; naßkalte, säuerliche Dünste stiegen aus Gräben und Feldern empor, füllten die Luft mit einem Geruch nack rohem Fleisch und reizten die Geruchsnerven, so datz er aus dem Scheitel ein Reißen verspürte. Als die Bäume des Kirchhofs in schwachen Umrissen aus dem Nebel auftauchten, mutzte er an die Zeiten in Kopen- Hägen denken, wo er verzweifelt ums Leben gekäinpft hatte und beim bloßen Anblick eines Sarginagazins in Angstschweiß geraten war.-„Seltsani! Seltsam!" dachte er und bekam Lust, auf den Friedhof zu gehen, wo der große, stärkende Fäulnis- Prozeß unr ihn her doppelt kräftig wirken umtzte. An der Ecke des Kirchhofs saß eine verhüllte Frauen- gestalt und starrte in versteinerter Ruhe in ihren Schoß. Aber Plötzlich hob sie den Kopf, und beim Anblick ihres Gesichts zuckte Bauder zusammen. Sie erhob sich schnell und stand sonderbar groß gegen den Nebel und die helle Kirchhofsmauer, dann drehte sie sich um und ging langsam vorwärts, so datz er sie einholen mußte. Es war Frau Sörensen. Er war fest entschlossen, geradeaus zu wandern und über sich ergehen zu lassen, was kommen mutzte; aber sein Herz be- gann heftig zu klopfen, und eine unerklärliche Angst erfüllte ihn; unwillkürlich bog er an der Ecke ein und ging durch die Kirchhofspforte.„Das war ja auch meine Absicht, bevor ich sie sah," dachte er zur Entschuldigung. Er suchte eine Bank unter einer Traueresche auf, deren Zweige im Sommer ein geschlossenes Laubverstcck bilden inutzten; dort saß er und spähte mit fieberndem Blut wie ein Verfolgter. Von Zeit zu Zeit sah er ihren Kopf über der Mauer als dunkeln Fleck im Nebel— sie fuhr fort, sich vom Kirchhof zu entfernen. Er hatte sich nach einem besseren Versteck umgesehen, gab es aber wieder auf und lachte ein wenig über sich und seine Angst. Sie wollte ja selbst eine Begegnung vermeiden, da sie aufstand und wegging, als er kam; sie war natürlich ausgc- bracht, weil er ihr die Blumen zurückgeschickt hatte. (Forts, folgt.)