suchte die Bourgeoisie im Wahlkampf zu beten und so dieSchrecken des Sozialismus zu bannen. Diese vollständige Preis-gäbe aller Gesinnung und aller Prinzipien hat denn auch dies-mal noch ausgereicht, um bei den meisten Stichwahlen die So-zialisten zu schlagen. Wie lange die Wähler aber politischeChamäleons wählen werden, ist freilich eine andere Frage. Einesaber ist heute schon sicher: die sozialistische Agitation ist heuteschon stark genug, um die Bourgeoisie zur Verleugnung allerihrer Grundsätze zu zwingen; die Bourgeoisie ist fromm ge-worden durch uns, und ihre Siege über uns tragen als richtigeSignatur die Firma: Gottes Segen bei Cohn!Zu den Erfolgen, welche wir zu verzeichnen haben, hat nebender mündlichen Agitation wesentlich unsere Presse mit beigetragen.Zunächst muß hier der auf Grund eines vorzährigen Congreß-Beschlusses erfolgten Verschmelzung der beiden früheren Central-organe„Neuer Social-Demokrat" und„Bolksstaat" Erwähnunggethan werden. Dieselbe vollzog sich ohne besondere Anständeund gelang es durch vereintes Zusammenwirken, den für Berlinentstandenen Ausfall zu decken und auszugleichen. Das neu insLeben gerufene Centralblatt„Vorwärts" erfreute sich der bestenAufnahme, und konnte dasselbe kurz nach seinem Bestehen seinenLesern die gewiß erfteuliche Mittheilung machen, daß die Zahlder Abonnenten über 12,000 betrage.Neben dem„Vorwärts" bestehen in Deutschland noch 41sozialistische Blätter, ein ebenfalls sozialistisch gehaltenes belle-tristisches: Blatt„Die Neue Welt" und 14 Gewerkschastsorgane,welch letztere mehr oder minder ebenfalls im Geiste des So-zialismus gehalten sind. Von den 41 politischen Organen derdeutschen Sozialdemokratie erscheinen 13 wöchentlich sechsmal,14 wöchentlich dreimal, 3 wöchentlich zweimal, 11 wöchentlicheinmal. 25 dieser Blätter werden in von Parteigenossen be-gründeten Druckereien hergestellt, deren derzeit vierzehn in Deutsch-land existiren. Ein Vergleich der sozialistischen Zeitungsliteraturmit dem Vorjahr zeigt uns eine Zunahme von 18 Blättern imLaufe der letzten 9 Monate. Der Aufschwung unserer Presse istdeshalb ein gradezu großartiger zu nennen, zumal dieselbe nichtblos in Bezug auf die Zahl der Blätter zugenommen, sondernsich, und das ist das wesentlichste, in Bezug auf Abonnentenmindestens verdoppelt hat. Wenn auf dem vorjährigen Congreßdie Zahl der Abonnenten inclusive des Unterhalwngsblattes„DieNeue Welt" auf nahezu 100,000 angegeben werden konnte, sobeläuft sich dieselbe jetzt nach den Wahlen ohne„Die Neue Welt"auf weit über 100,000,„Die Neue Welt" selbst aber hat einenAbonnentenstand von 35,000, der von Woche zu Woche steigt.Nicht ohne Interesse dürfte es sein, die Zahl der Redakteureunserer Blätter und deren frühere Beschäftigungsart kennen zulernen. Nicht selten machen unsere Gegner den lächerlichen Ein-wand, daß die geistige Führung der Sozialdemokratie sich durch-gehends in Händen von„verbummelten Genies" aus den so-genannten besseren Ständen befindet. Literaten die ihren Berufverfehlt, davongejagte Offiziere, verbummelte Studenten sollenes gewöhnlich sein, welche bei uns das große Wort führen undunter deren geistiger Leitung die Partei steht. Sehen wir zu,ob diese Behauptung wahr ist. Bei den oben angeführten 41politischen Organen und dem Unterhaltungsblatt sind im Ganzen44 Redakteure angestellt. Die geringe Zahl von Redakteurenerklärt sich einestheils dadurch, daß mehrere Blätter nur Zweig-blätter sind, andererseits durch die große Zahl von Mitarbeiternaus allen Ständen, deren sich eine ganze Reihe unserer Blättererfreuen. Unter diesen 44 Redakteuren unserer Zeitungen befinden sich nach einer genauen Zusammenstellung: zwölf Literatenmit fast durchgehends akademischer Bildung, elf Schriftsetzer, vierKaufleute, drei Schlosser, ein Maurer, ein Lohgerber, ein Riemen-dreher, ein Mechaniker, ein Cigarrenarbeiter, ein Zimmermann,ein Böttcher, ein Schuhmacher, ein Goldarbeiter, ein Buchhändler,zwei Schneider, ein Lehrer, ein Zeichner.— Thatsache also ist,daß über zwei Drittel unserer Preßvertreter direkt aus demArbeiterstand hervorgegangen sind und daß von jenen„unsauberenElementen", welche unsere Gegner so stark in unseren Reihenvertreten glauben, oder doch wenigstens zu glauben vorgeben,keine Rcde sein kann. Lumpe suchen ihren Vortheil nicht beiden Verfolgten, wohl aber bei den Verfolgern. Nebenunseren Preßorganen mag der Vertrieb der Broschüren und desKalenders„Armer Conrad" hier noch Erwähnung finden. Wasden Vertrieb der Broschüren betrifft, so wächst derselbe vonMonat zu Monat, und dringt die sozialistische Literatur heutein Kreise ein, wo man es vor 2—3 Jahren kaum zu hoffen wagte.Als Beispiel sei hier erwähnt, daß von der Bracke'; chen Agitations-schrift„Nieder mit den Sozialdemokraten" während des Wahl-kampfes allein nahezu 100,000 Stück vertrieben worden sind.Der Kalender ist in einer Auflage von 50,000 Exemplaren er-schienen und verkaust.So ersteulich nun auch die Ausbreitung und Vermehrungunserer Presse ist, so muß doch an dieser Stelle vor allen über-eilten Schritten und besonders vor schlecht fundirten Uuterneh-münzen gewarnt werden. Die Presse soll sein und ist unser bestesAgitations- und Kampfesmittel, aber damit es dieses sein kann,muß dieselbe möglichst selbstständig und sicher gestellt sein. Pflichtaller Parteigenossen ist es deshalb, bevor sie an die Neubegrün-dung von Parteiorganen herantreten, sich genau zu überzeugen,ob die Möglichkeit der Existenz für das Blatt auch vorhanden,und vor allem, ob zu dessen Leitung auch die geeigneten geistigenund wirthschaftlichen Kräfte vorhanden sind. Besser kein Blattals ein solches, das den gestellten Anforderungen nicht entspricht.Neben der Thättgkeit, welche die Parteigenossen auf dem Ge-biete der mündlichen und schriftlichen Agitation entfaltet haben,muß auch deren staunenswerther Opferwilligkeit gedacht werden.Daß Wahlkämpfe, wie die am 10. Januar und bei den Stich-wählen Geld kosten, versteht sich wohl von selbst und bedarf esdarüber keiner langen Auseinandersetzungen, großartig aber ist,was die deutschen Arbeiter aufgebracht haben, um auf der poli-tischen Arena unter der Fahne des allgemeinen, gleichen unddirekten Wahlrechts ihr Gewicht in die Wagschale zu werfen.Die hier beigefügte Bilanz der Hauptwahlkasse umfaßt den Zeit-räum vom 11. August 1876 bis 30. April 1877, also acht undeinen halben Monat und weist dieselbe folgende Summen auf:Bilanz(Abschluß).Kinnahme. m.$f.Regelmäßige Beiträge.... 6019 15Agitationssond...... 663 91Unterstützungsfond..... 2558 91Wahlfond........ 28327 55Protokolle und Bücher.... 717 10durch Hadlich, Leipzig.... 5434 60. Geib, Wähler, erste Rate. 4330 97„ zweite„.__ 6165 41Sa. 54,217 60Diese Summen sprechen für sich selbst. Außerdem kommtaber in Betracht, daß bier nicht der vierte Theil dessen auf-geführt ist, was seitens der deutschen sozialistischen Arbeiter beimWahlkampf aufgebracht wurde. Wir verweisen hier auf die Ab-rechnungen der Centralwahlkomits's der einzelnen Kreise, welchetheilweise in den Parteiorganen erschienen sind und welche zu-sammengezählt eine riesige Summe ergeben. Erwähnt sei hiernur der Abrechnung für den ersten schleswig-holsteinischen Wahl-kreis(Altona), welche eine Einnahme von 23,000 und eine Aus-gäbe von 30,000 M. aufweist.Ueber die Thättgkeit deS Centralwahlkomits'S sei hier nocheiniges erwähnt. Dasselbe hielt seit seiner Konstituirung67 offizielle Sitzungen ab und wurden seitens des Sekretariats2208 Sendungen empfangen und 5724 Briefe und sonstige Sen-düngen expedirt. Der Kassirer verzeichnet 3200 Eingänge und950 Ausgänge. Differenzen zwischen der Revisions- und Be-schwerdekommission einerseits und dem Centralwahlkomits anderer-seits sind nicht vorgekommen, sowie auch im Großen und Ganzenkeine wesentlichen Widersprüche gegen die Anordnungen des Cen-tralwahlkomitö's erhoben wurden. Kleinere Differenzen undMeinungsverschiedenheiten natürlich ausgenommen.Was die Organisatton der Partei betrifft, so steht es in diesemJahre noch genau so wie vor acht und einem halben Monat,diese Angelegenheit ans dem Kongreß verhandelt und erört ctwurde. In Preußen ist der Prozeß gegen die Partei noch nichtentschieden, obwohl die VII. Deputation des berliner Stadt-gerichts bereits ihr Urtheil gesprochen, das hie Angeklagten ver-urtheilt und die Partei aufgelöst hat. Der Prozeß dortselbstschwebt jetzt bereits seit 30. März vorigen Jahres und wenn es indemselben Tempo wie bisher fortgeht, dann ist alle Aussicht vor-Händen, daß der März noch zwei Mal ins Land geht, bisTesfendorf mit der Vernichtung des angeblich geheim fortgesetztenpottttschen Vereins, genannt„Sozialdemokrattsche ArbeiterparteiDeutschlands" ferttg wird. In Bayern ist die Auflösung derPartei in erster Instanz nicht ausgesprochen worden und wurdendie Angeklagten freigesprochen. Da der Staatsanwalt appellirte,bleibt abzuwarten, ob nicht die zweite Instanz oder vielleicht garder oberste Gerichtshof findet, daß die Richter erster Instanz sichgeirrt und die Partei dann doch aufgelöst wird. Daß trotz desVerbots unserer Organisation die Partei nicht nur nicht geschwächtist, sondern überall neue Blüthen treibt und allerwärts Bodengewinnt, das hat die letzte Wahl glänzend bewiesen und Testen-dorf, der ja ein ganz brauchbarer preußischer Staatsanwalt seinmag, hat sich als>ehr schlechter Prophet erwiesen, als er beiBerurtheilung des„Allgemeinen deutschen Arbeitervereins" aus-rief: Vernichten wir die sozialistische Organisation und es existirtkeine sozialistische Partei mehr. Seit 4 Jahren zerstört HerrTessendorff alle und jede sozialistische Organisation, und geradeseit dieser Zeit blüht die sozialistische Bewegung mehr auf alsje zuvor. Möge Herr Tessendorff seine segensreiche Thättgkeitnoch lange fortsetzen.Zum Schluß gestatten Sie mir noch auf die Opfer hinzu-weisen, welche der heutige reakttonäre Staat aus den Reihen derSozialdemokratie gefordert hat. Die Zahl der Redner, welchein diesem Jahre verhaftet und mit mehr oder minder langenHaftstrafen bedacht wurden, ist verhältnißmäßig nicht größer als inden vorausgegangenen Jahren; besondere Erwähnung verdientindeß die Berurtheilung von Vahlteich zu ein und einem halbenJahre Gefängniß wegen einer unverfänglichen Aeußerung in einerRede.Wenn aber die Redner verhältnißmäßig glimpflich weggekom-men sind, so wurde dagegen unsere Presse um so reichlicher be-dacht. Erst vor wenigen Tagen veröffentlichte die„Chemnitzerfreie Presse" eine Zusammenstellung der ihren Redakteuren imLaufe dieses JahreS zudiktirten Gefängnißstrafen, und stellte sichda heraus, daß diese Strafen, nur in einem Jahre„verdient",über 8 Jahre betragen. Aehnlich geht es allen übrigen Blättern.Die„Berliner freie Presse" hat zwei Redakteure im Gefängnißsitzen, zwei Redakteure der„Bergischen Volksstimme" haben erstdas Gefängniß nach achtmonatlicher Haft verlassen und manchanderes Blatt kann Leidensgenosien dazu stellen. So wüthet dieReaktion: Alles sucht sie zu zerstören, was wir schaffen, aber ihrWüthen ist, wie die Erfahrung lehrt, fruchtlos, denn wenn manglaubt, einen Kämpfer für das Proletariat beseitigt zu haben,erscheinen an dessen Stelle zwei und mehrere neue auf demKampfplatz. Die Sache der Sozialdemokratie ist die Sache desVolkes und deshalb unausrottbar, wie dieses selbst. Im Ver-trauen auf diese Lebenskrast arbeiten und kämpfen wir weiter,und dieser Congreß wird, so hoffen wir, eine wichtige Etappein diesem Streben nach vorwärts bilden.Hamburg, den 28. Mai 1877.Das Central-Wahlcomitö.I. A.:Jgttaz Auer.Verantwortlicher Redakteur: R. Seiffert in Leipzig.Redaktton und Ixpedittou Färberstraße 12/11 in Leipzig.