Nr. 271.- 1915.

Unterhaltungsblatt des Vorwärts Mittwoch, 24. November.

währet ewig!

Ein prachtvoller Herbsttag war gekommen. Im Hotel d'Alle­magne zu Aywaille, das voll von Wiedergenesenden lag, war schon in den Vormittagsstunden reges Leben. Ein Ausflug in das Tal der Amblève sollte die Feldgrauen aufheitern. Bepackt mit den nötigen Mundvorräten für den Tag über zogen sie los. Sie tamen nicht sehr weit. Schon in Remouchamps hielten sie Einkehr, be­suchten dann die Grotte und ließen sich hierauf für den weiteren Tag nieder an dem Ufer des Flüßchens. Ach, wie war die Welt hier so friedlich und schön! Wie weit hinter ihnen lag all das Furchtbare des Krieges mit seinem tausendfältigen Tod, mit seiner millionenfachen Zerstörung. Jeder der Feldgrauen hatte seinen Traum: den Traum vom Frieden und der Heimfehr. Sie saßen und lagen still da, ließen sich von den Strahlen der warmen Herbstsonne bescheinen und hüteten sich fast ängstlich, eine Bewegung zu machen, da sie fürchteten, sie könnte ihren Träumen ein Ende machen.

Es war über alle das große Schweigen gelommen, das immer die Menschen erfaßt, wenn lautlos zwar, doch mächtig die Natur zu den Herzen spricht. Etwas abseits von einer größeren Gruppe der Feldgrauen lag im Grase ein noch junger Soldat. Er lag auf dem Rücken und schaute gegen den Himmel, hie und da wendete er leicht den Kopf und sein Blick fiel dann auf das alte Schloß von Mont­Jardin, das, halb versteckt im herbstlich gefärbten Laub, von einer Felsenklippe zu ihm herab grüßte. Ja, ihn grüßte das alte Gemäuer dort oben und weckte Erinnerungen, die sein Herz zittern ließen.

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Eines Tages war Pierre nach Aywaille gekommen, um dort Sie lächelte leicht und hinter dem Lächeln stand verklärend noch eine Versammlung abzuhalten. Nach der Versammlung war er mit ein weichender Schmerz:" Hans, find wir die Schuldigen? Auch Hans Gärtner zusammengekommen. Hans hatte in seinem Leben Gräber überblühen. Unsere Jugend gehört nicht dem Vergangenen, immer den offenen Blick für die Welt um sich gehabt. Sein Beruf fondern dem Leben und der Zukunft und dem Vermächtnis, hatte ihm für manche Gebresten mehr die Augen geöffnet; er fab das uns Vater hinterließ. tiefer und flarer, woran die Welt krankt, als mancher, der in harter Und nochmals rief Hans: Josephine Du gibst mir eine Arbeit in der Fabrik oder am Pflug steht. In Vater Pierre traf er Hoffnung!?" einen Gleichgesinnten, und als er erfuhr, daß Pierre der Vater des Sie sagte einfach: Ja!" Und nach einer Weile fügte sie hinzu: Bimmerfräuleins vom Hotel de Liège sei, da schien ihm das Leben Die Schuld der anderen darf unsere Zukunft und unser Wollen nicht auf einmal doppelt schön und durchfämpfenswert. Als daher der zerstören". Winter tam, ging er nicht, wie er ursprünglich beschlossen hatte, nach Sie hatten sich die Hände gegeben und saben hinauf nach Mont­Köln zurüd, sondern blieb und wallfahrtete, so oft es ging, nach Jardin. Durch das Laub glühten in der sich spiegelnden Abendsonne Mont Jardin, beriet und besprach sich mit Pierre oder, noch lieber, die Fenster. Wie Flammen des Lebens drang die rote Glut durch durchstreifte mit Josephine die Häuschen und Hütten des Amblèvo- das absterbende Laub. Das Tal lag so still; nur der Fluß mur­tales und bekam vor Josephine eine Achtung, die seine Neigung zur melte und gludste. Josephine fagte ruhig und ihr Auge schweifte tiefen Liebe machte. durch das Tal und hinauf nach Mont- Jardin: Weißt Du, was Vater Pierre hatte nichts gegen den Bund der Beiden. Er Vater sagte, wenn es so schön war wie heute? Schau Dir dieses lächelte zuerst über die Besuche von Hans und lachte eines Tages herrliche Stück Welt nur an! Müssen daran die Menschen nicht gut gerade heraus: Wenn eure Herzen zusammenpassen, wie ihr sonst und verständig werden!?" zusammenpaßt, dann werd' ich schöne Entellinder friegen!" Josephine wurde leicht rot dabei und Hans wußte von diesem Tage an, daß er ein Weib haben werde. Und dann kam das Beraten und Planen, wie und wo man sich ein Nest baue. Ein Pläßchen im Amblèvetal wurde ausgesucht, da sollte ein Gasthaus mit einem Saal errichtet werden, wo die Arbeiter und Landleute zusammenkommen, wo sie eine Heimstätte finden könnten, wo Pierre seine Lehre: sich zusammen­zutun und vereint miteinander am neuen Leben zu schaffen, ent­wideln könnte, wo Josephine arbeiten konnte, als wie sie genannt wurde die Liebe des Tales  .

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Kleines Feuilleton.

Die Bedeutung des Amfelfeldes. Wieder einmal, wie in früheren Jahrhunderten so oft, wird das historisch berühmte Amfelfeld in Serbien   jetzt zum Kriegs­schauplatz von weltgeschichtlicher Bedeutung werden. Zu beiden Seiten, der von Süden her in die westliche Morava fließenden Hans Gärtner war vor zwei Jahren als Kellner in Aywaille Es kam alles anders. Ihr kleines Glück zerbrach, als der Sitnica gelegen, ist dieses auf serbisch   Kossovo Polje genannte beschäftigt gewefen. Seine Stelle hatte er im Frühjahre angetreten, Frtede zerbrach. Hans war zur Saison 1914 nach Scheveningen   ge- Schlachtfeld das Quellgebiet des weißen Drin, des vielgenannten im Herbste wollte er sie wieder verlassen. Er blieb aber auch gangen, um in tüchtiger Arbeit zur Verwirklichung des Planes noch Vardar   und der nicht minder bekannt gewordenen Morava  . Rings im Winter da. Und was ihn hielt, war ein liebes Mädchen, das einen Zuschuß zu verdienen. Da rief ihn der Krieg als von den schiver zugänglichen, schlecht befahrbaren und waldigen während der Saison im Hotel de Liège Zimmerfräulein war und Reservemann nach Deutschland   zurüd. In den ersten Gebirgen, wie Schar, Kopaonik, albanische Alpen, umgeben, um­das im Herbste nach dem alten Schloß Mont- Jardin zurückkehrte, Tagen des August bereits stand er als Soldat und Feind faßt es einen Flächenraum von etwa 50 Kilometer Länge und wo ihr Vater Kastellan war. Und Hans wanderte im Winter, wenn auf dem Boden des Landes, wo er sein Liebstes hatte und das seine 5-20 Kilometer Breite, dem auch das unmittelbar benachbarte er sich nur frei machen konnte, nach Remouchamps, stieg hinauf nach Heimat hätte werden sollen. Im Winter überschüttete ihn im Metojabecken noch zugerechnet wird. Den einzigen wichtigen Zu­Mont- Jardin, um den alten Pierre Leloupe aufzusuchen. Er hatte Schüßengraben in der Champagne ein Schrapnell und riß sechs gang bildet der Katschanipaß. Wohl sehr fruchtbar, aber noch ihn in Aywaille kennen gelernt und Hans, der als Kellner die Welt Wunden in seinen Körper. Zuerst auf Leben und Tod monatelang wenig angebaut, bildet das Amselfeld trotzdem den Mittelpunkt des gesehen, und der alte Pierre, der früher zur See gefahren war, in Namur   liegend, siegte sein fräftiger Körper; er fam zur völligen kulturellen Lebens; es ist für Handel und Verkehr im mittleren hatten Gefallen aneinander gefunden, waren Freunde geworden. Herstellung nach Aywaille. Er hatte sich erfundigt nach Mont- Jardin Serbien ebenso bedeutungsvoll wie Belgrad   und der Donauweg im Freilich, ob die Freundschaft so dick geworden, ob Hans so oft sich und erfahren, was geichehen war. Auf Mont- Jardin wohnte niemand| Norden des Landes. Die Eisenbahn von Uesküb   führt nach Mitro­hätte mit Pierre etwas erzählen müssen, wenn oben in Mont- Jardin mehr. Pierre, der verzweifelt glaubte, fein bescheidenes Werk würde viza, der bedeutendsten Stadt des Amselfeldes. Pristina   ist der nicht Josephine gewesen wäre, das ist eine andere Frage. der Krieg zerstören, war unter die ,, Garde civique non activo" gegangen, Mittelpunkt des Handels, von dem aus im Tale der Sepenica eine Hans und Josephine waren ein herrliches Baar. Er war ein um sein Land zu verteidigen; verraten von seiner Regierung, die Straße und die bereits genannte Eisenbahn südlich nach Maze­Mann von ziemlicher Größe, hatte einen feden schwarzen Schnurr- ihm wohl die Waffen zum Kampf, aber nicht das militärische donien führen, die durch den Engpaß von Koranik bei Uesküb   in bart, dunkle Augen und ein gebräuntes Gesicht. Jofephine ragte an Abzeichen zur Legitimation als Soldat gab, war er bei den das Vardartal münden. Im breiten Flußbett des Jbar führt ein Größe ebenfalls weit über das Durchschnittsweibliche hinaus. Sie Stämpfen im Maastal standrechtlich erschossen worden. Er lebte Saumpfad zur westlichen Morava nach Kraljevo  , während eine war troß des französischen   Namens ihres Vaters der Typus einer weiter im Gedächtnis der Leute vom Amblèvetal. Als er ging, westwärts gerichtete Verbindungsstraße ihren Weg über die eben­Flämin, mit blonden Haaren, blauen Augen und der Gesichtsfarbe hatte er ihnen seine Lehre wiederholt: Zusammenbleiben und das falls schon in den beiden vorherigen Balkankriegen oft genannte von Milch und Blut. Der Vater hatte die Mutter in Antwerpen   geschaffene Wenige durchhalten! Und er fügte hinzu: Wenn Ihr Stadt Prisrend nach Albanien   nimmt. Weitere bedeutendere Städte fennen gelernt, fie geheiratet, war nach der Hochzeit bald wieder zur den Krieg übersteht, indem Ihr Euch beisteht dann haben wir sind noch Ipek und Djakowa. Die Bevölkerung besteht meist aus See gegangen, und als er wieder heimkehrte, war die Mutter tot gefiegt!" Diese Worte hatten die Leute behalten, mußten sie be- Albanern, welche feit mehr als zwei Jahrhunderten die ehemals Josephine hatte ihr das Leben gekostet. Der Vater war dann halten, denn es lebte unter ihnen Josephine. hier seßhaften Serben immer mehr verdrängt oder sich durch noch Romouchamps gekommen, hatte zuerst ein kleines Gasthaus ge= Josephine war ihm einmal in Aywaille begegnet. Schwarz ge- Heiraten mit ihnen verschmolzen haben.. Das Amſelfeld ist führt und dann die Kastelanstelle auf Schloß Mont- Jardin über- fleidet trat sie ihm in den Weg und sah ihn mit tiefmitleidigem Blick ein Plaz von großer historischer Bedeutung. Hier war es, wo nommen. Da ward ihm gut. Nicht menschenscheu. aber doch gern an. Aber als er ihre Hand ergreifen wollte, zog sie sie zurück und sich die Fürsten von Bosnien  , Bulgarien   und Serbien   unter der allein mit seinen Gedanken, lebte er in dem alten Schloß schon über Tränen famen ihr in die Augen. Sie schüttelte den Kopf und sagte Führung des letzten Serbenzaren Lazar im Kampfe gegen den ein Jahrzehnt. Im Sommer ging Josephine nach Aywaille, und im leise: Ein Grab!" Türken Murad I.   am 15. Juni 1389 zusammenfanden, in dem Winter war fie bei ihrem Vater, streifte mit ihm herum, groß, kräftig sowohl Lazar als Murad den Tod auf dem Schlachtfelde starben. und gewandt wie er und auch ein wenig sich absondernd von den Die Freiheit und Unabhängigkeit der Serben ward damit ver­nichtet. Erst Johannes Hunyadi   gab 1428 dem Serben Brankovios seine Freiheit und Unabhängigkeit wieder, nachdem er im Jahre vorher der Uebermacht Murads II.   hatte weichen und Teile Ser­ biens   dem Sultan   versprechen müssen. Aber Brankovios lohnte die Hilfe, die ihm Hunyadi geleistet, schlecht, und schon damals zeigte sich der verräterische Zug im serbischen Charakter aufs wider­wärtigste. Als Johannes Hunyadi   20 Jahre später gegen diesen ziveiten Murad zog, da vereinigte sich Brankovios mit diesem. Johannes Hunyadi   ward in der mörderischen Schlacht vom 17. bis 19. Oktober 1448 besiegt und auf der Flucht von Georg Brankovios gefangen genommen. Nach dem zweiten Balkankrieg vor zwei Jahren gelangte bekanntlich auch die bisherige türkische Provinz des Amfelfeldes in den Besitz der Serben. Nun stehen diese ihren Feinden abermals auf derselben Stelle gegenüber wie schon vor Jahrhunderten. Zum dritten oder vierten Male wird sich der Boden rot mit dem Blute der Gefallenen färben, aber der Aus­gang des Kampfes kann nicht zweifelhaft sein. Wie damals, vor mehr als 500 Jahren, werden die Serben auch jetzt wieder unter­liegen müssen, freilich in einer Schlacht, in der ihre ehemaligen Verbündeten als ihre Gegner auftreten.

Menschen.

Hans Gärtner lag im Grase und sah immer wieder hinauf nach Mont- Jardin. Das herbstliche Laub umfrönte das alte Schloß. Die Sonne ließ die Fenster aufglühen durch das Laubwerk. So war es Vater Pierre hatte seine eigene Ideen. Die Welt und das Leben vor zwei Jahren; alles schien noch beim Alten und doch war alles hatten ihm etwas gelehrt. Im Seemannsbund war er früher einer aus. Es kam ein feuchter Schimmer in seine Augen. Er strich über der Führer gewesen. Jetzt faß er oft finnend im Park von Mont- die Stirne, als wolle er Gedanken wegwischen. Mühsam erhob er Jardin und sann nach über das Problem: die Welt muß anders werden, sich. Auf feine beiden Stöcke gestüßt bumpelte er am Ufer der damit jeder darin fein Glück findet. Wenn er den Blick hinunterwarf Amblève dahin. Die Wasser famen und gingen und murmelten ihre in das herrliche Amblèvetal, dann recte er fich und alten Weisen. Sollte sein Glück nicht wiederkommen. Hans setzte fagte er zu ſeinem Mädchen: Schau Dir dieses schöne Stückchen sich an einer scharfen Wegebiegung auf einen Radabweiser. Er ver­Welt an, Josephine! Müßten daran nicht schon alle Menschen gut lor sich in Sinnen. Er sab sich mit Josephine durch das Tal und verständig werden?" Und dann ging er hinunter nach Romou- wandern, das erfüllt war mit fröhlichen, festlich gekleideten Menichen. champs, ging bis nach Ahwaiell oder La Greize, fehrte da und dort Er sah sie alle einem Banner folgen, auf dem geschrieben stand: ein bei den kleinen Bandleuten, bei den Steinbrucharbeitern und Organisation und Arbeit! Brüderlichkeit und Friede! lehrte ihnen zwei Dinge: Sich zufammentun und vereint miteinander Er hatte seinen Kopf in die Hand gelegt und starrte zu Boden: ein neues Leben aufbauen. Und er hatte Erfolg. Eine genossen- Soll alles aus sein? Er hörte Schritte, und als er aufblicken wollte, schaftliche Organisation wuchs im Amblèvetal empor, freie Schulen spürte er den Druck einer Hand auf seiner Schulter, den er gut wurden errichtet, Organisationen gegründet. Josephine batte im fannte. Josephine stand vor ihm. Winter viel Arbeit, lehrte die fleinen Mädchen Handarbeiten und den Frauen kochen und haushalten. Und der Segen des organi­sierten Lebens und der gemeinsamen und geordneten gegenseitigen Hilfe machte sich im Amblèvetal bemerkbar.

Die Schicksalsmaus.

Eine Erzählung von Tieren und Menschen. 11] Von Harald Tandrup.

Du leidest, Hans?" fragte sie leise. Wer leidet heute nicht? Aber wie Deine Wunden vernarbt sind, werden wohl alle Wunden bernarben!" Hans sab sie an und jauchzte auf in Hoffnung: Josephine!" Der Philosoph schüttelte den Kopf.

Es gibt keinen Tod, Lars Larsen," entgegnete er sanft. ,, Die Seele verbirgt sich für eine Weile, aber sie kehrt bald zurüd."

,, Sie sind wirklich oft merkwürdig, Christensen," sagte Lars Larsen. Aber wir wissen trotzdem, daß Sie es gut mit uns meinen."

Reise trat Christensen an das Bett und sah die starren Züge der Toten lange unverwandt an.

Jetzt ist sie flüger als wir alle," murmelte er. Darauf nickte er den beiden zu und ging. Lars Larsen folgte ihm und fragte, ob er leuchten solle.

Das ist schon wahr, kleine Maren. Aber es hat mich oft gewurmt, wie sie uns in den langen Jahren behandelte. Du kennst ja die Geschichte. Ich war ein armer Schlucker, als sie, die reiche Witwe auf dem größten Hof in Svogerslev, mich heiratete. Es sind wenige Tage in unserer Ehe ver­gangen, ohne daß ich das zu hören bekam. Ich einfältiger Bursche dachte, ich könne nun ein Herrenleben führen. Du lieber Gott  ! Ein Herrenleben und meines! Vom Morgen bis zum Abend hieß es traßen und sparen; kaum daß wir satt ,, Nun, dann ist's gut," erwiderte Lars Larsen. Aber als zu essen bekamen. Aber jetzt soll das alles anders werden." er zu seiner Tochter zurückkehrte, sagte er: ch glaube wirk­Er legte seine große Hand auf die der Tochter und lich, es rappelt bei dem armen Christensen jetzt bildet cr fuhr fort: sich gar ein, er leuchte inwendig."

Du sollst es wie eine Prinzessin bekommen, Maren, das hast Du verdient, denn Du bist ein braves Mädchen. Du hast es in Deiner Kindheit nicht gerade leicht gehabt."

Davon wollen wir lieber erst reden, wenn die Mutter begraben ist," sagte sie.

Es hat mich meine besten Jahre gekostet," murmelte er vor sich hin. Die Mutter war zwanzig Jahre älter als ich, der ausgelassenste Mensch unter allen jungen Leuten. Jest bin ich selbst ein alter Bursche. Sie blieb die Stärkere bis zu diesem Tag; aber nun muß sie doch unter die Erde."

Plötzlich rührte sich etwas hinter ihnen, und sie fuhren erschrocken herum; ihr erster Gedanke war, die gefürchtete Tote sei wieder lebendig geworden.

Jedoch es war nur Christensen, der Philosoph aus der Küche, der unbeweglich, ferzengerade, aber vollständig munter dastand, obgleich er soeben erst aus dem Schlaf auf dem Küchenstuhl erwacht war.

Geht jetzt zu Bett, Kinderchen," sagte er. Ich werde schon mit der Alten fertig werden."

Maren wollte erwidern, sein Wachen sei nun unnötig, aber sie konnte kein Wort hervorbringen. Dieser Dritte machte das traurige Ereignis gleichsam erst zur vollen, un­barmherzigen Tatsache. Und der Gedanke, daß die Mutter für immer von ihnen gegangen war, überwältigte Maren so, daß sie aufs neue zu schluchzen anfing.

Meine Frau ist tot, Christensen," sagte Lars Larsen würdevoll.

,, Nein, danke, Larsen," antwortete der Philosoph. Ich habe Licht in mir selbst!"

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Das Goldstück. Langzahn hatte recht gehabt, als er behauptete, daß der Mond Frost anzeige. Schon am nächsten Morgen lag eine dünne Eisdecke auf der Gosse, und sie wurde im Lauf des Tages noch dicker.

Vielleicht war diese Kälte der Grund, warum Christensen auf den Gedanken kam, seinen Rod zu untersuchen. Es zeigte sich, daß dieser notwendig einer Ausbesserung bedurfte und darum klopfte der Philosoph bald darauf an Schneider Blom­bergs Tür.

Der Meister und sein Geselle waren jeder auf seine Weise beschäftigt. Andersen saß an der Nähmaschine; Blomberg lag, eine Zigarre rauchend, auf seinem Bett.

,, Guten Morgen," begrüßte Christensen beide. ,, Guten Morgen, Euer Wohlgeboren," entgegnete Blom­berg, während er aufstand. Was verschafft mir in dieser frühen Morgenstunde die Ehre eines so vornehmen Besuches?" " Ich brauche einen Fleck," antwortete Christensen und deutete auf seinen Rock.

"

So, so, Euer Wohlgeboren brauchen einen Fleck? Aber haben Euer Wohlgeboren auch Geld?"

das

Nein," erwiderte Christensen unerschütterlich ernst. ,, Aber Geld ist Nebensache, wenn Sie nur den Lappen haben." " Die Logif ist gut!" rief Blomberg lachend. " Ich dachte, Sie seien Sozialist," sagte Christensen. " In der Theorie natürlich in der Praxis nie. Ich

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gebe keinen Apfel fort, wenn ich nicht wenigstens eine Birne. dafür bekomme. Aber Euer Wohlgeboren sollen den Fleck dennoch haben; dort, unter dem Bett liegt der Sack."

Christensen ging an den angegebenen Plat, zog den Sack hervor und untersuchte seinen Inhalt. Es war nicht leicht, einen einigermaßen passenden Stoff zu seinem Rock zu finden, denn dieser war wohl ursprünglich braun gewesen, hatte aber mit der Zeit eine so merkwürdige Farbe bekommen, daß es keine rechte Bezeichnung dafür gab.

Während der Philosoph noch suchte, schlich Blomberg zu Andersen hin und flüsterte:

Nun wollen wir Seine Wohlgeboren einmal tüchtig zum besten haben. " Ist das nicht eine Sünde, Herr Blomberg?" ,, Ach was, das schadet ihm gar nichts," entgegnete der Schneider. Er ist ja doch verrückt."

Auf Blombergs Wunsch ließ Andersen die Maschine ruhen, aber im Innern hatte er Mitleid mit dem Philosophen. Er meinte wie alle Naturmenschen, daß die, die nicht gang richtig im Kopf" waren, vom lieben Gott gezeichnet seien und hielt es deshalb für unrecht, wenn man sie verhöhnte. Euer Wohlgeboren wollen sich wohl zu den Weihnachts­feiertagen fein machen?" begann Blomberg.

Ich feiere mein Weihnachten im Herzen," antwortete Christensen ruhig.

Aber Euer Wohlgeboren sollten sich doch zur Feier des Tages ein warmes Bad gönnen. Es heißt Euer Wohl­geboren hätten viel unter Ungeziefer zu leiden."

Christensen schaute von den Stoffresten auf und sagte: Wissen Sie was, Blomberg? Ich finde es zehnmal besser, Läuse zu haben, als selbst eine Laus zu sein!" ,, Aber doch nicht gerade fein?"

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Sehr fein sogar," antwortete Christensen.- Es gibt zweierlei Arten von Läusen: solche mit vielen Beinen, die durch Unreinlichkeit erzeugt werden und zweibeinige, die sich von Macht und, Geld anziehen lassen. Jeder Reichstags­abgeordnete, jeder Minister hat Läuse; große Künstler und Geldmenschen haben die meisten."

" Jedoch nicht solche, wie sie Euer Wohlgeboren hat," be­merkte Blomberg.

"

"

Eine Laus bleibt stets eine Laus, mag sie nun zwei oder mehr Beine haben," erwiderte Christensen. Man duldet sie, weil etwas Erhebendes in dem Bewußtsein liegt, daß man lebendige Wesen durch seine eigene Person erhält." ( Forth folgt.)