9t. 209.- 1915. Unterhaltungsblatt Ses vorwärts Zonuabeud, 11. September. l�-Soot-Leute. Großes Hauptquartier, 31. August. Irgendwo an der sandigen Nordseeküste zwischen Sylt und Nieu- vort an einem strahlenden Sonntagmorgen fuhr es in den Hafen ein. Ein grauer Fischrücken, links und rechts eine Kette don löchern, ein schmaler grauer Turmreiter in der Mitte, hinten eine rohe Holzstange, an der die deutsche Kriegsflagge wehte so steuerte es auf uns zu. Ich dachte, ein H-Bool schliche auch über dem Wasser lautlos wie ein Tier der Nacht, aber dieses zischte, surrte, knurrte laut.Bei ruhigem Wetter hört man sie draußen von weil her" sagte der junge Flaggenleutnant. Vor und hinter dem Turm standen Männer in dunklen Anzügen ohne Kopfbedeckung. Aus dem Turm sah ein Menschenkopf. So kamen sie näher. Das Wasser rauschte über den flachen Bug. Ein junger Mann mit blauer Mütze, der vorn stand, salutierte.Bravo  , kleiner Schmidt I" rief der Kapitänleutnant vom Ufer hinüber. Dabei dachte er an ein englisches Frachtboot von 3600 Tonnen. Und dann lagen sie plötzlich an der Mauer zu unfern Füßen. Am meisten erstaunten mich die Menschen: bleich von der tage« langen Fahrt bei wenig Luft, keine wettergebräunten Seeleute, sondern Maschinenarbeiter. Sie waren sechs Tage lang auf der schmalen Linie zwischen Leben und Tod gefahren aber anstatt überquellender Freude sah ich Stille, Ge- satztheit, einer nach dem andern tauchte aus dem grauen Fisch herauf, aber niemand lachte ein Geschlecht von stummen Helden. Der Kommandant trat zu uns. Auch er in seinem schmuddligen Dienstanzug neben den blauweiß glänzenden Sonntagsuniformen seiner Kameraden wie ein praktischer Ingenieur aussehend sein Anzug fleckig von Oel   sein Gesicht etwas ruppig, weil tagelang nicht rasiert auch er bleich und ziemlich schweigsam. Das erste, was er fragt, ist der Name des bei Horns Riff gesunkenen englischen Kreuzers. Von seiner eben beendeten Fahrt sagt er nichts. Nir- g en d s habe ich so viel Schweigsamkeit gesehen wie bei den H-Bootleuten. Nur einmal, als er die Nordseekarte von einer Hand in die andere nimmt, zeigt er seinem Nebenmann einen rotangestrichene« Punkt der englischen   Küste. Der Nebenmann knipst mit dem Finger und klopft ihn auf die Schulter. Langsam schlendern wir über den Platz. Die eben angekommene Besatzung verschwindet im Badehaus. Wir werden einem U-Boots- Kommandanten vorgestellt, der uns mit in sein Boot hinunter- nehmen will. Wiederum ein junger, ein ganz junger Mensch. Nirgends habe ich soviel Jugend in verantwortlichen Stellen gesehen wie bei unserer Marine. Torpedoboots- und U-Boots-Kommandant, Marine-Flugplatzleiter und Luftschiff-Führer die meisten sind blutjung, manchmal ohne die Würde derAnciennität"(Gott sei Dank), aber immer mit dem Schwung und der Hingabe und dem Stolz, so jung und schon zu so Großem berufen zu sein. Und dann kletterten wir über ein schmales Brett in den Turm- reiter des grauen Fisches hinein. Es lag still an der Mauer. Die Wellen ebbten leise und leicht über seine breite Nase. An der geölten dicken Stahlstange, die oben das Periskop trägt, mich festhaltend, zwänge ich mich durch einen engen Eisenring hin- unier, und stehe inmitten eines elektrisch erleuchteten Wirrwarrs von Röhren, Zylindern, Kurbeln, Drähten, Zahnrädern, Ruder- ketten, Manometern, Pleuelstangen, Schwungrädern, Akkumulatoren, Sicherungen, Transformatoren, bekannten und unbekannten Heimlich- leiten. Trotz der frischen Luftzufuhr von oben liegt der Oelgeruch zuerst drückend auf unserem Almen. Da ich ausrecht stehend mit dem Kopf an die drahlbespannte Decke stoße, setze ich mich auf eine schmale mit braunem Wachstuch bedeckte Seitenbank und ganz allmählich in großen Umrissen werden mir nun die einzelnen Maschinen klar. Der junge Kommandant erklärt sein Boot. Manche allzu neugierige Frage beantwortet er mit einem lächelnden Achsel- zucken. Er klopft an eine Stelle:Hier liegen die Tanks, die mit Wasser gefüllt werden, wenn das Boot untertaucht." Er klopft auf eine Maschine:Diese Maschine preßt das Wasser aus den Tanks binaus, wenn daS Boot wieder in die Höhe soll." Er klopft in eine Ecke:Hier produzieren wir brauchbare Luft, wenn wir zu lange unter Wasser liegen." Dann macht er uns die Steuerung klar: Ime der Flugapparat immer einfacher wird, immer mehr den natürlichen Steuermethoden des Vogels sich nähert, so das U-Boot dem des Fisches. Gleich einer Forelle hin und her, auf und ab schnellen zu können, das ist das Ideal derU-Boot-Steuerung. Und in verblüffend schneller Zeit konstruieren unsere Ingenieure das, was die Natur ihrem Wesen erst durch jahrtausende lange Anpassung und Vererbung beigebracht hat. In diesem schmalen Raum ist für getrennte Offiziers« und MannschaftSräume kein Platz. Wie in der vordersten Feuerlinie des Grabenkrieges schafft hier das enge Zusammenleben in stündliche� Gefahr eine echte Arbeitsgemeinschaft. Und noch eins fiel mir auf. Das Volk schafft sich seine Helden selber, eigenwillig, ja eigensinnig. Es identifiziert heute die Erfolge der U-Boot-Waffe einfach mit diesen jungen, frischen Bootsführern, deren Figuren so recht für Massenlicbe geeignet sind. Ein einziger Blick in das U-Boot zeigt jedoch, wieviel sichere technische Hände hier zusammen- arbeiten müssen, um überhaupt die Grundloge irgend eines Erfolges zu sichern. Wie bei keiner anderen Waffe ist hier jeder Einzelne von unersetzbarem Werte. Neben dem nautischen Führer hat der technische Leiter hier überragende Bedeutung. Und für das be- wundernde Auge tauchen hinler ihm auf all die Hunderte von tech« nischen Präzisionsarbeitern, die in den letzten zwanzig Jahren emsig und heimlich gearbeitet und von denen viele bei uns und anderswo ihre Versuche mit dem Tode gebüßt haben. Wie wir in dem Bauche des grauen Fisches umherkciechen und seine Wände mit den Augen betasten wir sehen das Schallrohr, durch das der Kommandant mit den Schiffen redet, wir sehen ein paar Gewehre hängen, wir sehen Schwimmwesten, wir sehen durch das Periskop den Horizont aber immer läßt uns der Gedanke nicht los an die schwerste Stunde dieser kleinen Boote immer schwebt durch diesen engen Raum der schwarze Gedanke an den Tod. Vielleicht ist die Rechnung falsch. Bielleicht ist der Sturmangriff eines einfachen Musketiers nach sechs Stunden Trommelfeuerge- fährlicher" als eine U-Bootfahrt in die Irische See  . Dennoch wir blicken auf diese U-Boot-Matrosen, die da jetzt an den Licht- und Luftmaschinen herumputzen, mit besonders liebevollen und sorgenvollen Gedanken. Ein 28-Zentimeter-Geschiitz ist schließlich das- selbe Wunder wie dieser graue Fisch. Aber über diesem grauen Fisch und seinen Leuten liegt das Unheimliche, das Rätselhafte alles Neuen, das wir noch nicht ganz begriffen haben. Wir sind gerade beim Periskop und staunen über dies lange, verschiebbare Stielauge, dessen Verlust auch zumeist das Ende des Bootes bedeutet als sich plötzlich oben im Freien ein lautes Rufen von Hurra und Bravo   erhob. Wir kletterten schleunig hinauf und sahen von draußen ein zweites Boot heranrauschen. Die Be- mannung stand an Deck und winkte. Am Ufer, wo sich jetzt eine ganze Reihe von U-Boot-Leuten eingefunden hatten, klatschte man in die Hände und falutterte. Das Boot mußte etwas Großes voll- bracht haben, denn als der Kommandant das Ufer betrat, wurde er von allen Seilen umringt und beglückwünscht. Auch er sah aus wie ein Arbeitsmann. Das einzig Glänzende an ihm war das Eiserne Kreuz   auf der linken Brust. Auch er hatte eine Seekarte in der Hand. Und auch auf seiner Seekarte war hie und da ein rotes Zeichen. Jetzt erzählt der Flaggenleutnant von den Schwierig- leiten des modernen U-Bootkrieges, von den wütenden Kämpfen mit den zahllosen kleinen bewaffneten englischen Fischdampfern, mit Drahtsperren und Drahtnetzen. Er erzählt von Abenteuern, bei deren Anhören es uns eiskalt über den Rücken läuft lund von denen nach dem Kriege viel Zeit sein wird, zu berichten.) Aber von einem U-Boot erzählt er eine Geschichte, die wie eine alte Sage klingt. Dem U-Boot war plötzlich mitten im feindlichen Seegebiet der Kompaß zertrümmert. Ohne Verbindung mit anderen deutschen Einheiten weitab von der deutschen Küste trieb es ziellos umher, unfähig weder über noch unter Wasser die Heimat zu erreichen. Da gelingt ihm die funkentelegraphische Ver- ständigung einer deutschen Station. Plötzlich weiß man zu Hause, daß draußen viele Hundert Seemeilen weit eines von unseren kleinen grauen Fischen hilflos treibt. Was tun? Kreuzer, Torpedo- boot unmöglich. Endlich erklärt sich ein Marineflieger bereit, das Boot zu suchen. Mit Windeseile stürmt er von der Küste auf über die endlos leere graue Fläche, über feindliche Vorpostenboole und feindliche Geschwader hinweg bis er an der angegebenen Stelle das Boot findet. Der Flieger geht in kurzen Spiralen bis fast aufs Meer ein paar Rufe, ein Hurra, ein paar Flaggensignale dann wendet er langsam um und dann folgt der graue �isch der Spur des weißen Vogels, bis endlich beide die heimische Küste erreichen. Dr. Adolph Koester, Kriegsberichterstatter. Altstädtischen Rathaus. ES ist das eine zwischen dem Zifferblatt und der Glocke der Turmuhr befindliche Steinmaske in Form eines ver- goldeten. stilisterten Löwenkopfes. Bei jedem Stundenschlag tat dieser Löwe etwas, was man sonst öffentlich nicht zu tun Pflegt: er öffnete den Rachen und streckte die Zunge aus. Nicht aus Lange- weile, sondern wie man sagt um dem benachbarten Stadtteil, demKnciphof", seine Verachtung zu bezeugen. Bis zum Jahre 1721 bestand Königsberg nämlich aus drei Städtchen, die nicht nur ihre eigene Verwaltung, sondern auch ihre eigenen Mauern und Tore hatten und sich vor Zeiten bisweilen untereinander arg be- fehdeten. Als die Altstädter den Kneiphöfern wieder einmal tüchtig eingeheizt hatten(vielleicht auch umgekehrt), drückten sie ihre Gefühle für die werten Nachbarn durch Anbringung jener Spott- maske aus. Der Löwe machte solange seine despektierliche Geste, bis sich eines Tages einer der auf dem Altstädtischen Markt immer Massen- Haft vorhandenen Sperlinge auf die lange eherne Zunge setzte, im Löwenrachen verschwand und den inneren Mechanismus verdarb. Kleine Ursachen, große Wirkungen. Nicht bloß der Japper hieß von jetzt abSperlingsschlucker", sondern dieser Name übertrug sich auch auf die Gesamtheit der Königsberger. Der Japper führte seitdem nur noch ein ideelles Leben. Ein Mensch, der ein großes Maul hatte, wurde im Volk mit dem Allstädtischen Japper ver- glichen, und unmittelbar nach dem Kriege 1870/71 wurde auch ein humoristisch-satirisches Lokalblättchen nach ihm getauft, das sich aber nicht hielt. Erst unsere Zeit hat das hundertjährige Werk, das eher von einem Schmied als von einem Uhrmacher zu stammen scheint, glänzend erneuert. Es war das keine Kleinigkeit, die Arbeit nahm nicht weniger als zwei Drittel Jahre in Anspruch und die allermeisten inneren Teile desJapper  " mußten gänzlich neu her- gestellt werden. Nuu aber jappt er wieder. kleines Zeuilletoa. DerJapptt* von Königsberg. DerFranks. Ztg." wird aus Königsberg geschrieben:Dieser Tage ist ein altes Wahrzeichen um nicht zu sagen, das Wahr- zeichen der Stadt neu zu Ehren gekommen: der sog. Japper am vom»Sitzenbleiben' in öer Schule. Der Krieg hat auch die Arbeit der Schule erheblich beeinflußt. Der Unterricht ist vielfach eingeschränkt, die Lehrkräfte wechseln, und in den Volksschulen bildet die vielfach konstatierte Unterernährung der Kinder jetzt ein noch viel ernsteres Problem als im Frieden. Die Versetzung steht vor der Tür, und Eltern und Schülern er- wachsen neue Sorgen und Nöte. Da sind einige experimentelle Fest- stellungen des Leipziger LehrervereinS gerade jetzt von besonderem Interesse, die erweisen, daß oft nicht Mangel an Fleiß oder Be- gabung, sondern einfach körperliche und gesundheitliche Unzulänglich- keit die Schuld amSitzenbleiben" trägt. Wie der Vorsitzende des Instituts für experimentelle Pädagogik des Leipziger Lehrervereins O. Meyrich in derZeitschrift für pädagogische Psychologie" hervor- hebt, hat man bei psychologischen Untersuchungen der Schulkinder bisher nur selten den Gesundheitszustand der Versuchs- Personen genügend in Rechnung gezogen. Es leiden mehr Kinder an Blutarmut  , als. man gewöhnlich denkt. Der Zustand der Blutarmut   entsteht nameiitUch durch den Mangel an Hämoglobin, des in den rot«n Bwikylpeilch�n aufgespeicherten Blutfarbstoffes: Mangel an Hcvcwglobln aber hqt ungenügende Versorgung der Zellen mit Sauerstoff und'mit Herabsetzung des Energiewertes zur Folge. Vsrftlchx mit dem Sahlischen Hämometer haben nun ergeben, daß bei der Leipziger   Volksschuljugend der Prozentsatz der Kinder, deren Blutfarbstoff einer kleinen Ausbesserung bedürfte, 70 Proz. beträgt, bei der ländlichen sDors Belgershain  ) aber nur 18 Proz. Soll man das auch nicht ohne weiteres verallgemeinern, so erhellt doch, wie erschreckend ungünstiger es um den Gesundheits  - zustand der Großstadtkinder im Verhältnis zur Landjugend bestellt ist. Unter den untersuchten Schülern befanden sich auch zahlreiche Sitzenbleiber. Die meisten waren recht blutarme Kinder. DaS Zurückbleiben der Kinder hat also sicherlich in vielen Fällen nicht nur seinen Grund in zu geringer Begabung, sondern in der ge- ringeren Leistungsfähigkeit infolge physischer Unzulänglichkeit. Notize». Theaterchronik. Die nächste Erstaufführung in der V ollsbühne bringt am Mittwoch, den., Shakespeares«Kauf- mann von Venedig". Im Theater des Westens be- ginnt die Winterspielzeit am Dienstag, den 11. September, mit der Wiederaufnahme der GesangsposseDer brave Fidolin". Zuschüsse an Theaterange st eilte. Der AnfsichtS- rat der Schiller-Theater hat mit Zustimmung des Charlottenburger  Magistrats den Beschluß gefaßt, den Betrag von 33 000 M. unter die Angestellten des Schillcr-TheaterS als einmaligen Zuschuß zur Verteilung zu bringen. Rotes vlamenblut. 19j Von Pierre BroodcoorenS. Da sind sie," sagte Florine und lauschte.Natürlich sind sie bezecht." Die Stimmen sangen: Der Esel Zymbel schlagen kann, Und wer betrügt, kommt auch voran. Die Eule hockt in ihrem Loch, Und hockt sie drin, so pfaucht sie doch." Paff!" sagte Palmyre. Ein Fußtritt war gegen die Tür gekracht. Draußen quietschte ein Gelächter. Macht auf, Leute! Wir sind so bezecht, daß ihr uns ins Bett tragen müßt, he!" Es war Hillas Stimme. Bummler!" brummte Florine. Sie wischte sich mit dem Handrücken schnell den Mund ab und setzte sich eilig an ihre Nähmaschine, und nachdem sie das Getriebe mit ein paar Oeltropfen geschmeidig gemacht hatte, fing sie ostentativ an zu arbeiten. Palmyre ging aufschließen. Kopfüber, kopfunter brachen die beiden Mädchen, sich stoßend, mit zerzaustem Haar, zerlumpt und mit ungewöhn- lich geröteten Gesichtern in das Zimmer herein. Wahrhaftig, wir haben unser Teil!" schluckte Aur6. Lachend stieß sie ihre Schwester zurück, dann torkelte sie auf einen Stuhl. Du bist ein Kerl!" sagte Hrlla verächtlich.Kannst nicht mal trinken." Die Hände in die Hüften gestemmt, wandte sie sich gegen Palmyre. Na was, he? Verdient das zu leben?" Ein unauslöschliches Gelächter schüttelte die Hinkende. Palmyre machte eine ungeduldige Geste. Sie runzelte die Brauen und deutete nach dem Hängeboden hinauf, wo der Alte schlief. Schon gut!" sagte Hilla barsch und zuckte die Achseln. Ich weiß noch, was ich tue. Es brauchen ja nicht immer dieselben zu sein, die kneipen und sich sinnlos bcsaufen." Und der Alte... ist er etwa nicht besoffen V" saselte 1 Auro. i Sie setzte einen kräftigen Faustschlag auf das Zink des Tisches. Hilla schloß ihr den Mund. Misch' Du Dich nicht hinein! Schlaf Deinen Rausch aus! Ich bin's, die hier das Wort hat!" Ein trunkener Zorn bemächtigte sich ihrer. Die un- vorsichtige Bemerkung Palmyres hatte sie tief beleidigt. Wie alle nervös empfindlichen Menschen empfand sie, augenblicklich unter dem Einflüsse des Alkohols, die Demütigungen und Beleidigungen zu lebhaft, als daß sie sich von der Un- zurechnungsfähigkeit ihres Zustandes völlig hätte Rechenschaft geben können. Der Alkoholdunst umnebelte ihr die Augen, nichtsdesto- weniger beabsichtigte sie aber zu beweisen, daß sie noch immer im Besitze ihres klaren Urteils und Herrin ihrer Handlungen sei. Ihre aufgeregten Blicke hafteten, nachdem sie überall herumgeblickt hatten, schließlich auf Florine. Taumelnd pflanzte sie sich vor ihr auf. Ich kenne Dich wohl, Duckmäuscrin! Spielst die Harm- lose! Und da dreh' ich, und roll' ich, und geh' ich... Wahr- haftig! Als ob bloß sie hier kurbelte!... Das Unglück!... Ja, wirf nur das Maul auf, Gans! Wirklich, als ob bloß sie's wäre, die uns hier erhält!" Sie beschrieb eine pessimistische Geste vor sich hin, hatte ein böses Lachen. Deshalb hat man sich bei Liste! also mal lustig ge- macht!" murmelte Aurö, die mit einemmal nüchtern ge- worden war. Florine antwortete nicht. Sie erhob sich, warf ihre Schürze über die Nähmaschine, bedeckte die Handschuhhaufen auf dem Stuhl mit einer alten Zeitung und begab sich in das Schlafgelaß. Du sollst Dein Teil schon noch kriegen!" schalt Hilla und machte ihr eine Faust. Trink allein Kaffee, ich geh' auch schlafen," sagte Aurö verstimmt. Sie warf die Tür hinter sich zu, daß es in dem kleinen Rauni eine scharfe Staubwolke erregte. Tut nichts, es soll schon nachkommen," schrie die Schwarze, vor Wut außer sich. Die andere gab aus der Kammer zurück: Schweig füll! Du hast uns lange genug kommandiert. Etwa nein? Nun sie in Fransbeke Genever gezecht hat und den ganzen Abend vor Lachen beinahe umgekommen ist, macht das den Leuten hier auch noch Belästigungen... Schnell, verheirate Dich und laß Deinen Souhc Flohil nach Deiner Pfeife tanzen, wenn's geht!" Das war der offene Aufruhr. Hilla antwortete nicht mehr. Die Verwegenheit der Kleinen erschien ihr ungeheuer- lich, überstieg ihre Begriffe. Hörst Du das, Drecktier?" sagte sie mit wütendem Gesicht gegen Palmyre hingewandt. Palmyre zog einen schiefen Mund, der besagte: Lieber Gott, weshalb solche Kleinigkeiten für so wichtig nehmen?" Sie zuckte die Achseln und goß vorsichtig den Rest des Wassers auf, der noch im Kessel geblieben war. 12. Es ging Hilla wie Millionen oft mehr Unterrichteter und besser Erzogener, für sie waren nur solche Handlungen böse, die mit der Verdammnis im anderen Leben und mit einer strafgesetzlichen Verurteilung auf Erden bedroht sind. Kaum verstand sie sich auf den Ritus ihres Meßbuches und darauf, ihren Namen zu schreiben. Seit ihrem elften Jahre hatte sie sich niit unmittelbareren Dingen beschäftigt als mit den Strafen der Hölle und den Satzungen der irdischen Gercch- tigkeit. Ihr Katalog der Sünden und Ucbertrctungeu war ein sehr primitiver. Und daraus ergab sich in ihrem Geiste eine mangelhafte Kenntnis des Guten und Bösen. Die Umgebung, in der sie aufgewachsen war und in der sie solange gelebt hatte, hatte in ihr jede dauernde und heilsame Spur von Beispielen der Entsagung, der Liebe und gegenseitigen Hilfe ausgelöscht, die die Seele verklaren und sie gegen ihre Fehler hätte schützen können, weil sie die einzige Grundlage eines für alle annehmbaren Vertrages sind. Eine als Erweiterung des bürgerlichen Rechtes auf das Menschenrecht gegründete Gerechtigkeit; die Billigkeit, die jedem seinen Anteil an nützlicher Arbeit und dem Genuß des untcil- baren Ertrages seiner Mühwaltung zuerteilt; eine Mural end- lich, die dem dauernden, vernunftgemäßen und notwendigen Charakter ihrer Bestandteile nach unzerstörbar ist: sie allein können den erschreckenden Verfall aufhalten, den die Gesellschaft zeigt, seit die allgemeine Verflachung die abgenützten Gottheiten der verlassenen Tempel durch das plumpe Idol des Goldes ersetzt hat. Denn was verniöchten die Vorschriften der Re- ligion gegen ein Uebel, das sie zwar beklagen, dessen wahres Heilmittel sie aber nicht zu bezeichnen wagen? (Forts, folgt.)