Nr. 265.- 1915.

Unterhaltungsblatt des Vorwärts Dienstag, 16. November.

Gesellschaftsschichtung und Begabung.   hunderte währende Kultur eine höhere Begabung erworben und etwa blog trodene Ziffern ohne weitere Bedeutung, sondern sie

Die Korrespondenz des Deutschen Lehrervereins" schreibt: Ein alter, harter Aberglaube zerstiebt plötzlich im Kriege: der Wahn, daß Begabung und fittliches Empfinden stärker an die oberen als an die unteren Gesellschaftsschichten gebunden sei. Hoch und niedrig, arm und reich wetteifert an Opferfreudigkeit, und gerade die Enterbten, denen das Vaterland nur der Nähr­boden für das nackte Leben war, haben fromm das Scherflein der Witwe gespendet, haben alles gern dem Ganzen gegeben. Alle ver­meintlichen Unterschiede im Grad der Vaterlandsliebe find auf gelöst im großen gemeinsamen Wollen, Kämpfen und Sterben. Das höchste sittliche Empfinden, das teuerste der Bande, war gleich stark um die Beute aus Balast und Hütte geschlungen. Wer wollte beim gemeinschaftlichen Bluten und Sterben noch zweifeln, daß das ganze Geflecht sittlicher Gefühle unser Volf in allen Schichten gleich dicht und fest umwoben hält?

Ganz neu war aber so vielen und vollständig überraschend die Entdeckung, daß des Schöpfers Gerechtigkeit auch die Be­gabungsunterschiede nicht von der Gesellschaftsschichtung abhängig gemacht hat. Höcker stellt fest, daß die gebildeten Stände im Schüßengraben erst und ganz erstaunt das Volt" kennen lernten, das Volk, das keine ungebildete Masse ist, sondern in vielseitigen Dentneigungen und vielfach abgestuften Begabungsäußerungen genau soviel ursprüngliche Verftandes- und Willensanlage offen­bare wie die Oberschicht. Prof. Weinel singt als einfacher Band­Sturmmann laut das Lob feiner Kameraden, der Bauern und Ar­beiter. Und einige der schönsten und bleibenden Kriegslieder er­flangen von den Lippen eines Kesselschmiedes. Die ergreifendste Zotentlage aus dem Weltkriege:

Mein Junge fiel in der Schlacht

Es heißt also, sich auf hohle Stäbe stüben, wollte man weiter essantesten und bezauberndsten zu sein scheine, soweit es sich um behaupten, die oberen Gesellschaftsschichten hätten durch Jahr wissenschaftliche Dinge handele. Denn die Atomgewichte sind nicht ihren jetzt lebenden Nachkommen fertig in die Wiege gelegt. So stehen zweifellos auch im Zusammenhang mit der wahren Natur läßt sich der Schöpfer nicht ins Handwerk pfuschen! Er hat nicht der Materie, und ihre Größen lassen ser intellektuellen Spekulation dem Geldbeutel überlassen, zu bestimmen, welchem Menschenkind einen weiten Spielraum. Betrachtet man die Geschichte der Atom­Hirn und Herz beschieden sein soll. Wäre eine solche Welt, in der gewichtsbestimmungen, so findet man stets die ungenügende Rein­der Besitz die Menschenbegabung entscheidet, nicht eine unerträgheit der Substanzen als Ursache der mangelhaften Ergebnisse. Will liche, gehäufte Unfittlichkeit? man die Richardsschen Erfolge turz zusammenfassen, so kann man Im Felde ist unserem Volte, den Besten aus den Oberschichten, mit seinen eigenen Worten sagen: daß das Geheimnis des Er­diese Erkenntnis aufgeleuchtet. Erst im Felde, weil sie ia das folges bei genauen chemischen Messungen in der Wahl der be­Volk", die Masse, vorher nie kennen gelernt hatten. In einer fonderen Substanzen und Prozesse liegt, so daß alle die chemischen einheitlichen Grundschule könnten und müßten alle Deutschen   diese und physikalischen Fehler so erfolgreich wie möglich vermieden wer­Einsicht etwas früher lernen, nicht erst, wenn die bittere Not dazu den, eine Wahl, welche viel Studium und nüchternen Verstand er­zwingt. Gerade daß man die gleichzeitige Beschulung auch der heischt. Weit mehr hängt in der Regel hiervon ab, als von der kleinsten Schüler aus den verschiedenen Gesellschaftsschichten für mechanischen Ausführung der Operationen, wenn auch diese gleich­unmöglich hält, zeigt, daß der Klassendünkel und die Unkenntnis falls von großer Bedeutung ist." des eigenen Voltes in Deutschland   so groß ist, daß wir eine Einheits- Auf die Beschreibung der mühsamen Arbeit, die zur Auf­schule als endliches Heilmittel gegen diese Verirrung gebrauchen. stellung der neuen Atomgewichtstabelle führte, soll hier nicht näher Regierungs- und Schulrat Kabisch, der für seine Ueberzeugung bei eingegangen werden. Ist aber diese Arbeit auch aller dieser Mühe Birschoote in den Tod ging, rief noch vor zwei Jahren denen zu, wert? Hierauf gibt Richards selbst zur Antwort, daß diese Tabelle die da meinten, neben den Begabungsunterschieden sei die sittliche von 80 Zahlen mehr als jede andere Sammlung von Naturkonstanten Behütung der ausschlaggebende Grund, um derentwillen die Schei- benutzt wird. Noch ein anderer hinreichender Grund, auf diese dung nötig sei":" Mit Verlaub, meine Herren, ich bin überzeugt, fundamentalen Zahlen noch mehr Zeit zu verwenden, schlummert ihr alle, die ihr so sprecht, ihr habt niemals eine Volksschule in den Winkeln des Geistes, nämlich die unbezwingbare Neugier, besucht. Und gerade damit und durch die Geringschäßung der was sie wohl bedeuten könnten. Wenn jemand in der Naturwissen­niederen Volksschichten, die sich darin ausspricht und die wirklich schaft nach der Bedeutung irgendeiner Tatsache fahndet, dann ver­eine Unterschätzung ist, beweist ihr, daß wir die Einheitsschule sucht er zuerst so genau wie möglich festzustellen, was diese Tat­brauchen. Wir müssen uns alle einander wieder besser verstehen sache eigentlich sei. Dieses ist zwar nicht immer die Methode der lernen, wir oben und die drunten, dann werden wir oben uns nicht Philosophie gewesen, der Chemiker wird jedoch keine andere an­so hoch und die drunten uns nicht so tief vorkommen wie jetzt." erkennen. Die größte Genauigkeit bei dieser Arbeit ist daher der erste Schritt zum Verständnis der letzten Natur der Materie, mit welcher die Atomgewichte so eng verknüpft sind. Heute sind wir zum größten Teil von dem Bewußtsein erfüllt, daß jedes sogenannte Atom sich aus Tausenden von Elektronen oder Korpuskeln zu­sammensett. Aber, wenn dies der Fall ist, warum gibt es dann nur ungefähr 80 Glemente? Keine der bisher auf diese Frage ge­gebenen Antworten scheint zufriedenstellend. Ein Punkt ist ziem­Sunft ist Religion, hat Wagner mit Bezug auf die wahre Ton- lich klar, nämlich daß dieser unbekannte und unbegreifliche Prozeß doch haben sollten? Es ist weiter nichts als ein unbarmherziges, funft gefagt. Ganz gleich wo sie erflingt; ihre veredelnde Wirkung der Bildung der Elemente ruc- und sprungweise vor sich gegangen unvölkisches Vorurteil, daß Arbeiterfinder mangelhafter beanlagt bleibt dieselbe auch gerade in der Kirche. Von hier, dessen haben sein muß, da wir sonst Elemente von jedem möglichen Atomgewicht haben müßten. Jedoch müssen wir erst genaue Kenntnis über die feien als Geheimratssöhne. Die wissenschaftlichen Begabungs- wir uns zu erinnern, ist sie ja ausgegangen. forschungen und die Vergleiche der Begabungsäußerungen zwischen Aus der überreichen Schatztruhe firchlicher oder religiöser Musik tatsächlichen Eigenschaften der Materie haben, ehe wir wirklichen sechsjährigen Volksschülern und Vorschülern beweisen, daß irgend- batte Ernst 3 ander das Programm des mit dem Volts- Chor unter Einblick in die Bedeutung der chemischen Konstanten erhalten. Vor­welche Begabungsunterschiede zwischen den Kindern aus verschiede- Mitwirkung des Berliner   Orgelmeisters Bernhard Irrgang und läufig sind wir noch nicht weit genug dazu. Indes hofft Richards: nen Gesellschaftsschichten nicht bestehen. Wohl können ein anderer der geschätzten Altistin Frau Paula Weinbaum am legten Sonn-" Das Licht wird uns, wenn überhaupt, nicht durch Umhertasten im Stundenplan, eine bessere Beschulung und kleine Klaffenbuch- tag in der Garnisonkirche veranstalteten Abendkonzerts gehoben. Bei- Dunkeln werden, sondern von dem vertrauensvollen Streben, die ziffern nach einigen Jahren mehr Kenntnisse, aber nicht eine ur- einander waren solistische und Chorgefänge mit Wortdichtungen Tatsachen zu entdecken, und von logischen Schlüssen, die man auf sprünglich höhere Anlage vermitteln. Die Frage der Gerechtigkeit aus biblischen und religiösen Stoffbereichen. An ihnen wurde so ihrer Grundlage aufbaut." heißt aber gerade: Sind wir diese besseren Verhältnisse nicht allen recht flar, wie untrennbar Musik und Tert verschmolzen erscheinen. Kindern, auch den Kindern des jetzt so freudig fich opfernden Sie haben also das untrügliche Charaktermerimal aller wahrhaiten Voltes schuldig? Nicht nur, daß jezt die begüterten Eltern ihren Tonkunst, von deren Altar niemand, er sei, wer er sei, unerquickt -Theaterchronit. Jm Charlottenburger Schiller­Kindern von vornherein eine beffere Ausbildung kaufen können, hinwegtritt. Ihrem Entstehen nach waren es musifschöpferische Zeug­nein: der größte Teil dieses Vorzuges wird bezahlt durch die All- nisse aus vier Jahrhunderten bis nah an die Schwelle der Gegen- Theater findet am Dienstag die erste Aufführung von Karl Rößlers gemeinheit. wart. Ein Strom von Melodien, der stetig anwachsend, inhalttiefer, Luftipiel Die fünf Frankfurter  " statt. feuriger, majestätischer einherbraust: das sind diese Gesänge. Himmelfahrt und Aviatit. Der Pfarrer von Le In den a capella- Chören offenbarte der Volks- Chor sein be- Bourget bei Paris   hat, wie der" Figaro" mitteilt, ein von Fliegern fonderes Können. Man wird der nahezu auf dem Gipfel angelangten gestiftetes Weibegeschent, das in einem über einen Meter großen fünstlerischen Weihe des Vortrags schwerlich die Anerkennung ber- Modell eines Nieuport- Flugzeuges besteht, am Altar einer Seiten­fagen. tapelle befestigt. Er wird dieie Kapelle als Kapelle der Aviatik" Bei den anderen Gesängen, sowohl solistischer Art, bei denen Frau weihen, gleichzeitig eine andere, wo ein von Marinesoldaten ge Weinbaums edles Organ sich glanzvoll befundete, als bei den Chören ipendetes fleines Segelschiff niedergelegt ist, als Kapelle der Marine". prach die Orgel mit. Als Soloinstrument ließ sie Herr Irrgang Wie der Figaro" weiter berichtet, hat sich der Seirchenbesuch infolge in je einer Bachschen und Reubkeschen Sonate von sich, als mach- dieser Weibegeschenke sehr gehoben, und die begeisterte Schuljugend tigſtem aller Musikwerkzeuge aber noch gewaltiger von ihren Meistern läßt sich vom Pfarrer, der sie im Katechismus unterrichtet, den reden. Mechanismus des Flugapparates erklären. Der große Kirchenraum war erfüllt mit andächtigen Lauschern.

In seiner Jugend Reinheit und Bracht..."

stimmte eine Postschaffnersfrau an.

Ist es da berechtigt, die ängstliche Rastenabsonderung von unserm Volfe" im Sinne der Unterschicht weiter wie bisher bis in die früheste Kindheit und in die ersten Schuljahre zu tragen, wo alle noch genau denselben Lehrstoff zu bearbeiten haben oder

Dazu läge nur Veranlassung vor, wenn feststünde, daß die oberen Schichten nicht nur über mehr und stärkere Begabungen verfügten als die unteren, sondern daß sie auch an Geistesgütern der Allgemeinheit am meisten geschenkt, gleichsam zurüdgegeben hätten. Davon aber tann ernstlich keine Rede sein. Fast alle großen Erneuerer deutschen   Geisteslebens stammen nicht von oben, sondern aus der Tiefe: der religiöse Umgestalter Luther  , die philo­sophen Umwerter Jakob Böhme  , ein Schuhmacher, Kant, eines Sattlers, Fichte, eines Leinewebers Sohn, und die Wecker des eigenen deutschen   Kunstempfindens Windelmann und Herder, beide mit dem Armeleutegeruch behaftet. Soll man noch an die Dichter Schiller  , Hebbel  , Gottfried Keller  , Otto Ludwig  , Klaus Groth  , Rosegger erinnern? Noch auf die vielen Dichtungen aus dem Felde hinweisen, die, von armen Kämpfern stammend, sich in allen Ehren neben denen unserer anerkannten großen Dichter behaupten

werden?

Die alten Annahmen der Vererbung hervorragender Be­gabungen durch Jahrhunderte hindurch lassen sich nicht aufrecht er halten. Schon die Vererbung der Begabung durch mehrere Ge­schlechter ist zweifelhaft, zum mindesten sehr selten. Im Gegen­teil scheint das Richtvererben häufiger, eine allmähliche Herab­minderung der Begabung oder gar Entartung oft vorzukommen. Die Vererbung bestimmter, in einem einzigen Berufsleben er worbenen Eigenschaften erscheint nach den Keimforschungen aus geschlossen. An Beispielen von kleinen Söhnen großer Väter mangelts wahrlich nicht, und umgekehrt.

5]

Die Schicksalsmaus.

Eine Erzählung von Tieren und Menschen. Von Harald Tandrup.

Ich habe Ratten gesehen, die Sie, Andersen, hoffentlich nie sehen werden," antwortete der Mann, indem er sich an der anderen Seite des Tisches niederließ. Das war während meiner Krankheit. Verstehen Sie?"

, Sind Sie sehr frank gewesen?"

Der Mann nickte mit seinem fahlen Kopf.

,, Es ist schon viele Jahre her."

"

" Typhus  ?" fragte Andersen treuherzig. ,, Ueberanstrengung," gab der andere furz zurück. Andersen sah ihn mit einem Blick an, der die aufrichtigste Teilnahme verriet.

Sie ,, Sie haben gewiß viel in Ihrem Leben durchgemacht, Herr Blomberg," sagte er.

Blomberg ließ die Hand über die Reste seines Haares gleiten, die in zwei rötlich grauen Büscheln zu beiden Seiten seines Kopfes abstanden. Dann strich er ein paarmal über seinen Schnurrbart, um Zeit zu gewinnen. Es war verlockend, dieses oder jenes Erlebnis seines bewegten Daseins zu er­zählen; aber er wußte nicht recht, ob der junge Mensch dieses Vertrauens auch würdig sei.

Erwartungsvoll sah ihn Andersen mit seinen arglosen, blauen Augen an. Sein Gesicht strahlte förmlich vor Recht­schaffenheit. Er hatte blondes Haar, das in die Stirne herein­fiel und einen ganz fleinen flaumigen Schnurrbart über einem vorstehenden Mund; seine Wangen waren rot und rundlich.

Ueber Blombergs verschmitte Züge flog ein Lächeln. Sie haben wirklich ein hübsches Gesicht, Andersen," be­merfte er. Damit könnten Sie viel Geld verdienen." Meinen Sie?" fragte Andersen erfreut, weil er diese Worte buchstäblich nahm.

"

Gewiß," antwortete Blomberg, Sie sehen so zuverlässig so ehrlich aus. Wenn Sie z. B. auch noch so ein Schelm wären, würden doch alle glauben, daß Sie ehrlich seien." ,, Um Himmels willen!" rief Andersen erschrocken. Sie halten mich doch nicht gar für hinterlistig?"

Blomberg beugte sich über den Tisch und streichelte be­rubigend seinen Arm

Kleines Feuilleton.

Kirchenkonzert des Berliner Volks- Chors.

ek.

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Notizen.

Gine Goethe- Kriegs- Ausgabe, die 10 Bände umfaßt, ist soeben im Jnsel- Verlag zu Leipzig   erschienen. Sie ent hält: Fauft, Göz, Egmont  , Iphigenie  , Hermann und Dorothea  , Die Bedeutung von Atomgewichtsbestimmungen. Werther  , Novellen, Gedichte, die Kampagne in Frankreich und Goethes Jugend, und kostet je nach Umfang 30 oder 50 Pf. Sie Wie der Draht meldete, ist der Nobelpreis für Chemie   für ist dazu bestimmt, zum täglichen Brot der Feldsoldaten zu gehören. das Jahr 1914 dem Profeffor an der Harvard Universität Die Preise im beiegten Gebiet. Wie der Allg Th. W. Richards verliehen worden. Richards war 1907 als Anzeiger für Druckereien" mitteilt, werden gegenwärtig von der Austauschprofessor in Berlin   und hat bei diesem Anlaß auch in der Militärbehörde 66 Zeitungen herausgegeben, die zum großen Teil Deutschen   chemischen Gesellschaft einen zusammenfassenden Vortrag täglich erscheinen, und zwar in den beseßten Teilen von Rußland  über das Gebiet gehalten, das ihm den Nobelpreis eintrug. Schon 9 Zeitungen( 6 in deutscher, 2 in polnischer und 1 in russischer seine einleitenden Worte verdienen Beachtung, denn hier sagte er: Sprache). In Belgien   erscheinen 46 Zeitungen, davon 29 in fran­Berlin ist heutzutage als das Zentrum chemischer Gedanken und zösischer bzw. französischer und deutscher, 17 in flämischer Sprache. Experimente in der ganzen Welt aufzufassen." Von den Atom- In Frankreich   werden 11 Zeitungen herausgegeben, von denen 9 in gewichten meinte er, daß ihm dieser Gegenstand einer der inter  - deutscher und 2 in französischer Sprache erscheinen. ,, Sagen Sie, Andersen finden Sie vielleicht, daß ich schön bin? Nein, das tun Sie gewiß nicht!" Andersen wurde verlegen und wagte nicht aufzusehen. " So etwas sollten Sie nicht sagen, Meister," murmelte er. " Ja, weiß Gott  , Andersen. Ich kenne die Menschen! Wissen Sie, wie mich die Leute nennen? Nein? Nun, so will ich es Ihnen sagen. Den Zitronenschneider heißen sie mich!"

"

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Der brave Gefelle war in Blombergs Sinn verlegt und empört. Böse Menschen sagen gar vieles," bemerkte er ent­schuldigend. Blomberg nickte.

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Sie schwaben! Sie geben anständigen Leuten Spiz­namen; ja, bas tun fie. Aber sehen Ste nur mein Gesicht an, Andersen. Ich bin gelb, ja- wahrhaftig und meine Haut liegt direkt auf den Knochen. Doch was kann ich dafür? Auch ich bin einmal jung und nun sagen wir wenigstens einiger­maßen hübsch gewesen; aber dann saß ich ein paar Jahre in Üntätigkeit und das gab mir den Knacks."

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Lieber Gott  ! Haben Sie denn gar keine Arbeit gehabt?" fragte Andersen teilnehmend.

daran zweifelte Andersen nicht. An einem Finger aber hatte er einen breiten Ring mit einem großen roten Stein, der nach Andersens   Meinung ein Vermögen wert sein mußte. Woran denken Sie, Andersen?" fragte Blomberg unbe­haglich berührt von diesem fortgesezten Anstarren. " Ich denke in aller Bescheidenheit, daß Sie dem lieben Gott dennoch viel zu danken haben, Herr Blomberg."

,, Dem lieben Gott?" wiederholte der Schneider spöttisch. Ich glaube weder an eine Vorsehung noch an Bestimmungen und am allerwenigsten an einen lieben Gott. Es gibt nur eine Religion: die, daß die Großen die Kleinen auffressen. So ist das Leben, Andersen."

,, Das kann nicht hr Ernst sein, Herr Blomberg," sagte Andersen bewegt, während ein Zucken in seinem ehrlichen Ge­sicht verriet, daß ihm das Weinen nahe war.- ,, Wenn Sie so reden, wird es mir richtig beklommen zumute. Sie wissen doch, wie unglücklich ich ohnehin schon bin."

" Dummes Zeug, Andersen," entgegnete Blomberg ab­weisend, was wollen Sie von Unglück wissen?"

"

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" Doch, doch, Meister, ich versichere Ihnen, ich bin un­glücklich, weil ich mich seit meiner Ankunft hier nach dem Land zurücksehne. Wenn ich Ihnen nur erklären könnte, wie schön Arbeit schon doch das verstehen Sie nicht, Andersen," es bei meinem ersten Meister war. Der Schneidertisch stand erwiderte Blomberg und lächelte bitter in der Erinnerung an so wie hier, da war das Fenster" er zeidmete mit dem iene Jahre, wo er im Zuchthaus Tüten geklebt hatte. Natür- Finger einen Grundriß auf den Tisch und gleich davor lich halte ich Schönheit nicht für das größte Glück eines Men- breitete sich ein alter Hollunder aus, hinter dem man die schen," fuhr er fort. Ich meine nur, daß so ein Gesicht wie Aecker mit den Kühen und sogar die braunen Hügel der Heide das Ihrige, Andersen, gerade das ist, was ein Mensch mit von weitem sehen konn-" Welterfahrung braucht. Hätte man es, so müßte man nicht in ,, Gibt es auch Kiefern dort?" einem solchen Loch sizen wie hier."

"

" Rie- fern?" fragte Andersen erstaunt. Nein, bie kenne Dabei deutete er nach rechts und links, und obgleich ich nicht. Sind das Tiere?" Andersen das Zimmer in- und auswendig kannte, sah er es aus Höflichkeit gegen seinen Meister doch noch einmal an.

Das Ganze machte einen äußerst ärmlichen Eindruck. Die Tapete war zerfekt, der Gips an der Decke abgebröckelt, die Bretter des Fußbodens hatten breite Risse. Ein Fleiner Ofen, dick wie eine Walze, spie eine gräßliche Hiße aus.

" Ich meine. so hohe Bäume... Rief-, nein, Föhren!"

Andersen schüttelte den Kopf.

,, Nein, Herr Blomberg, die haben wir nicht, aber wir hatten eine herrliche Blutbuche dort, wie es sonst keine viele Meilen weit gab. Ach ja, man kann sagen, was man will, die So etwas hätten Sie sich wohl in Ihrer Jugend nicht Heimat- bleibt eben die Heimat." träumen lassen, Herr Blomberg?" fragte Andersen schließlich. Sie müssen sich das Heimweh wirklich abgewöhnen, ,, Mag sein," murmelte der Schneider nachdenklich. Andersen," bemerkte der Schneider. Dort, wo man sein Andersen betrachtete Blomberg lang und treuberzig. In Brot verdient, ist stets gut sein." seinen Augen war der Meister ein außerordentlich feiner ,, Haben Sie denn nie Sehnsucht, Herr Blomberg? War Mann. Er trug eine geblümte Weste, sowie eine schwere es in Ihrer Heimat nicht schön?" goldene Kette über dem Magen- denn daß sie von Gold sei, ( Forts. folgt.)

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