fehlen) besucht werden, als von jungen Studirenden. Diesmal aber überwog die männliche Jugend, sie stürmte die Treppen hinauf, drängte sich unter großem Lärm zusammen, und auf vielen Gesichtern zeigte sich die Erwartung deffen, was erfolgen sollte. Zeichen uno Rufe wurden von einer Seite des Saales zur andern ausgetauscht, und es war klar, daß Alles bestens organisirt war. Als der Professor erschien, begann der dem Katheder zunächst befindliche Theil der Versammlung(Damen, alte Herren und einige Studenten, die wahrscheinlich in Voraussicht der Kund- gebung zuerst Platz genommen hatten) ein lebhaftes und energisches Beifallgeklatsch, welches anfänglich das Pfeifen und Schreien der Tumultuanten übertönte, aber nach einigen Minuten erlahmte und von den gellenden Tönen der Pfeifer und des Geheuls überboten wurde. Letztere ermatteten nicht, und es blieb dem Professor schließlich nichts anderes übrig, als den Saal zu verlassen unter dem Bedauern derjenigen, die gekommen waren, die Fortsetzung eines außerordentlich interessanten Vor- trags zu hören, und die natürlich beklagen, daß der Hörsaal eines so bedeutenden Gelehrten zum Schauplatz einer unwür- digen Demonstration geworden."— So der reaktionäre Correspondent der„Kölnischen Zeitung ". Wir halten die De- monstration der Jugend gegen die Demimonde und die Habituös für eine sehr würdige— jedenfalls hatte sich der kleine Professor den großen Revolutionär Marat in der zweiten Vorlesung aufs Korn genommen, um ihn mit Schmutz zu bewerfen, woran er von der vernünftigeren Jugend gehindert wurde. —„Vom Kriegsschauplatz nichts Neues"— so mag wohl die Parodie der bekannten Podbielsky'schen Meldung:„Bor Paris nichts Neues" von jetzt an oft genug in den Berichten der Generalstabschefs der russischen und der türkischen Donau - armee lauten, wenn die Herren nicht vorziehen, einige kleine Lügen auch ihren gekrönten Vorgesetzten aufzutischen. Gegen- wärtig steht nur das Eine fest, daß die Türken in ihrer fatalisti- schen Anschauung die Russen an ihrem Vormarsch nicht mit genügender Kraft gehindert haben. Alle wichtigen Stellungen auf dem linken(rumänischen) Ufer, welche die Türken leicht hätten besetzen können, sind ohne Schwertstreich in die Hände der Russen gefallen. Vielleicht raffen die Türken sich auf, wenn es den Kampf unter der grünen Fahne des Propheten um den heimischen Heerd gilt._____ — Zu Vahlteich's Verurtheilung schreibt die„Chem- nitzer Freie Presse": Ueber die in Mittweida stattgehabte Ge- richtsverhandlung wider Vahlteich können wir einen Bericht nicht geben, da die Prozedur geheim war. Wir bemerken nur für die Fernerstehenden, daß die Anklage auf eine Rede erfolgt ist, welche Vahlteich am 14. August 1876 im Elysium zu Chemnitz in Folge der Verurtheilung Saevecke's zu drei Jahren Gefäng- niß gehalten hatte. V. wurde, nachdem von Dresden aus An- Weisung zur Verfolgung gegeben war, von der hiesigen Staats- anwaltschaft„sistirt" und vernommen. Es war angeordnet, daß derselbe in Haft zu nehmen sei, sofern sich aus seiner Verneh- mung ergeben sollte, daß Collusionen, d. h. Verabredungen mit etwaigen Entlastungszeugen, zu befürchten seien. Dieser Fall trat nicht ein, da die angeklagten Worte im Polizeibericht richtig wiedergegeben waren und Vahlteich gar kein Bedenken trug, sich voll und ganz zu dem von ihm Gesagten zu bekennen. Man mag hieraus schon den Grad der„Gefährlichkeit" der angeklagten Worte erkennen. Die Untersuchung wurde durch die Rcichstagssession unterbrochen und dann für den 28. d. Hauptverhandlung angesetzt. Die Staatsanwallschaft beantragte Geheimhaltung der Sitzung und dieselbe wurde„im Interesse des Staats" vom Gericht beschlossen. Die Richter und Schöffen waren ohne Ausnahme Gegner der Sozialdemokratie, darunter zwei, welche bei den politischen Kämpfen in persönliche Rei- bung mit Vahlteich und anderen Parteigenossen gekommen waren. Der Gerichtshof sollte zuerst zusammengesetzt sein aus folgenden Richtern und Schöffen: Gerichtsdirektor Or. Schilling, Ger.-R. Grohmann, Ger.-R. Reichenbach, Gemeindevorstand Seidel in Königshain , Mühlcnbesitzer Engelmann in Liebenhain, Mühlenbesitzer Engelmann iu Liebenhain, Kaufmann Hob usch und Oekonom Donner in Mittweida . Es waren aber zwei der Herren abgehalten; für einen der Gerichtsräthe trat ein junger Gerichtsbeamter, für einen der Schöffen der Ober- lehrer Hilpert ein. Vahlteich hatte die Vernehmung von drei Zeugen beantragt, das Gericht aber entschieden, daß es der Zeugenvernehmung gar nicht bedürfe, und so erfolgte denn die Verurtheilung zu Vh Jahr Gefängniß wegen Majestäts- und Richterbeleidigung lediglich auf Grund der Aussagen des Auge- klagten und des Polizeiprotokolls. Wir werden selbstverständlich auf diesen Prozeß noch näher zurückkommen, wenn nicht Zur Völkerverbrüderung. Vor wenigen Monaten hatten ungarische Studenten pne Deputation nach Konstantinopel gesandt, um den türkischen Stu- denten ihre Sympathie auszudrücken. Jetzt, kurz nach der ruf- fischen Kriegserklärung, sind türkische Studenten in der Haupt- stadt Ungarns angelangt, um den Besuch zu erwidern. Ueber die Tragweite dieses Ereignisses äußert sich die Wiener „Neue Freie Presse" in einem längeren Artikel folgendermaßen: Aus der Hauptstadt Ungarns kommen fortgesetzt Berichte über stürmische Aeußerungen des Enthusiasmus und der Sympathie, welche der seit Sonntag in Pest weilenden Sofia - Deputation gelten. Ihre Reise war begleitet von Jubelrufen, ihr Einzug in Pest von einer Demonstration, die großartig genannt zu werden verdient, wie jede Kundgebung, die spontan vom Volke ausgeht und in welcher ungezählte Massen eines freien Volkes ihre Meinung und Gefühle' aussprechen. Die Muuizipalvertre- tung der Hauptstadt, das Parlament, die akademische Jugend, die Comitate, die Deputationen der Provinzialstädte wetteifern in lauten Ovationen für die türkischen Gäste. Es ist die„Hin- gebung der Entrüstung", welche da zum Ausdrucke gelangt und den mit russischen Waffen Bekämpften moralischen Lohn und Ersatz bieten soll. Die gemeinsame Regierung verhinderte den Abgesandten des Sultans, die„Corvina" an Ort und Stelle zu übergeben; die ungarische Regierung war besorgt, die Schätze des Schriftthums einer längst entschwundenen Zeit nur von einem Beamten empfangen zu lassen; Graf Andrassy ging sogar so weit, durch den türkischen Consul an die Pforte die Bitte zu richten, sie möchte den Studirenden und ihren Lehrern den Aus- flug nach Pest verbieten. Aber die Pforte belehrte den öfter- reichisch-ungarischen Minister von parlamentarischer Herkunft, der einstmals den Türken Reformen beibringen zu müssen wähnte, daß es nicht wohl angehe, friedlichen Bürgern das Reisen zu untersagen, und so sehen wir die Softa-Deputation in Pest, um- jubelt von den Repräsentanten Ungarns . Altkluge Cisleithanier, genährt von der offiziösen Milch der frommen Denkungsart, mögen über die Demonstrationen zu Pest spotten. Sie mögen es immerhin sonderbar finden, daß sich Christen und Mahomedaner, Vertreter abendländischer und mor- j früher, so doch nach vollständigem Abschluß desselben. Als Rechts- ; mittel stehen dem Angeklagten noch die Nichtigkeitsbeschwerde und i die Appellation offen, welche beide vom Oberappellationsgericht 1 in Dresden entschieden werden. — Eine alte Lüge. Die Wochenschrift„Neue Zeit", welche bei Besprechung der neuesten Gedichte Herwegh's die längst als infame Berläumdung gebrandmarkte„Spritzleder- geschichte" aufzuwärmen den traurigen Muth gehabt hatte, bringt in ihrer letzten Nummer(19) folgende„Berichtigung": „Nach 8 11 des deutschen Preßgesetzes ersuche ich Sie um Aufnahme folgender thatsächlichcn Berichtigung: In einem mit L. unterzeichneten Artikel der Nr. 11 Ihrer Wochenschrist, aus- gegeben am 8. März 1877, über meines verstorbenen Mannes, Georg Herwegh ,„Neue Gedichte" heißt es:—„und vor allem — sie(nämlich die Gedichte), radotiren, als ob es ihrem Ver- fasier Herzenssache gewesen wäre, das Spritzleder von Schopf- heim nicht in Vergessenheit gerathen zu lassen." Der Verfasser spielt mit diesen Worten auf die verschiedentlich aufgestellte Be- hauptung, als ob sich Herwegh in dem sogenannten badischen Feldzuge von 1848 nach dem Gefecht bei Dossenbach , unter dem Spritzleder eines Wagens verborgen, aus dem Staube gemacht hätte, wie auf eine Thatsache an. Obgleich schon wiederholt zu Herwegh's Lebzeiten nachgewiesen wurde, daß die ganze Ge- schichte vollständig erfunden ist, namentlich auch von drei Augen- zeugen, nämlich von mir selbst in„Zur Geschichte der deutschen demokratischen Legion aus Paris. Von einer Hochverrätherin. Grünberg 1849. Verlag von W. Levysohn", von Hrn. v. Cor- vin in„Aus dem Leben eines Vorkämpfers. Erinnerungen 1862—64" und von Professor Krebs in einem Artikel der „frankfurter Zeitung" vom Februar 1875, so sehe ich mich als Wittwe des Angegriffenen veranlaßt, nochmals zu erklären, daß Herwegh nirgends und zu keiner Zeit in der angegebenen oder in einer andern Weise leine mitkämpfenden Kameraden im Stich gelassen, daß insbesondere nach dem unglücklichen Ausgang des Dossenbacher Gefechtes er einer der Letzten war, der— und zwar zu Fuß— sich nach Rheinfelden auf Schweizer Boden rettete, was ihm nur dadurch gelang, daß er, als Bauernbursche verkleidet, einen Tag lang in Nanzenbach auf dem Felde ar- beitcte und auf diese Weise den verfolgenden Soldaten entging. Stuttgart , den 17. April 1877. _ Emma Herwegh . n Berlin , 3. Mai. Seit 10 Uhr„sitzt" der Reichstag , das heißt er sitzt in Ge- statt von etwa 40—50 Reichsboten, flanirt, plaudert und kneipt in Gestalt von etwa 90, und schwänzt in Gestalt von etwa 250 Volksvertretern. Die ersten 14 Punkte der Tages- ordnung sind wesentlich formeller Natur— meist dritte Lesungen von Gesetzen(darunter Patentgesetz, Laskcr'sches Nothgesetz, Decker'sches Grundstück, Elsaß-Lothringen :c.), über die bereits Alles und mehr gesagt ist, als darüber gesagt werden konnte und an denen mit einer einzigen Ausnahme nur sehr wenige Punkte noch zu kurzen, schwächlichen Ausstellungen— von De- batten zu reden, wäre ein Mißbrauch des Wortes— Veranlassung geben können. Die einzige Ausnahme ist die Gesetzes- vorläge über das Decker'sche Grundstück, die zu heftigem Aufein- anderplatzen der Meinungen führt. Die Nationallibcralen win- den und drehen sich wie Würmer, um das servile Votum, wel- ches sie abgeben wollen, zu beschönigen. Schorlemer-Alst ver- legt ihnen grausam den Weg zu einem anständigen Rückzug, indem er feststellt, daß alle Voraussetzungen, an die sie bei der 1. und 2. Lesung ihre definitive Zustimmung geknüpft(be- ruhigende Versicherungen in Bezug auf künftige Verwendung des Decker'schen Grundstücks), unerfüllt geblieben seien. Half selbstverständlich nichts. Der Appell an den politischen polm d'honneur(Ehrenpunkt) findet kein Echo in nationalliberaler Brust— läßt sich das bekannte Bismarck'sche Wort(beiläufig die Copie eines schlechten französischen Originals) realpolitisch modificiren. Recht scharf geht es bei den„persönlichen Be- mcrkungen" her— sozialdemokratischem Mund entsprungen, wür- den sie vielleicht einen(Theater-) Blitz des parlamentarischen (Theater-) Donnergottes angezogen und die Auszeichnung eines Ordnungsrufes erlangt haben. Es kommtz schließlich zur na- mentlichen Abstimmung, die 133 Stimmen für, 90 gegen das Gesetz ergibt. Alle in Berlin und Umgegend befindlichen Abge- ordneten waren telegraphisch herbeigerufen worden, so daß für die Dauer der Abstimmung das Haus die beschlußfähige Zahl hatte. Der Bericht des Dr. Thilenius über die Petitionen gegen den Impfzwang veranlaßt den Jmpfgegner Reichensperger (Crefeld ) die Verweisung der Petitionen an den Reichskanzler genländischer Cultur,„Brüder" nennen, und sie mögen auch den Enthusiasmus der Studirenden aufgespart wissen wollen für Gelehrte, deren Weisheit sich in dickleibigen Büchern ausspricht; sie mögen endlich ihre wohlfeilen Witze über die„naturalisti- schen" Politiker machen— Witze, welche diesen traurigen Ge- seilen in ihrer bänglichen Stimmung so ganz und gar nicht vom Herzen gehen— all das ändert an der ernsthaften Bedeutung dieser Demonstrationen nicht das Mindeste. Diese erreichen voll- kommen ihren Zweck, vor der ganzen Welt Zeugniß abzulegen, ans welcher Seite Ungarns Sympathien in diesem Kampfe zwi- schen Gewalt und Recht zu finden sind. Sie sollen ein dröhnen- des Echo sein der Meinungen der Volksvertretungen und der Aeußerungen der Presse Ungarns , ein wohl zu beachtender Wink und eine ernste Mahnung für die offiziellen Lenker der Politik Oesterreich -Ungarns . Während die Letzteren den türkischen Gästen die Wege weisen möchten, speisen die Ungarn diese Männer auf dem Prytaneion! Das ungarische Volk hat sich zu keiner Zeit sein Recht der freien Meinungsäußerung verkümmern oder gar eskamotiren lassen. Nicht diesen Softas, diesem Scheik oder dem so und so genannten Hodscha gelten die Ovationen, sie gelten der um ihre Existenz gegen brutale Gewalt ringenden Türkei , dem„ruhigen Nachbar", dem befreundeten Staatswesen, dem Volke, das sich mit den letzten Kräften anstrengen möchte, einen modernen Staat, ein culturelles Gemeinwesen zu bilden, und an dieser Arbeit durch moskowitische Ärglist und Raubgier ge- waltsam gehindert wird. Doch mit dieser Charakteristik ist das Wesen der Pester Demonstration nicht erschöpfend geschildert, und Jene hätten Recht, welche in dieser Zeit der grausam nüchternen Realpolitik die Ungarn als„sonderbare Schwärmer" hinstellen möchten. Das waren die Ungarn aber niemals und sind es heute am allerwenigsten. Jeder eljenrufende Magyar weiß es, daß auf der Ofener Citadelle anderthalb Jahrhunderte die Fahne des Halbmondes wehte; kennt aus seiner Geschichte, daß die Osmanen Ungarn wie ein Paschalik behandelten; daß die Kämpfe mit den Türken mit zum großen Theile die Ursache sind, weshalb Ungarn so lange und so weit hinter der Cultur des Westens zurückge- blieben ist. Darüber hat der Ungar eine Belehrung fürwahr nicht nöthig. Aber jeder Ungar weiß auch, daß seit dem Passaro- zu beantragen. Die Rede Reichensperger- bringt in glänzender Weise sein eminentes schauspielerisches Talent zur Erscheinung und Geltung. Die Mimik des alten Kautzes— die unnachahmlichen Kopf- und Handbewegungen, das wunderbare Ge- sichtersch neiden und Augenverdrehen, die klassischen Handbe- wegungen— find von wahrhaft unwiderstehlicher Wirkung; und obgleich er sich, wider seine Gewohnheit, befleißigt— und mit Erfolg— möglichst langweilig und trivial zu reden, erzielt er stürmischen Beifall. Wäre ich Barnum, ich böte dem Mann für Borstellungen in der niederen Komik 100,000 Dollars und machte ein gutes Geschäft dabei. Schade, daß der seinen Be- ruf verfehlt hat. Nach Reichensperger sprach Most, der Berücksichtigung der von ihm eingereichten Petitionen gegen den Impfzwang forderte und diese Forderung begründete. Schließlich wurde über die sämmtlichen Petitionen einfach zur Tagesordnung übegegangen. Für Ueberweisung an den Reichskanzler stimmten nur die So- zialisten, das Centrum und ein paar Elsaß-Lothringer. So wäre denn auch diese Frage wieder einmal bei Seite geschoben. Das Beiseiteschieben unbequemer Materien ist überhaupt eine charakteristische Eigenthümlichkeit des Reichstags: Reform der Gewerbeordnung — bei Seite geschoben; Reform der Zollgesetz- gebung— bei Seite geschoben— und nun auch, um die Liste nicht größer zu machen, die Jmpffrage. Einem Problem aus dem Wege gehn, ist freilich leichter, als es zu lösen. Es ist 4 Uhr— die Tagesordnung der Morgensitzung ist erledigt— Forckenbeck kündigt an, daß der Reichstag Abends >/z7 Uhr zusammen zu kommen hat, um sich zu begraben— oder begraben zu lassen. Für die Leichenrede wollen wir sorgen. Zu dem Bericht des Berichts der Geioerbeordnungscommission hat Fritzsche in der Commission heut folgende Erklärung zu Protokoll gegeben:„Bei Verlesung des von der Tommission im Plenum zu erstattenden Berichts, ist mir erst bekannt geworden, welche Motive die Mehrheit der Commission geleitet, als sie auf Antrag des Grafen Luxburg beschloß, den Antrag v. Galen und Genossen dem Reichskanzleramt als Material nicht mit zu über- weisen. Für mich waren diese Mottve nicht maßgebend, leider war es mir nicht möglich, meinen Standpunkt zu präzisiren. Mit der Majorität stimmte ich lediglich in der Absicht, den von meinen Parteifteunden und mir eingebrachten Anttag dem Reichs- kanzleramt überwiesen zu sehen." Abends 7 Uhr. Bor einer Viertelstunde—„ba§_ akademische Viertel" wurde eingehalten— begann„die letzte Sitzung". Tagesordnung»/« Elle lang, aber doch nichts darauf— der Rest, der noch for- mell zu erledigenden„Geschäfte". Im Saal 70—80 Mitglie- der, die entweder stehen, herumgehen, oder auf ihren Plätzen Herumrutschen— denn Sitzfleisch hat Keiner mehr. Nur fort! Nur fort aus dieser parlamentarischen Folter! Wehe dem, der jetzt noch eine Rede versuchen sollte! Er würde unbarmherzig niedergeschrieen, unter Zornesrufen erstickt! Schade, daß das„hohe Haus" so spät zur richtigen Erkenntniß des Werthes oratorischer Leistungen gelangt ist. Forckenbeck, der sich abquält, möglichst feierlich auszusehen, hat allein das Wort:„Wir treten ein in den ersten Punkt der Tagesordnung. — Das Wort wird nicht gewünscht. Ich schließe die Diskussion. Wer der Gesetzesvorlage seine Zustimmung gibt, den bitte ich, sich zu erheben. Es ist die Majorität, die steht. Die Gesetzesvorlage ist angenommen, und damit der 1. Punkt der Tagesordnung erledigt. Wir kommen nun zum 2. Punkt der Tagesordnung." Und nun wiederholt sich Wort für Wort dieselbe Prozedur. Kein Mensch hört zu. Herr v. Forckenbeck macht trotzdem ein so ernsthaft feierliches Gesicht, daß ein rö- Mischer Augur, der ihn betrachtete, vor Neid bersten oder— vor Lachen zerplatzen würde. Genau 15 Minuten dauert das grausame Spiel. Ein neuer Abschnitt beginnt— die Leichenrede, aber nicht die richtige, bloß die offizielle; Forckenbeck hält sie. Er zählt auf, was der Reichstag geleistet— wir wissen es. Wozu noch warten? Ich halte es nicht länger aus. Weg! Durch die kaum geschlossene Thür tönt mir ein dünnes Hoch! auf Seine Maje- stät unfern Kaiser nach— so dünn, daß Forckenbeck's Gurgel- töne deutlich herauszuhören sind. Tont est fini! Alles ist fertig, — bis es wieder von Neuem anfängt. Wird es von Neuem anfangen? Wird dieser Reichstag wieder zusammenkommen? Ueberhaupt wieder ein Reichstag? Wer weiß es— quien sade — sagt der kluge Spanier Da hinten in der Türkei ist ein Tanz losgegangen, dessen Ende und Ausgang Niemand absehen kann. Wenn der Kehraus gemacht wird, wer und was wird dann noch aufrecht stehn?(juien sabv? Die Varziner Sphynx gewiß nicht.— witzer Frieden die Türkei Oesterreich - Ungarns bester Nachbar gewesen: daß die Erhaltung der Türkei ein Lebens- Interesse Oesterreichs ist; daß das Auftreten slavischer Kleinstaaten an Oesterreichs Grenzen als ebenso vieler Vasallen Rußlands für das Lebens-Interesse unseres Staatswesens gefährlich ist. Seit dem Auftteten des„größten Ungars", seitdem Stephan Szechenyi die Donau- Dampfschifffahrt ins Leben rief, weiß jeder Ungar die Bedeuwng des Stromes zu würdigen, von dem Rußland fernzuhalten unter allen Systemen, in allen Epochen erste Auf- gäbe Oesterreichs gewesen. Staatliches und wirthschaftliches In- tcresse erscheinen bedingt von der Aufrechterhaltung der Integrität der Türkei . Hingegen fühlt jeder Ungar instinktiv die Gefahr, welche der Stephanskrone, dem Rechtszustande Ungarns von Rußland und der Ausbreitung seiner Macht an der untern Donau droht. Zu guter Stunde veröffentlicht Herr v. Arneth die Briefe und Resolutionen der Maria Theresia , welche als Königin von Ungarn alle russischen Theilungspläne auf die Türkei mit Entschiedenheit zurückwies, damit Rußland nicht der Grenznachbar Ungarns werde. Jenseits der Leitha fühlt Jeder- mann, daß Rußlands slavische Befreierrolle mit Erfolg nur auf Kosten Ungarns durchzuführen ist. Man ahnt in Ungarn mit klarer Voraussicht, daß Rumäniens Selbständigkeit Aspirationen auf ungarisches Gebiet weckt; man fürchtet mit Recht die Entfesselung nationaler Leidenschaften unter den Walachen und erinnert sich noch der Erhebung der Romanen, ihrer Greuelthaten unter Avram Jancu und der furcht- baren Bauern- Rebellionen gegen die magyarischen Adeligen. Alltäglich werden die Ungarn daran erinnert, daß im südlichen Theile des Reiches der Hauptsitz der Omladina ist; daß die meisten der Bewegungen in Südungarn geplant waren; daß die Belgrader Serben hinwiederum den Kampf gegen Ungarn 1348—49 als ihre eigene Sache betrachteten; daß die unga - rischen Südslaven förmliche nationale Wallfahrten nach Belgrad veranstalteten; daß die Omladina mit Einem Worte einen großen Theil des Stepbansreiches unterwühlt. In einem Volke, das mit vollem Antheil in seiner historischen Tradition lebt, wie das ungarische, bleiben auch die Erinnerungen an Verhältnisse wach, die heutzutage in unendlich ferner Zeit hinter uns zu liegen scheinen.
Ausgabe
2 (9.5.1877) 54
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