— Ueber den Nothstand in Sachsen wird im„DresdnerJournal" ein amtlicher Rapport erstattet. Danach ist der Roth-stand zwar nicht in dem Maße vorhanden, wie er durch etlicheZeitungen geschildert wird, immerhin„aber doch in gewissenGeschäftszweigen, namentlich in der Branche der Eisenfabrikation,der Handweberei und des Klöppelwesens."--„ErfreulicherWeise", heißt es in dem Rapport dann weiter,„ist es jedochbis jetzt im Wesentlichen der örtlichen Armenpflege und derPrivatwohlthätigkeit— wobei insbesondere der fürsorgenden Mit-Wirkung der obererzgebirgischen und voigtländischen Frauenvereineund des Albertsvereins mit großer Anerkennung zu gedenken ist— gelungen, da, wo Mangel und Roth eingetreten waren, ingeeigneter Art zu helfen.(!!!) Die Regierung hat es aber auchihrerseits für eine ernste Pflicht gehalten, dahin Vorkehrung zutreffen, daß, um einer großen Anzahl der unbeschäftigten Ar-beiter einen lohnenden Erwerb zu verschaffen, die auf Grundder erfolgten ständischen Bewilligung auszuführenden Eisenbahn-,Straßen-, Waffer- und Hochbauten schon seit vielen Wochen leb-hast in Angriff genommen, beziehentlich fortgesetzt worden findund zum Theil nächstens in Ausführung gelangen. Dahin ge-hören außer den Reparatur- und sonstigen Bauten, deren Her-stellung bei jeder einzelnen den Betrag von 50,000 Mark nichtübersteigt. Bei diesen Bauten find viele Tausende von Arbeiternbeschäftigt. Im Uebrigen ist schon seit längerer Zeit daraufBedacht genommen worden, daß bei allen Zweigen der Staats-Verwaltung die nöthigcn Bedürfnisse fast ohne Ausnahme insächsischen Fabriken und bei sächsischen Handwerkern bestellt undgekauft werden, und so sind z. B. allein von Seiten der Militär-Verwaltung für die seit dem l. Januar d. I. aus inländischenBezugsquellen für die Bekleidung der Armee und für die Be-dürfnisse der Garnison- und Lazareth-Verwaltungen bezogenenGegenstände außer den Kosten für Fourage und Heizungsmaterial2,209,570 Mark verausgabt worden. Da nun in der jetzigenJahreszeit auch bei der Landwirthschast Tausende von Arbeiternlohnende Beschäftigung finden, so ist zu hoffen, daß wenigstensin den nächsten Monaten und bis zum Winter ein Besorgnißerregender allgemeiner Nothstand nicht eintreten werde."Die Stellung der Sozialdemokratie zur Nothstandsfrage istbekannt: sie verlangt nicht nur die Anerkennung des Rechtes aufArbeit von Seiten des Staates, sie will auch, daß der StaatMaßregeln treffe, die den wirthschastlichen Kalamitäten ein fürallemal ein Ende machen. Das heißt mit andern Worten:die Sozialdemokratie will nicht sowohl den Nothstand als Wir-kung der heutigen Produktionsweise, sondern auch die heutigeProduktionsweise als Ursache des Nothstandes beseitigt wissen.Und zu diesem Streben verlangt die Sozialdemokratie die Mit-Wirkung des Staates, dessen Aufgabe es ist, die Wohlfahrt Allerzu wahren und zu fördern.— Parlamentarische Sitte. Wie es im deutschen Reichs-tag mitunter hergeht, wie die Stimme unliebsamer Redner durchGelächter, Geschrei, Gebrüll übertönt wird, das ist unserenLesern sattsam bekannt. Solches Gebahren scheint zum Parla-mentarismus zu gehören. Es ist, als ob in der Parlaments-lust etwas eigenthümlich Corrumpirendes läge, welches allen nichtbesonders charakterfesten Menschen das Gefühl des einfachstenAnstandes nimmt, so daß sie im öffentlichen Leben für erlaubthalten, was sie im Privatleben für ungezogen, ja für pöbelhafthalten und mit Abscheu von sich weisen würden. Der deutscheReichstag, obgleich ihm auf diesem Gebiete die Palme gebührt,steht mit derartigen Leistungen(offiziell heißen sie:„Heiterkeit"oder„Unruhe") nicht allein. So war z. B. das englischeUnterhaus, jene„auserlesenste Gesellschaft von Gentlemen", voreinigen Tagen der Schauplatz folgender Scene. Am Mittwochvor 8 Tagen— wir übersetzen aus englischen Blättern— erhobsich Herr Coustney, um eine Bill für Einführung des Frauen-stimmrechts(d. h. des Stimmrechts der den Censusbedingungengenügenden selbstständigen Frauen— also durchaus keine demo-kratische Maßregel. R. d. B.) zu befürworten. Kaum war eraufgestanden, so erschallte von den conservativen Bänken derRuf: Abstimmen! Herr Coustney verzichtete jedoch nicht aufsein Recht zu sprechen, und als die Conservativen dies bemerkten,fuhren sie fort: Abstimmen! Abstimmen! zu rufen, mit solchemNachdruck, daß auch nicht ein Satz des Redners zu verstehenwar. Nach einigen Minuten wurde es Jedem klar, daß derRedner, den man nicht reden lassen wollte, mit der Zuhörer-schaft, die nicht zuhören wollte zu einer Kraftprobe entschlossenwar. Um 20 Minuten nach 5 Uhr wurde Herrn Coustneyein Glas Wasser gebracht, das er mit höflicher Verbeugung an-nahm und unter betäubenden„Cheers"(ausgesprochen„Tschirs",Beifallsrufen) austrank. Wieder erfrischt, setzte er nun denKampf mit verdoppeltem Eifer fort, allein nur dann und wannbrach sich ein abgerissener Laut durch den Lärm Bahn. Wenner sich einmal bückte, um auf seine Notizen zu blicken, so wurdestatt„Abstimmen!" zur Abwechselung:„Lesen! Lesen!" gerufen.Hielt er einen Moment ein, um sich zu erholen, so schrie manihm zu:„Weiter! Weiter!" Und wenn er seine Stimme auf'säußerste steigerte, um wenigstens einen Satz über das Chaosemporsteigen zu lassen, dann begrüßte ihn ein ironisches„Lauter!Lauter!" Um halb 6 Uhr brachte man ihm ein zweites GlasWasser und ermunterte ihn durch erneute Cheers zu erneutenAnstrengungen. Das Ringen dauerte noch eine volle Viertel-stunde, und als um drei Viertel auf 6 Uhr der„Speaker"(„Sprecher"— Präsident) sich erhob und ankündigte, daß nachden Regeln des Hauses die Debatte vertagt sei(in den Mitt-Wochssitzungen, wo— entsprechend unseren„Schwerinstagen"—Privatanträge vorkommen: an den anderen Tagen hat das Unter-haus meist Nachtsitzungen, die sich oft bis spät in den Morgenerstrecken), da brach die siegreiche Majorität in ein donnerndesSchluß-Cheeren aus, und Herr Courtney, der zuletzt die gewal-tigsten Kraftanstrengungen gemacht hatte, setzte sich erschöpftnieder. Unter den Zuschauern auf der Gallerte befand sichMidhat Pascha, welcher dem Vorgang mit vieler Aufmerksam-keit folgte. Was der fein gebildete Türke wohl von der„aus-erlesensten Gesellschaft von Gentlemen" gedacht haben mag, wiesie sich selbst zu nennen beliebt hat?— Wohl so etwas wie„untertürkisch".— Aus Frankreich. Wie weit die Frechheit der ver-einigten Bonapartisten und Jesuiten geht, das möge folgendeAnsprache des„Petit Parisien", dem bonapartistischen MinisterFourtou gewidmet, zeigen:„Freunde! Eifer und Wachsamkeit. Die Republik liegt imTodeskampf: Die Probe ist gemacht; es giebt keinen aufrichtigenPatrioten, welcher dieses infame Regierungssystem nicht ver-urtheilt, das 1793 Ströme Blutes vergoß, daß unsere Milliardenund unsere Provinzen dem Feind überlieferte, das die blutigenMissethaten der Commune vollbrachte, das endlich durch seineUnbeständigkeit und seine steten Unruhen Frankreich zum Unter-gang und zur Zerstückelung führen muß. Das Kaiserreich,welches uns die Ordnung, den Ruhm, einen unerhörten Wohl-stand gegeben hat und das, wäre nicht die Opposition in ver-brecherischer Mitschuld mit Preußen gewesen, uns die Rheingrenzeverschafft haben würde,— das Kaiserreich allein kann unsretten. Es steht heute wieder auf; morgen wird es von Rechtswegen bestehen. Der junge Erbe seiner Politik und seinerTradition ist bereit, seine Rechte wieder aufzunehmen. Dasdritte Kaiserreich wird die Militärdienstzeit auf drei Jahreherabsetzen; die indirekten Steuern und den Octroi abschaffen;den Preis des Lohnes erhöhen, dem heiligen Stuhl seine Unab-hängigkeit und dem Vaterland seine verlorenen Provinzen zurück-geben. Seine erste Sorge wird sein, die Irregeleiteten zu am-nestiren und das Land ein für alle Mal von den republikanischenund übrigen Agitatoren zu reinigen. Freunde! Der Tag nahtheran: Mac Mahon, die Armee, die Beamten sind für uns;helfen wir ihnen. Geben wir Frankreich Frieden, Ruhm, Ord-nung und Freiheit zurück. Am 1. Juli!... Es lebe derKaiser! Es lebe Mac Mahon!"Wie groß aber auch die Ohnmacht der Bourgeoisrepublikaner,der Mörder des Pariser Proletariats, ist, das geht gleichfallsaus solchem Schriftstück hervor. Den französischen Bourgeois-republikanern gebührt aber nichts anderes, als die Reitpeitschedes Napoleon IV., genannt Lulu.— O welches Glück— Czar zu sein. Wenn„Väterchen"Alexander in Tiefsinn verfallen ist, so hat das seine guten Gründe.So schlecht der Geschichtsunterricht gewesen sein mag, den Leutedieses Standes zu genießen pflegen, die Thatsache wird ihmsicherlich nicht verborgen geblieben sein, daß das Wort des Fran-zosen Custine:„das russische Staatssystem ist durch Meuchel-mord gemilderter Despotismus" auf striktester Wahrheitberuht. Von den Czaren, die seit 1517, wo der Titel zuerstaufkam, über das Moskowiterreich-regiert haben, sind nur diewenigsten eines natürlichen Todes gestorben— Gift und„zuenge Halsbinden" haben die meisten„vor ihrer Zeit" von derBürde der Lebens- und der Tyrannensorgen befreit. Und zwargrassiren diese zwei Krankheiten in neuerer Zeit fast noch bedenk-licher als früher. Die drei Vörgänger des jetzigen Alexanderwaren: Paul, Alexanderl. und Nikolaus— wohlan Paul wurdemit seiner Halsbinde erdrosselt, während sein hoffnungsvollerSohn und Nachfolger, der von„Frömmigkeit" und„Humanität"triefende spätere Stifter der„heiligen Allianz" in einem Neben-zimmer auf den Knieen lag und andächtig— lauschte; Alexander,der auf die eben beschriebene Manier Czar ward, starb auf einerReise nach Südrußland an Gift, und Nikolaus, der Vater desnoch nicht verflossenen Väterchens starb in Folge der Niederlagenim letzten Türkenkrieg entweder an Gift oder an zurückgetretenerGalle. Woran wird Alexander II. sterben?schimmern. Es handelt sich, wie wir schon längst sagten, umnichts weniger als um die Eroberung der Türkei; inwieweitEngland und Oesterreich sich zur Hilfe aufraffen, bleibt dahin-gestellt, doch ist diese Hilfe noch nicht so sehr nöthig, da dieaugenblickliche Lage auf dem Kriegsschauplatze für die Türkengünstig ist. Die aufständischen Montenegriner sind energisch zurückgeworfen worden; die russischen Torpedos haben auf derDonau ihre Wirksamkeit verloren, so daß der Donauübergangnoch äußerst harte Kämpfe kosten wird, wenn er überhaupt ge-lingt: im russischen Kaukasien lodert der Aufstand hell auf unddie Vormärsche der Russen scheinen vorläufig bei Kars ein Endegenommen zu haben.— Zur Arbeiterbewegung in Nordamerika. DieSozialdemokraten im Staate Wisconsin(Hauptstadt Milwaukee)haben folgendes Wahlprogramm aufgestellt:„Die Sozialdemokraten von Wisconsin betrachten sich alseinen Theil der Arbeiterpartei der Vereinigten Staaten undstellen folgendes Wahlprogramm für den Staat Wisconsin auf:1. Alle Repräsentanten, welche sich auf eine Platform ver-pflichten, sind rückberufbar, wenn sie gegen dieselbe handeln.2. Den Gemeinden steht das Recht zu, ihre lokalen An-gelegenheiten selbstständig zu ordnen.3. Eine Revision der Steuergesetze ist unverzüglich in An-j griff zu nehmen. Wir verlangen eine progressive Einkommen-•(teuer und die Besteuerung alles Privateigenthums bis auf einen- Minimalsatz an beweglichem Eigenthum.4. Schulpflicht bis zum 14. Lebensjahre.5. Untheilbarkeit des Schulfonds.6. Kostenfteie Lieferung confessionsloser und einheitlicherSchulbücher an die Schulkinder seitens des Staates.7. Errichtung eines statistischen Arbeitsbureaus für den StaatWisconsin.8. Ein strenges Lohneintreibungsgesetz, laut welchem derArbeiter kostenfrei zu seinem Rechte gelangt und der Arbeit-geber mit seinem ganzen Grund- und beweglichen Eigenthumfür die Lohnforderung haftet.9. Ein Verbot der Ausnutzung der Gefangenarbeit durchPrivatunternehmer.10. Fabrikgesetze zum Schutze des Lebens und der Gesund-heit der Arbeiter, vor allen Dingen ein Hastpflichtgesetz, undAuszahlung der Löhne in gangbarem Gelde."Die„Tagwacht" ftagt verwundert, und nicht mit Unrecht,warum die Parteigenossen in den Vereinigten Staaten gegenüberder bodenlosen Corruption der Bertrewngskörper sich nicht aufeine gewiß zeitgemäße Agitation zur Einführung der direktenGesetzgebung durch das Volk werfen, ja daß diese Frage in derArbeiterpresse Amerikas fast gar nicht besprochen wird?"— Am 15. ds. Mts. hat der Redakteur des„Vorwärts",Liebknecht, im Leipziger Bezirksgerichtsgefäpgniß eine Haftvon zwei Monaten angetreten, die ihm vom Kieler Gerichtwegen Beleidigung des stehenden Heeres, begangen in einerRede, die Liebknecht in einer Versammlung in Neustadt gehaltenhatte, zuerkannt worden waren.— Ein braver Parteigenosse, August Bandt, Weberin Ernsdorf bei Reichenbach in Schlesien, ist gestorben. Die„Wahrheit" enthält einen Nachruf, aus dem wir Folgendes her-vorheben:„In dem Verstorbenen verliert die Sozialdemokratie desKreises Reichcnbach ihren wärmsten, treuesten Freund. Von demersten Augenblick an, als Lassalle im Jahre 1863 das Bannerder Arbeiterbewegung entrollte, trat Bandt in die Reihen derMitkämpfer und war vom Jahre 1864 an Bevollmächtigter desvon ihm mitbegründeten Allg. deutschen Arbeitervereins. Seitjener Zeit hat er treu und unerschüttert zur Fahne gehalten und-hatte noch kurz vor seinem Tode die Genugthuung, daß die vonihm vertretene Partei immer mächtiger und mächtiger wurde, bissie schließlich den Wahlkreis seines Wohnortes eroberte.An die Parteigenossen in Stettin.Auf dem zu Gotha stattgehabten Sozialisten- Congresse wurdebeschlossen, daß G. Zielowsky wegen seines die Partei schä-digenden Auftretens nicht mehr als Parteigenosse zu betrachtensei, und die von ihm herausgegebene„Stettiner Freie Zeitung"nicht als Parteiunternehmen anerkannt werde. Zugleich wurdeangeordnet, daß von diesem Beschlüsse im„Vorwärts" denStettiner Genossen Kenntniß gegeben werde, um dieselben zuveranlassen, jo weit sie sich bis jetzt nicht über Zielowsky ent-scheiden konnten, gegen dessen Gebahren Stellung zu nehmen— Rußland läßt seine Pläne immer deutlicher durch- und durch einmüthiges Zusammenstehen die sozialistische BeDas Testament Peter's des Großen*).Ein russisch-deutscher Gelehrter, Namens Berkholz, müht sichseit anderthalb Jahrzehnten im Schweiße seines Angesichtes, zubeweisen, daß das vielberufene Testament Peters des Großeneine urkundliche Fälschung sei. Da es Herrn Berkholz, welcherStadtbibliothekar in Riga ist, an Methodik und kritischem Scharf-sinne nicht gebricht, so kann es nicht fehlen, daß sein Beweis-verfahren zu überzeugenden Ergebnissen gelangt; eine andereFrage aber ist es, ob er nicht gegen Windmühlen ficht und mitallem Aufwände seiner Gelehrsamkeit gerade diejenige Seite seinesGegenstandes klarstellt, an deren Aufhellung am wenigsten gelegenist. Denn nicht daran haftet das Interesse, ob das Dokument,welches als Memoire oder letzter Wille Peter's durch die Welt-geschichte geht, an der Newa oder Seine entstanden sei, ob esder besagte Czar eigenhändig geschrieben oder einer Vertrauens-Person diktirt oder endlich in Gegenwart berufener Würdenträgerseines Reiches verkündet habe, sondern daran, daß es den Geistder Petrinischen Politik wie ein Spiegel widerstrahlt, der Petri-nischen und aller nachczarischen bis zu dem heutigen Tage. Dasoströmische Phantasma Katharina's, welche namentlich um dieGröße eines Enkels sorgte, der hinterher gar nicht den Czaren-thron bestieg, die Theilung Polens und der Friede von Kutschuk-Kainardschi, die heilige Allianz und der Krimkrieg— das Allesläßt sich ohne künstliche Interpretation aus jenem„Testamente"heraus-, beziehungsweise in dasselbe hineinlcsen. Es repräsentirtsozusagen die Staatsraison der Czaren.Ein Testament mnß ja nicht durchaus geschrieben und vonherzugerufenen Notaren legalisirt sein; man braucht das frenideWort blos in das gut deutsche„Vermächtniß" zu verwandeln,um sofort einen weiteren Gesichtspunkt zu gewinnen. Traditionenund Instinkte, ja Empfindungen und Gedanken können Bermächt-nisse von Jahrhunderte überdauernder Wirkung darstellen. Ein*) G. Berkholz:„Das Testament Peter's des Großen, eineErfindung Napoleon's I." Petersburg, Schmittdorff 1877.Vermächtniß, welches Oktavian aufnahm und verwirklichte, warder Kaisertraum Julius Cäsar's; ein Vermächtniß, an dem dieHohenstaufen zu Grunde gingen, war die Jtalien-Sehnsucht derdeutschen Ottonen; ein Vermächtniß endlich das„Ich hab's ge-wagt" Ulrich's von Hutten, dessen die deutsche Nation nach voll-brachter Einigung aus dreihundertjähriger Zeitenferne sich er-innerte.Und so ist auch der Pontus-Drang Peter's ein ganz mate-rielles Vermächtniß, sollte er gleich niemals sich der tobten Buch-staben bedient haben, um„gesagt und geschrieben" der Nachweltaufbewahrt zu bleiben. Er lebte als Tradition fort, bald geräusch-voller und bald schüchterner, je nachdem die Macht Rußlandsim Auf- oder Niedersteigen begriffen war, beseelte die Rathgeberder Czarin Anna und flackerte gewaltthätig in Katharina's ehr-geizigem Herzen, schlich diplomatisch durch die Gedanken desersten Alexander und reckte sich brutal in dem Hirne des CzarsNikolaus, bis er eines Tages zu den Massen hinabglitt, dieParagraphe des panslavistischen Programms zu riesengroßenIllusionen anschwellte und, aus der Tiefe wie Odem aus frischgefurchtem Erdreich wieder emporsteigend, das ursprünglich weicheGemüth des zweiten Alexander berauschte, aus dem Gleichgewichtehob, verhärtete.Der exakte Historiker mag hundertmal beweisen, daß die tlr-künde, welche man das Testament Peter's des Großen heißt, eingeschicktes Falsifikat Napoleon Bonaparte's sei; wenn er nichtmit gewichtigen Gründen die Thatsache widerlegen kann, daß be-sagtes Machwerk mit dem unbestrittenen Scheine der Authenticitätdurch ein halbes Jahrhundert schritt, von Niemandem bezweifeltund nirgends als.eine Fälschung verdächtigt wurde, so hat erseine Arbeit vergebens gethan. Die Welt glaubte an das Tefta-mcnt, weil sein Inhalt dem Charakter des angeblichen Erblassersund seiner gekrönten Nachfahren getreulich entsprach, wie dieRömer an das angebliche Testament Julius Cäsar's glaubten,das Antonius an der Leiche des Ermordeten ihnen vorlas; obes geschrieben und bezeugt sei und wo es deponirt worden, darumkümmerten sie sich nicht, und zwar mit Recht. Im bürgerlichenLeben, vor dem Richter über Mein und Dein gilt der Buchstabeals Beweis; in der Geschichte entscheidet der Geist.Wenn Napoleon das„Testament Peter's" wirklich ersonnenund dem Attachö Lesur in seinem Auswärtigen Amte zur Ver-öffentlichung in dessen 1812 erschienenen Werke„Oes progre»äe la puissanes russe ckepuis sou origfine jusqu'au commen-cement du XLX Siecle" übergeben hat, so steht zum mindestendas Eine fest, daß er die Ueberlieferungen und den Charakterder Romanoff'schen Dynastie wie kein zweiter Sterblicher begriff.Hat Peter nicht gesprochen, was seinen Manen der Korsesoufflirte, so hat er es doch sicherlich gedacht. Man geht dievierzehn Artikel der streifigen Urkunde nicht durch, ohne sich beider Lektüre verdutzt an die Stirne zu greifen; es ist ein Seher,dessen Voraussagungen man zu vernehmen meint. Ein paarProben mögen zur Bestätigung dienen. Art. III. ermahnt,„sichmit allen möglichen Mitteln nordwärts längs der baltischen Küsteauszudehnen, wie gleicherweise südwärts längs des SchwarzenMeeres"; Art. V.,„das Haus Oesterreich dafür zu interessiren,daß es den Türken aus Europa verjage, unter dem nämlichenVorwande ein stehendes Heer zu unterhalten, an dem Strandedes Schwarzen Meeres Straßen zu errichten und in stetem Vor-rücken sich bis Konstantinopel auszudehnen"; Art. VIll. endlich„sich mit der Wahrheit zu durchdriugen, daß der indische Handelder Welthandel sei und derjenige, welcher ihn beherrscht, deri wahre Souverän Europas ist."Hundertzweiundfünfzig Jahre nach dem Tode desjenigen, derdiese Maximen angeblich niederschrieb, und fünfundsechzig Jahrenach dem Momente, in welchem sie wirklich sollen erdacht wordensein, bestätigt dröhnend der Kanonendonner an der unteren DonaUund der Karawanenstraße nach Persicn, daß sie nicht Ausgeburten�einer verschwenderischen Phantasie sind, sondern ein zähesschichtliches Leben gehabt haben, vergebens in Anwendung gebrachtvon den Einen, furchtsam verhehlt von den Anderen, bis sie ainEnde doch zum Durchbruche gelangten, um vielleicht eine ganzeWelt in Brand zu stecken.