Nr. 167.- 1915.
Unterhaltungsblatt öes vorwärts
Zounabklld, 24. lull
Im Dienste öer Zortpstanzung. Von Dr. A. L i p s ch ü tz. Auf der Ausstellung für Gcfundheitspflege, die im dorigen Jahre in Stuttgart   stattfand, hing in der Ableitung.Die Frau und Mutter" eine Tafel, die der Tübinger   Profestor Sellheim ausgestellt hatte. Auf der Tafel war graphiich zur Darstellung gebracht, was die Frau im Dienste der Forlpflanzung zu leisten habe. Gewöhn- liche Wachslumslurven waren auf die Tafel gezeichnet, und diese einfachen Kurven und trockenen Zahlen sprachen ganze Bände. Die Frau wächst bis zum 18. Lebensjahre heran und hat ein Gewicht von etwa SV Kilogramm erreicht. Nehmen wir an, dah das das Endgewicht ist, das die Frau erreicht, ein großes Durchschnittsgewicht, um das die Zahlen »ach unten und oben schwanken. Nun verliert die normale Frau jeden Manat eine gewifie Menge Blut, das Menstruationsblut. Die Gesamtmenge des Menstruationsblutes beträgt im Jahre etwa S Kilogramm. Da die Menstruation im großen Durchschnitt bei der normalen Frau bis zum IS. Lebensjahre anhält, so verliert die Frau vom 18. bis 15. Lebensjahre insgesamt etwa 54 Kilogramm mit dem Menstrualionsblut. Es mutz also die normale Frau für die Leistung der Menstruation insgesamt um etwa 5V 55 Kilo gramni wachsen, mit anderen Worten: während deS gesamten Menstruationsaiteis leistet die normale Frau ein Wachstum, das mindestens so viel ausmacht wie das Gewicht ihre» Körpers. Nun nehmen wir an, die Frau habe im Lause von 27 Jahren, vom 18. bis 45. Lebensjahre, sechs Kinder erzeugt und habe die Kinder zum Teil selber gestillt. Für den Aufbau der Leibesfrucht, für die Lieferung der Nahrung dieser sechs Kinder und für die dazwischen liegenden Menstrualionen wächst die Frau bis insgesamt IVO Kilo- gramm im Dienste der Forlpflanzung, Eine solche Frau leistet also im Dienste der Fortpflanzung doppelt soviel als für ihr eigenes Wachstum. Sowohl eine Frau, die Kindern das Leben schenkt, als eine Frau, die niemals geboren hat, leistet somit im Dienste der Fort- Pflanzung ganz gewaltiges, sei es, datz sie für die Leistung der Menstrualion soviel an Körpergemicht aufbringt, als ihrem eigenen Körpergewicht entspricht, sei eS, datz sie, wenn sie Kindern das Leben geschenkt hat, das doppelte von ihrem eigenen Körpergewicht aufbringt. So ist die Arbeit, die die Frau im Dienste der Forlpflanzung leistet, außerordentlich groß. Bedenkt man nun, wie groß die Zahl der Kinder ist, die -heute schon im Laufe des ersten LebenszahreS zugrunde gehen, so wird man verstehen, datz die Frau im Dienste der Fortpflanzung ungeheuer viel zwecklose Arbeit leistet. In den Vereinigten Staaten   von Nordamerika   stirbt etwa der zehnte Teil der lebend- geborenen Kinder im ersten Lebensjahr, in Deulschland etwa der fünfte Teil, mehr noch in Rutzland und in manchen Teilen Deutsch  - lands. Die Tatsache, datz in manchen Ländern, wie zum Beispiel in Schweden  , die Kindersterblichkeit blotz 7'/, Proz. beträgt, sogt uns, datz man durch geeignete Matznahmen es erreichen kann, datz die Kindersterblichkeit geringer wird. Sie ist auch tatsächlich im Laufe der letzten Jahre, wo die Oeffentlichkeit der Frage der Kinder- sterblichkeit mehr Interesse entgegengebracht hat, überall geringer geworden. Vielleicht auf keinem anderen Gebiete der Gesundheit?- pflege kann so viel mit sozialen Matznahmen geleistet werden, wie in der Bekämpfung der Säuglingssterblichkeit. In letzter Linie ist der Kampf gegen die Säuglings st erblichkeit ein Kampf gegen dieVergeudung vonKräftenderFrau, ein Kampf gegenVerschwendung vonKraft, die von der Frau d a z u v e r w e n d e t w e r d e n k ö n nt e, um den eigenen Lebensgenuß und den Lebensgenuß der ganzen menschlichen Gemeinschaft zu steigern. Man kann mit gutem Recht sagen, datz es ein Zeichen deS Höhersteigens auf der Stufenleiter der EntWickelung ist, wenn die Arbeit, die im Dienste der Fortpflanzung geleistet wird, mehr und mehr abnimmt. Das gegenseitige Verhältnis zwischen Leistung im Dienste des Eigenwachstums und Leistung im Dienste der Fortpflanzung verschiebt sich im Reiche der Organismen immer mehr und mehr zugunsten der ersteren. Bei den einzelligen Lebewesen, die sich durch Teilung fortpflanzen, geht die ganze Mutterzelle in den beiden Tochterzellen auf, in die sie sich teilt. Nach der Teilung, nach der Entstehung von zwei Tochterzellen aus der Mutlerzelle ist von der letzteren nichts mehr da, sie ist in der Nachkommenschaft vollständig aufgegangen. Nach- dem im Laufe der Entwicklungsgeschichte der lebendigen Or- ganiSmen vielzellige Tiere und Pflanzen entstanden waren, war die Möglichkeit dafür gegeben, daß der elterliche Or- ganismus die Geburt der Nachkommenschaft überlebte. Nur
bestimmte Zellen deS vielzelligen Organismus blieben im Dienste der Fortpflanzung, die sogenannten Fortpflanzungs- zellen, die Eizelle und die Samenzelle. Aber bei manchen viel- zelligen Organismen ist die Leistung im Dienste der Fortpflanzung doch noch ungeheuer grotz geblieben. Die Mengen der Fort- Pflanzungszellen, die von den einzelnen Arten produziert werden, sind zuweilen außerordentlich grotz und machen«in Vielfaches vom Körpergewicht der Elterntiere auS. Man denke nur an den laichenden Frosch, an den laichenden Fisch, an zahlreiche Insekten, ebenso an die ungeheueren Mengen von Zellen und von Samen, die die Pflanzen produzieren. Es ist im Dienste der Fortpflanzung in der freien Natur eine ungeheure Verschwendung von Kraft, wenn man die Sache von unserem menschlichen ökonomischen Standpunkte be- trachten wollte. Von besonderem Interesse find in unserem Zusammenhang jene Fälle, wo der elterliche Organismus das für die Entstehung der Nachkommenschaft nötige Raummaterial direkt von seinem eigenen Fleisch und Blut hergibt, weil er während der Entwicklung der Fortpflanzungszellen oder während der Tragzeit keine Nahrung auf- nimmt. Daist an erster Stelle der Rhein lachS zu nennen. Wenn der Nheinlachs sich zum Laichen anschickt, dann ziehen die Weibchen und Männchen vom Meere entgegen der Strömung den Fluß hinauf. Im Laufe von V, Jahren nehmen die Tiere keine Nahrung zu sich, sie hungern. Beim Schwimmen gegen die Strömung müssen sie natürlich eine große und anstrengende Arbeit leisten. So nehmen sie im Laufe der 8 bis ä Monate natürlich außer- ordentlich an Gewicht ab und im Oberrhein sind die Lachse, die hier ihre Laichzeit durchmachen, ganz abgemagert. Ihr Gewicht beträgt nur etwa die Hälfte von dem, was ein Lachs sonst zu wiegen pflegt. Obgleich nun die Tiere in dem langen Hunger und bei der schweren Arbeit so abgemagert sind, und soviel an Körpergewicht eingebüßt haben, sind ihre Geschlechtsorgane zu stärkster Entwicklung gelangt. Das Gewicht des Eierstockes, das beim Lachs zu Beginn seiner Wanderung den Rhein   hinauf vielleicht nur Va» vom Körper­gewicht de« Tieres ausmacht, beträgt nunmehr beinahe 30 Prozent vom Körpergewicht. Das Gewicht des Eierstockes nimmt etwa um das fünfzigfache zu. In ähnlicher Weise verhält eS sich mit dem Hoden, dem männlichen Geschlechts- organ. Eierstock und Hoden sind von Fortpflanzungszellen prall gefüllt, während alle anderen Organe, namentlich die Muskeln deS Tieres an Gewicht ganz außerordentlich ab- genommen haben. Der Rheinlachs schmilzt also seine eigene Körper- substanz ein, um sich ganz in den Dienst der Fortpflanzung zu stellen. Es ist ein großes Opfer, das der Rbeinlachs der Fort­pflanzung bringt. Ein anderes hübsches Beispiel, wie man im Reiche der Organis- men der Fortpflanzung dient: ein in Chile   lebender Frosch, EMno- denna Darwinii genannt. Das Männchen ist es hier, das uns wegen seines Dienstes in Sachen der Fortpflanzung ganz besonders ins Auge fällt. Nachdem die Eier von Bchmodsrina Darwinii in ähnlicher Weise beftuchtet worden sind, wie bei unseren Fröschen, verschluckt das Männchen die Eier und schiebt sie in die Kehlsäcke, die Schallblasen, mit denen die Froschmännchen bekanntlich die schöne Froschmusik zu machen wissen. Ein Rhinodermapapa nimmt insgesamt bis 15 Eier in seine Kehlsäcke auf. Hier ent- wickeln sich nun die Eier, die die Kehlsäcke füllen. Die Kehlsäcke drücken auf diese Weise auf die Speiseröhre und den Magen des Rhinodermapapa, der nun nicht anders kann als hungern. Für die ganze Tragzeit seiner 15 Jungen ist er auf Hungerdiät gesetzt. Aber noch mehr. Was das Ei an Dottetmaterial, an Nährstoffen von der Mutter mitbekommen hat, das reicht bei weitem nicht aus für die ganze Entwicklungszeit, die die Nhinodermabrut im Kehlsack von Papa verbringt. Die jungen Fröschlein könnten nicht weiter in ihrer Entwicklung, wenn es da keinen Ausweg gäbe. Der ist aber auch da. Die Naturforscher, die die Enlwickelung der Eier in den Kehlsäcken des Rhinodermapapa verfolgt haben, find der Meinung, datz schließlich die Zeit kommt, wo die jungen Fröschlein sich an die Wand der Kehlsäcke fest anpressen, und datz in ihre Blut- gefätze dabei Nährstoffe aus den Blutgefäßen des Froschvaters über- lreten, ähnlich, wie es bei den lebendgebärenden Tieren ist, wo es schließlich zur Entwicklung eine« Mutterkuchens kommt. Der Frosch- Vater gibt also von seinem eigenen Fleisch und Blut her, während er selber hungert. Im Laufe der Tragzeit büßt er sehr viel von seinem Gewicht ein und magert schließlich bis zum Skelett ab. Dann erst speit er die fünfzehn munteren Fröschlein in die Welt aus. Sehnliche Beobachtungen hat man auch bei Fischen in Indien  gemacht, die der Klasse der Welse angehören. Die Männchen schlucken die befruchteten Eier und behalten sie in der Mundhöhle, wo die Eier zur Entwicklung gelangen. Die ganze Mundhöhle der
Tiere ist dabei von Eiern voll, und die Männchen haben einen voll- kommen leeren Darm... Eine ganze Menge, waS im Dienste der Fortpflanzung geleistet wird. Und es will sogar scheinen, datz der.Sinn des Lebens", den wir Menschen manchmal suchen, die Fortpflanzung ist. Wir suchen einen Halt im Leben, etwas, was uns das Leben zu erfüllen vermag. Und stünde vor uns nicht das Kind, die Nachkommenschaft, wir fänden diesen Halt manchmal nicht. Jeder von uns, der über den»Sinn des LebenS  " zu denken begonnen, jeder von uns, der zu zlveifeln angefangen, findet erst wieder Ruhe beim Kind. Wir stehen alle samt und sonders, mit all' unserem Denken und unserem Tun, mit unserem Wollen und Streben, mit unserer Freude und unserem Schmerz, mit unserer Liebe und mit unserem Haß, ganz und gar im Dienste der Fortpflanzung. Das ist der.Sinn des Lebens". Gehet also hin und tuet eure Pflicht gegenüber dem Kinde.
Im Weichsellanöe bei Iwangorsö. Der Teil des Weichsellaufes, der durch die jetzig so viel genannte Festung Jwangorod beherrscht wird, bildet die Schlagader des zu beiden Seiten des Stromes sich dehnenden Geländes, auf dem gegenwärtig die entscheidende Riesenschlacht in Südpolen geschlagen wird. Jwangorod, das früher den Namen Demblin führte, liegt an einem strategisch hochwichtigen Punkte: da, wo der Wieprz von Osten her in die Weichsel   mündet. Der Weichselstrom ist hier 200 Meter breit; die Festung selbst liegt einige Werst südlich von dem Orte, am rechten Ufer des Wieprz und nahe der ihZeichsel, so datz sie beide Ströme zugleich beherrscht. Ihre Bedeutung ist schon dadurch gegeben, daß der Weichselstrom aufwärts wie abwärts nur verhältnismätzig wenige Uebergänge bietet. Von Jwangorod abwärts bis zum Einflüsse der Pilitza strömt die Weichsel   last ohne Ans- nähme zwischen hohen, steilen und waldbedeckten Ufern, die den Uebergang erschweren, aber den landschaftlichen Reiz des Strom- laufes wesentlich erhöhen. Jnimer parallel mit dem linken Flutzufer läuft die alle Haupt st ratze von Warschau nachLublin, die erst südlich von Jwangorod die Weichsel   überschreitet. Un- mittelbar am Strome sind bedeutende Ansiedelungen nur selten. t wischen Jwangorod und der österreichischen   Grenze ist derjenige eil des Weichsellaufes am intereffantesten und belebtesten, wo die Warschau   Lubliner Straße schon von alten Zeiten her den Strom überschreitet. Dort empfängt sie auf dem rechten Ufer die Stadt P u l a w y. die auch den Namen Nowo- Alexandria führt. und die sonst von den Warschauern als Sommerfrische viel benutzt wird. Einst genoß Pulawy in ganz Polen   einen Ruhm, der fast ohne gleichen war. Das war damals, als es noch die glänzende Residenz der Czartorhskis war. Das alte Schloß dieser polnischen Adelsfamilie beherrscht noch jetzt die ganze Um- gebung und bis zur Weichsel   hinunter zieht sich der schöne Schloß- park, der u. a. eine Nachahmung des Sibyllentempels von Tivoli enthält. Der Park war von je durch die Mannigfaltigkeit und Schönheit seiner Anlagen berühmt, das Schloß reich an geschicht- lichen und Kunstschätzen, und eine ganze Reihe von Dichtern hat Pulawy, seinen Reizen und seinen Besitzern begeisterte Huldigungen dargebracht. Als aber die Czartorhskis im Jahre 1831 für die polnische Sache eingetreten waren, war auch das Schicksal dieser schönen Fürstenresidenz entschieden. Der Besitz wurde eingezogen. teils zur Reichsdomäne gemacht, teils an russische Große verschenkt, und in das geräumige Schloß wurde ein land- und forstwirtschaft- licheS Institut einquartiert. Vom Schlöffe von Pulawy aus hat man weichselabwärts Aus- ficht bis auf das Städtchen K a s i m i e r z. das gleichfalls am rechten Ufer des Stromes, in einem steil ansteigenden� Seitentale gelegen ist. Es hat seinen Namen von Kasimir dem Größen, der es erbaute und wird heute fast ganz von Juden bewohnt. Das Wahrzeichen von Kasimierz ist ein rundy: hoher Turm, jpyj, als einziger Rest der alten Burg Kasimiers des Großen einsani vom hohen Berge auf die Fluten der Weichsel   herniederschaut. Dieser Punkt des Weichsellaufes ist landschaftlich von hoher Schönheit. Bc- sonders reizvoll ist die Aussicht vom alten Kasimir- türm nach dem anderen Stromufer, wo das Städtchen I a n o w i c z liegt. Kasimierz selbst, in einem tiefen an- mutigen Tale, um welches rings im Halbkreise Felder und mannigfach belaubte hohe waldige Berge sich ziehen, ist ein Stadl- bild von nicht gewöhnlicher Schönhert. Nur drei enge Zugänge durchschneiden den Hügelkranz, der daher der Verteidigung manche Vorteile bietet. Einst war die Stadt ein großer Mittelpunkt des Kornhandels, und aus Thorn, Elbing  , Danzig  , ja selbst aus Eng- land trafen die Kaufleute in dem jetzt so einsamen und stillen
Die Crweckung öer Maria Carmen. 58j Von Ludwig Brinkmann. Euer Gnaden wissen, es ist nicht wahr! Ich verabscheue den Menschen, ich hasse ihn! Ach, ich wollte, er würde mich lieber erschlagen, als Ihr Leben gefährden. Es ist doch wirklich nicht meine Schuld, nein, gewiß nicht! Warum hassen denn Euer Gnaden mich.. Marinas Schmerz war zu ersichtlich, als datz ich nicht ge- rührt worden wäre. Sei mir nicht böse, Marina. Ich war etwas durch den Strolch gereizt und bin ungerecht mit Dir gewesen. Es tut mir leid. Werde recht glücklich, kleine Marina. Vielleicht komme ich in vielen Jahren einmal hierher zurück, und ich freue mich jetzt schon darauf. Dich dann wiederzusehen, recht froh und recht glücklich mit Dir zu fein. Und ein Andenken will ich Dir auch geben hebe es auf!" Ich bog von meiner Uhrkette ein kleines goldenes Herz ab, für das Marina stets ein großes Interesse gezeigt hat. Sie war ja eine so seltsame Mischung von Weib und Kind. In einer poetischen Laune hatte ich ihr einen großen Roman von dem Herzen erzählt, der nur einen Fehler hatte, daß er ~ Dichtung war. In Wahrheit hatte es mir einst eine etwas leichtfertige Dame in New Äork geschenkt, und ich hatte bis jetzt noch keine Gelegenheit gefunden, es wieder von meiner Kette abzunehmen. Nun aber fiel es mir ein, Marina eine kleine Freude damit zu machen. Sie umklammertß meine Knie. Euer Gnaden wollen fortgehen, für immer! Dann komme ich mit, ich darf doch, nicht wahr?" Ich fürchte, Marina, es geht nicht an. Wirklich nicht. Du paßt nicht in die Welt hinein, wohin ich gehen muß. Du bist nur schön im Gebirge. Hier allein kannst Du glücklich werden!" _Ich werde sterben, wenn Euer Gnaden mich hier lassen. So oder durch Tozo!" Marina, auch mir tut es leid, daß ich von Dir noch; aber deshalb werde ich doch nicht sterben weder so, noch durch Tozo, hoffe ich. Du liebes Kind I" Ich zog die schmächtige, schlanke Gestalt an mich. Fast wäre ich über Tozo gefallen, der um das Haus her- umlungerte, aber sicher von meiner Anwesenheit nichts wußte, da ich ja immer um diese Stunde in den Bergen zu verweilen pflegte. Er war durch mein plötzliches Erscheinen so bestürzt, daß er allen wirklichen Groll und auch die Komödie des Grolles vergaß und ehrerbietig seinen breitrandigen Strohhut zog:
Guten Tag, Don Luis!" Guten Tag, Tozo! Du kannst mir beim Aussteigen helfen, wenn Du so freundlich sein willst," erwiderte ich. Wegen einer Verletzung am Arme kann ich ohne Hilfe nicht auf das Pferd kommen." Und ich gewann Zeit darüber nach zudenken, was ich mit dem Burschen anfinge. Ich machte im Geiste alle Möglichkeiten durch: ich fragte mich, ob ich ihn auf der Stelle niederschießen oder mit der Reitpeitsche bearbeiten oder ihm nur in Worten zu verstehen geben solle, daß ich seinen Schurkenstreich kannte, oder ob ich ganz im Gegenteil ihm einen Peso für die kleine Hilfeleistung überreichen und ihm wieder Dienste bei der A. E. M. T. an- bieten solle. Mir fiel aber gar nichts ein so sagte ich danke", winkte Cyprians und Marina zu, die an der Haus türe   standen, und trabte davon. Vielleicht war es das Richtigste, daß ich gar nichts getan noch gesagt habe: er mag nun denken, daß selbst seine Mord- absichten mir gleichgültig seien: sicher das beste Mittel, einen eifersuchtentbrannten Hitzkopf etwas abzukühlen. Höhnische Milde hätte ihn nur noch mehr gereizt, Prügel hätten seine Wut gestachelt, und Menschenblut zu vergießen ist nun ein- mal keine angenehme Tätigkeit, andererseits aber hätte ich gerichtliche Schwierigkeiten bekommen und die Bevölkerung im ganzen Staate unnötig aufgebracht. Der ganze Zwischen fall gehörte meinem Gefühle nach schon der Ver gangenheit an. Ich weiß kaum, über welchen Gedanken ich brütete, als ich den glühendheißen Saumpfad hinabzog, der über den Kamm und die nach Norden abfallenden Terrassen des Ge- birges in die Ebene führt. Ich hatte nur die Empfindung, als führe ich auf einem leicht sich wiegenden Schiffe von einem erstickend heißen tropischen Hafen auf das blaue Meer hin» aus, in unbekannte, dunkle Fernen. Vorsichtig durchkreuzte ich den Rio Verde, zog langsam das jenseitige Plateau hinauf und machte einmal nur auf einer leichten Anhöhe halt, von der ich, wenn ich in das Ge- birge ging, zuerst seine schroffen mächtigen Zackenzüge ganz überblicken konnte. Nun schaute ich zum letzten Male hinüber. Die Sonne ging gerade hinter den Bergen unter, und ihre violetten Gipfel leuchteten mit goldenen Strahlenkronen in den purpurroten Himmel hinein, als wollten die erhabenen Herren in königlicher Pracht dem scheidenden Freunde ihren Äbschiedsgruß aus der Ferne senden. Je näher ich dem Hause der Maria Carmen kam, desto klarer sah ich in das Geschick des Jmparcial hinein.
Mit Wards Tode hat der Niedergang begonnen, das war sicher. Und ich dachte viel an den armen Freund, dessen Leben durch die Zahlen so seltsam gehindert, gestört, erschwert war. In den Zahlen steckt die Logik: ach ja, das mag für alle toten Dinge richtig und nützlich sein, aber für das Leben nimmer­mehr. In der Logik erfriert das Leben und wird zu Stein. Wie haben doch die Zahlen die natürlichen Bande zwischen Vater und Sohn aufgelöst und da, wo sie bestehen blieben, zerfressen! Ich mußte an den alten Samuel denken. Was ist durch die Logik der doppelten Büchführung aus dem lebens- starken Verhältnis zwischen Vater und Sohn geworden? Nichts als ein totes Geschäft. Daher der Ingrimm des Vaters, da er dabei nichts verdienen konnte, da er gerade auf seine Kosten kam und sich sein Kapital nur verzinste, anstatt einen an- ständigen Reingewinn abzuwerfen. Dieser verwünschte Schlingel von Sohn! Anstatt wie ein guter Kaufmann nur an den Geschäftsnutzen zu denken, hat er sich den Luxus eines Gefühls geleistet, hat sein Herz an ein Frauenzimmer ge- hängt und den Ueberschuß seines Lebens ihr geschenkt, ohne an den Vorteil seines Geldgebers zu denken. Ich kann mir wohl vorstellen, wie der alte Geldmann aus dem tiefsten Grunde seines geschäftsdurstigen Herzens die Sentimentali- täten seines Artur haßte: aber dennoch durfte er sagen: Einen Sohn habe ich verloren, aber kein Geld!" Das ist doch auch eine Befriedigung. Und wer war denn Mabel Thomas? Ward hatte niemals mit mir darüber gesprochen, soweit er auch sonst sein Herz mir geöffnet. Sicherlich hat er sie liebgewonnen zur Zeit, als er noch als kleiner Buchhalter in Chicago   sparte. Sicher war sie das Zarteste, Heiligste seines Herzens, das er auch dem besten Freunde nicht offenbaren mochte. Und doch hat er seine Wünsche und Hoffnungen nicht verwirklichen können weil er zu tief in den Zahlen steckte. Wie kann ein Mann daran denken ein Weib heimzuführen, wenn er all die Ueber- schüssc seines Schaffens dazu verwenden muß, die Ansprüche eines unerbittlichen Gläubigers zu befriedigen, bei dem er mit dem ersten Atemzuge tief verschuldet war. Da mußte auf bessere, freiere Zeiten gewartet werden und darüber ist er gestorben... Doch hat er dem Teuersten, was er auf Erden gehabt, noch das letzte Liebe antun wollen: er vermachte ihr sein Be- sitz tum, seinen Anteil an unserer Gesellschaft. Aber der uner- bittliche Gläubiger kam mit seinen Ansprüchen und zwang die Geliebte, das Erbteil unserem Feinde auszuliefern---. alles der Logik der Zahlen zuliebe! (Forts, folgt.)