Man versucht Alles, sie uns aus den Händen zu spielen. Zuerst verbreiteten reaktionäre Zeitungen das Gerücht, der Erblasser stamme aus Mecklenburg und habe Frau und Kinder hinter- lassen. Unser Genosse I. Reitenbach trat dagegen auf und wies im.Vorwärts" zur Evidenz nach, daß L. ein geborener Ost Preuße sei, der zur Zeit, als er ihn im Jahre 1830 kennen ge- lernt, Inspektor in Georgenburg bei Jnsterburg war. Nicht lange nach dieser öffentlichen Erklärung, die in viele Zeitungen übergegangen war, wurde Reitenbach vom Amtsvorsteher in Georgenburg brieflich aufgefordert, über die Angehörigen seines verstorbenen Freundes L. Auskunft zu geben. R. erklärte, daß L. ihn, als er ihn vor einigen Jahren besucht, bereits damals mit seiner Absicht, sein Vermögen der Sozialdemokratie zu vcr- machen, bekannt gemacht, da alle seine Verwandten ver- storben. Er erstand damals in Königsberg Grabsteine für die Gräber seiner Eltern, die auch auf verschiedenen Kirchhöfen, wo seine Angehörigen begraben, von ihm selbst aufgesetzt wurden. Vor kurzer Zeit wurde R. auf gerichtliche Requisition von Kö- nigsberg abermals von dem Amtsvorsteher in Pruszischken, zu welchem Bezirk sein zeitiger Wohnort gehört, über Verwandte L's vernommen. Nochmals gab er dieselbe Erklärung ab, daß er L's Verwandte nicht gekannt, aus seinem Munde aber bei seiner Anwesenheit hier wiederholt gehört habe, daß er weder nahe noch entfernte Verwandte am Leben habe und nur nach Europa gekommen sei, um sein Vermögen der Sozialdemokratie zu vermachen, seinen Eltern'.c. Grabsteine zu setzen und alte Freunde zu besuchen.— Ob die Behörden noch weiter suchen werden?" Im Anschluß an Obiges und zur Ergänzung desselben ver- öffentlichen wir nachstehend eine Notiz der in St. Louis (Ver- einigte Staaten) erscheinenden(von Freund Otto-Walster redigirten).Volksstimme des Westens": .Mit fichtlicher aber wahrscheinlich verfrühter Schadenfreude, schreibt unser amerikanisches Bruderorgan, brmgt die.Westliche Post", welche nun durchaus den letzten Willen unseres edlen, wenn auch unpraktischen todten Genossen Ferdinand Lingenau verdreht und unausgeführt sehen möchte, über den uns nicht überraschenden Vorfall, daß sich eine Erbin gemeldet hat, folgende Jrohlockung: „Die meisten der Leser der„West. Post" werden sich noch des Testaments Lingenau's erinnern, in dem er die Sozialdemo- kraten der ganzen Welt zu seinen Erben einsetzte. Der Nachlaß, welcher sich nach Bezahlung aller Schulden auf ungefähr 7000Doll. belief, wurde vom öffentlichen Administrator übernommen und verblieb in seinen Händen, da nach den Gesetzen des Staates Missouri das Testament keine Gültigkeit besaß. Lingenau hatte nämlich keine bestimmte Person zu seinem Erben eingesetzt, was nach den Gesetzen des Staates nothwendig ist, wenn ein Tests- ment Gültigkeit haben sollte. .Ob Lingenau Verwandte in Deutschland , die seine natür- lichen Erben waren, wußte man nicht. Man erging sich darüber in allerlei Vermuthungen, eine hiesige Zeitung wollte sogar wissen, daß der Verstorbene in St. Louis unter einem angenommenen Namen gelebt hatte, und einer vornehmen altpreußischen Familie entstammte. Alle diese Angaben sind unbegründet gewesen, wie aus Nachrichten hervorgeht, welche das hiesige deutsche Consulat erhalten hat.*) .Dasselbe wurde vom auswärtigen Amt in Berlin benach- richtigt, daß sich bei demselben die Frau eines verstorbenen Steffen von Lingenau gemeldet habe, deren Kinder die nächsten Verwandten des Verstorbenen und daher seine Erben sind.**) Aus den dem Schreiben beiliegenden Dokumenten geht hervor, daß Lingenau einen Bruder Namens Andreas hatte, welcher seines Zeichen? ein Schreiber war und in Malewiszken im Kreis Labiau , Regierungsbezirk Königsberg , wohnte. Dieser hinterließ einen Sohn Simon Carl Traugott Lingenau, der am 4. Januar 1841 zu Maliwiszken geboren wurde. Er war verheirathet und seine Wittwe ist es, welche sich bei dem auswärtigen Amt in Berlin gemeldet hat und für ihre der Ehe mit. Simon Carl Lingenau entsprossenen Kinder die Erbschaft beansprucht. Frau Lingenau wohnt in Berlin , Frankfurter Allee Nr. 18, und soll sich in dürftigen Umständen befinden. „Der Secretär des deutschen Konsulats, Herr Bennwitz, setzte sofort den öffentlichen Administrator, Herrn Lewis, von dem Schreiben in Kenntniß. Der Beamte erklärte, daß er bereit sei, den Nachlaß an die Frau Lingenau auszuzahlen, sobald die *) Schade um das Abonnementsgeld, welches für die oft spalten- langen, jeglicher Begründung baaren Faseleien über Lingenau's Her- kunft ausgegeben wurde. Red. d.„V. d. 28." **) Nach Lingenau's eigenem Ausspruch war die ganze Menschheit seine Familie. Red. d.„V. d. 28." ehe die harte Lehrmeisterin Nothwendigkeit eS dahin gebracht hat, daß der einheitlichen Reaktionspartei eine einheitliche und wirkliche Oppositionspartei gegenübertritt, welche alle Elemente in sich schließt, die bis zu bestimmten Marksteinen politischer Entwickelung zusammengehen können, die vor der Hand und auf lange Zeit hinaus genau dasselbe erstreben müssen. Bis zu diesem gesegneten Zeitpunkte mag der„wilde" Abgeordnete Titius sein trübseliges Statistenthum so gut wie möglich ver- bergen und seinen staunenden Wählern emphatisch von dem vorerzählen können, was er parlamentarisch„geleistet" habe, soll der„fraktionshörige" Abgeordnete Sempronius sich gegen Vorwürfe vertheidigen müssen, die nicht ihn, sondern ledig- lich und allein die ihn dirigirenden Macher und Leiter treffen können. -rvT o'" reichstreuer Held, oderPodeck'sBescheidenheit. �sponden Tageblatt" vom 15. d. brachte folgende Cor- „"Hänichen, 14. August. Morgen findet hier die Stichwahl l,i»-i»über entscheiden soll, ob unser Wahlkreis der Sache des Reiches erhalten bleiben oder wiederum der Sozialdemokratie ausgeliefert werden soll. Die letztere macht diesmal verzweifelte Anstrengungen, um ihrem Candidaten, Kays er, gegenüber dem seitherigen nationalliberalen Vertreter, Penzig, den Sieg zu erringen. Gestern hielten die Sozialisten hier eine stark besuchte Versammlung ab, in welcher der zu diesem Zwecke hier einge- troffene Hauptführer Liebknecht als Referent auftrat. Die Sozialisten füllten zu Hunderten den Saal; aber auch die Reichs- treuen waren, etwa 70 Mann hoch, in der Versammlung er- schienen. Schon durch diese Thatsache fühlte sich Liebknecht ficht- lich gehemmt, und er gab sich in seiner verhältnißmäßig zahmen Rede alle mögliche Mühe, die Sozialdemokratie von dem Ver- dacht einer moralischen Mitschuld an den Attentaten, sowie revo- lutionären Bestrebungen überhaupt reinzuwaschen. Er wetterte natürlich gegen Ausnahmegesetze, gegen drohende Reaktion k., stellte sich aber im Uebrigen auf den Boden der Reform und— man höre und staune!— der Vaterlandsliebe. Nachdem er ge- schlössen, ergriff der anwesende Sekretär des Reichsvereins, nöthigen Papiere ausgefertigt und von den Behörden in Berlin beglaubigt find.*) — Die Schützen an der Arbeit. In Blumenthal (bei Hannover ) wurde ein Sozialdemokrat, weil er bei einem auf den Kaiser ausgebrachten Hoch nicht mit einstimmte, feierlichst aus der Schützengesellschaft ausgeschlossen. Mit Ge- nugthuung melden patriotische Blätter diese Heldenthat— wir aber lassen den Blättern das Vergnügen. — Von welchem Einfluß die Stimmen der sozialistischen Wähler find, hat in dem verflossenen Wahlkampf so mancher Abgeordnete erfahren. Wir erinnern nur an die Abgg. Lasker und Richter. Ebenso wird aus dem Niederbarnimer Kreise ge- meldet, daß Dr. Mendel(Fortschr.) von Pankow (bei Berlin ) nur den Sozialdemokraten sein Mandat zu verdanken habe. Dagegen ist der Abg. Hausmann(Fortschr.) in dem westhavel- ländischen Kreise Brandenburg- Rathenow gegen den Conserva- tiven v. Bredow unterlegen. Die Sozialisten beschlossen für Hausmann zu stimmen und Genosse Rackow wollte in einer Versammlung der Fortschrittler in diesem Sinne das Wort er- greifen, durfte jedoch nicht sprechen. In Folge dieses elenden Fortschrittsstreichs beschlossen die Sozialisten Wahlenthaltung und so ist denn der Fortschrittler durchgefallen. Jedenfalls eine derbe Zurechtweisung fortschrittlichen Uebermuthes. — Aus Harburg berichten verschiedene Blätter über einen dortselbst anläßlich der Stichwahl zwischen dem Welsen Grafen Groote und Oberbürgermeister Grumbrecht stattgehabten Volks- auflanf. Es sollen mehrere Personen todt und verwundet wor- den sein. Wir erwarten von unseren dortigen Parteigenossen näheren Bericht. — Wir erhalten folgende Zuschrift: „London , den 12. August 1878. An den Redakteur des„Vorwärts"! In verschiedenen Nummern des„Vorwärts" haben Sie durch unbegründete Beschuldigungen und allzu kühne Entstellungen meinen Namen zu schänden gesucht und mich, in voller Ueber- einstimmung mit dem Treiben gewisser sozialistischer Maulhelden, für Artikel des„Londoner Journals" verantwortlich gemacht, die ich nie geschrieben, sondern auf das Entschiedenste verurtheilt habe. Ich erkläre hiermit, daß die im„Londoner Journal" ver- öffentlichten und gegen die Sozialdemokratie gerichteten Artikel den Redakteur des Blattes, Dr. Günther, zum Verfasser haben; daß seine gänzlich unbegründeten Angaben über die Organisation, Thätigkeit und die Zukunftspläne des Londoner sozialdemokra- tischen Arbeiterbundes demselben einen unbegründeten Nimbus verliehen haben; endlich, daß ich für genanntes Blatt seit seinem Bestehen nur einen Brief geschrieben habe, in welchem ich den Redakteur, Dr. Günther, aufforderte, die Deutschen Londons für die hundertjährige Jahnfeier zu begeistern. Der mit nicht geringerer Frechheit gegen mich geschleuderten Beschuldigung,„Deutschland als Polizeispion durchreist zu haben", werde ich gebührend begegnen. Nach langem und opferfreudigem Ringen, als Mitgründer und 14 Jahre als Redakteur des Lon- doner„Hermann", im Interesse der deutschen Arbeit in der Fremde, werde ich mich nicht scheuen, den Lehren der unter falschem Banner wühlenden Pseudo-Sozialdemokraten offen ent- gegenzutreten. Ernst Juch . — Der Friedenskongreß der vereinigten französischen, englischen und italienischen Friedensgesellschaften zu Paris findet nicht am IS. und 20., sondern am 26. September d. I. daselbst statt. — Wjera Sassulitsch(ausgesprochen Sassulitsch — mit dem Ton auf dem u) ist, wie wir auf's Positivste versichern können, in Sicherheit. Sie kam, nachdem sie sich zwei Monate lang in Petersburg verborgen gehalten, am Tage des Lehmann- Attentats nach Berlin , hielt sich dort unter den Augen des stumpfgewordenen Stieber einige Wochen lang auf, begab sich dann nach Genf , wo sie durch eine Taktlosigkeit Rochefort's, des Ex-Laternenmanns, beinahe der Polizei in die Hände geliefert worden wäre, und befindet sich da, wo kesn Stieber oder Trepoff *) Da warten wir aber noch ein wenig. Uebrigens wär's uns recht, wenn diese 28illensverdreherei einmal ein Ende hätte. Wir re- flektiren nicht so sehr auf diese Erbschaft, wie die Tante es thun würde, denn unsere Macht liegt nicht im Gelde, sondern in der Gerechtigkeit und Wahrheit unserer Sache. Red. d.„25. d. 28." Dr. Bodek, das Wort, um in einstündiger Rede die Schein- gründe und Sophistereien des Vorredners Punkt für Punkt zu widerlegen. Unbeirrt durch wiederholte stürmische Unterbrechungen, drang er scharf und kräftig auf den sozialistischen Gegner ein, dem er den Vorwurf zuschleuderte, daß er seine seitherigen revo- lutionären und vaterlandslosen Gesinnungen hinter einer er- heuchelten Friedens- und Reformliebe verberge. Herr Liebknecht erwiderte ziemlich gereizt, worauf Dr. Bodek nochmals Gelegenheit nahm, die wahren Ziele der Sozialdemokratie zu beleuchten und das Märchen von den 300 Millionen Mark neuer Steuern, das Herr Liebknecht natürlich wiederholt auftischte, als eine thörichte und böswillige Erfindung zurückzuweisen. Auch die seltsame Taktik der Sozialisten, die sich trotz ihrer angeblichen Freisinnigkeit nicht scheuen, den Römlingen und Muckern bei den Stichwahlen beizuspringen, wurde einer genauen Besichtigung unterzogen. Nach einem Schlußworte des sozialistischen Refe- renten wurde die Versammlung, die einen sehr ehrenvollen Ver- lauf für die Reichstreuen nahm, nach halb 12 Uhr Nachts ge- schloffen." Natürlich hat Herr Podeck(der sich, um gewissen Ideen- assoziationen vorzubeugen, hartnäckig Bodek nennt) diese Cor- respondenz selbst geschrieben; natürlich hat er in besagter Volksversammlung Liebknecht so vermöbelt, daß er(nicht Lieb- knecht) es zuletzt gar nicht mehr für nöthig hielt zu antworten; natürlich hat er seine Sache so gut geführt, daß die Reichstreuen selbst genug daran hatten, und daß Podeck's Schützling den folgenden Tag mit riesigem Erfolg— durchfiel. Freund Podeck hatte in der(natürlich für uns) unglücklichen Hainichener Versammlung beiläufig den sehr anerkennenswerthen Muth zu gestehen, daß die deutsche Armee zur Niederschießung der deutschen Sozialdemokraten und Arbeiter da sei— ein Ge- stäudniß, das von dem in die Pfanne gehauenen Liebknecht natür- lich sofort festgenagelt ward und Herrn Podeck, der nun schon von zwei Redaktionen wegen allzugroßer Befähigung entfernt werden mußte und jetzt als Sekretär des sächsischen Reichsvereins einen Unterschlupf gefunden hat, sicherlich keine Gehaltszulage einbringen wird. ihr etwas anhaben kann. Die neuliche Notiz der„Frankfurter Zeitung ", dahin lautend, Fräulein Sassulitsch sei gar nicht aus Rußland entkommen, sondern in der russischen Festung Schlüssel- bürg eingesperrt, ging von Freunden der bedrohten Märtyrerin aus und sollte die Rettung derselben erleichtern, ein Zweck, der auch glücklich erreicht ward. — Der russische Polizeiminister Mesenzow, der am 16. d. erdolcht wurde, war der Nachfolger des berüchttgten Po- tozoff, der im Winter 1876/77 irrsinnig wurde.(Trepoff, als dessen Nachfolger wir ihn in letzter Nummer bezeichneten, war blos Polizeipräsident von Petersburg .) Alle Schurkereien, welche die berüchtigte„dritte Abtheilung" seit 2 Jahren verübt, sind auf Mesenzow zurückzuführen, der ebenso brutal und grau- sam wie servil, habsüchtig und liederlich war. Wie begreiflich, hat der Tod dieses Scheusals den russischen Reaktionären einen heillosen Schrecken eingejagt; sie faseln von einem„Ausnahme- aesetz" und„strafferen Zügeln". Die Dummköpfe, die nicht ein- sehen, daß sie dadurch das Uebel nur vermehren und die Ge- fahr nur erhöhen.— Wenige Tage vorher hatte sich in Odessa ein anderes Stück„russischer Wirthschaft" abgespielt. Man-schreibt darüber aus Odessa vom 11. August:„Das öffent- liche Interesse unserer Stadt wird noch immer von dem sensatio- nellen Prozesse in Anspruch genommen, welcher sich in der ab- gelaufenen Woche vor dem Kriegsgerichte des Odesiaer Kreises abspielte. Wie das in Odessa bekanntlich nicht zu den Selten- heiten gehört, war man auch im verflossenen Jahre einer „communistischen und antidynastischen" Äerschwörung auf die Spur gekommen, deren Anhänger durch aufrührerische Plakate, Proklamationen zum Sturze der gegenwärttgen Staatsverfassung u. dergl. mehr manches bedenkliche Lebenszeichen von sich ge- geben hatten. Die Beweise für die Existenz der Verschwörung waren in den Händen der Polizei, sehr geraumer Zeit aber be- durfte es, ehe man der Verschworenen selbst habhaft werden konnte. Endlich erfuhr der Polizeichef von Odessa , daß diese Letzteren in einem gewissen Hause auf dem Stadowaja allnächi- lich zusammenzukommen undhier ihre Berathungen zu haltenpflegen. Sofort ließ er das Haus von einer starken Polizeimacht umstellen. Die Verschworenen ergaben sich aber nicht gutwillig. Wohl wissend, was ihrer harre, setzten sie sich mit den Waffen in der Hand zur Wehre. Es mußte reguläres Militär requirirt, das Versammlungslokal förmlich gestürmt werden; eine kleine Schlacht entspann sich, in welcher es aus beiden Seiten mehrere Schwer- verwundete gab, und nur mit der größten Mühe gelang schließlich die Verhaftung. Wochenlang sprach man in Odessa von nichts Anderem als von dem Ereignisse. Die gerichtliche Untersuchung dauerte viele Monate. Erst vorige Woche begann die Schluß- Verhandlung vor dem Kriegsgerichte, und man kann sich leicht denken, daß damit auch das Interesse für die schon halb ver- gesscne Angelegenheit im Publikum wieder hell aufloderte. Die Sitzungen dauerten drei Tage lang; ungefähr ein halbes Hundert von Zeugen wurde vernommen. Nur durch die Vermiltelung dieser Zeugen erfuhr das Publikum, welches in den nicht abge- sperrten Straßen zu vielen Tausenden unverdrossen des Aus- ganges harrte, einige spärliche Daten über den Fortgang des Prozesses. Sonst drang nicht das Geringste in die Oeffentlich- keit. Aber die Menge harrte und harrte in unerschütterlicher Geduld. Endlich am Montag Abend— es mochte ungefähr 9 Uhr sein und die Dunkelheit war schon tief hereingebrochen— wurden die abgesperrten Straßen geöffnet, das Publikum bis in die unmittelbare Nähe des Gerichtsgebäudes vorgelassen und das im Saale eben gefällte Urtheil verkündet. Es lautet für den Hauptangeklagten Kowalsky auf die Strafe des Todes durch Erschießen; für den zunächst am schwersten gravirten Switytsch auf Festungsarbeit in der Dauer von acht Jahren; für Klenow, Studsinsky und Witaschewsky auf vierjährige Zwangsarbeit; für Aphanaßjew und Witten auf Verlust aller Standesrechte und Deportation nach Sibirien ; für den in die eigentliche Verschwörung nicht verwickelten Mershanow endlich auf Arrest im Gefängnisse auf die Dauer von drei Wochen. Welche Wirkung die Verkündigung dieses Urtheils unter der versammelten Menge hervorrief, läßt sich schwer beschreiben. Zuerst ging es wie ein dumpfes Grollen durch die nach Taufen- den zählende Menge. Nach und nach wurden einzelne Rufe be- stimmter hörbar— Rufe, welche alle die Strenge des Urtheils kritisirten und just nicht die schmeichelhaftesten Bemerkungen für die Richter, sowie für die Staatsgewalt als solche zum Aus- drucke brachten. In einer Viertelstunde wogte und brauste es in den umliegenden Straßen, als sollte das Kreisgerichtsgebäude durch Geschrei zu Falle gebracht werden!, wie weiland die Mauern von Jericho . Diejenigen unter den Zuschauern, welche bloße Neugierde Hergetrieben hatte— und diese repräsentirten immerhin die große Majorität— schlichen sich nunmehr nach allen Richtungen davon, denn sie konnten sich's an den Fingern abzählen, was jetzt kommen werde; immer blieben noch Haufen von genügender Stärke angesammelt, um der Scene ein bedenk- liches Colorit zu geben. Da rückte reguläres Militär auf den Platz. Eine Compagnie, ein Bataillon, zwei Bataillone. Die Aufforderungen der Pristows, man möge sich zerstreuen, blieben unbeachtet. Das Militär nahm jetzt eine Schwenkung vor, um die Menge abzudrängen. Aber während es hier den Raum säuberte, füllte er sich auf der anderen Seite wieder. Nun fielen auch Schüsse aus dem Publikum. Im Ganzen mögen wohl gegen fünfzig abgegeben worden sein. Vier Soldaten stürzten schwer verwundet, mehrere andere trugen leichtere Verletzungen davon. Das Militär erhielt nun Befehl mit dem Bajonnet auf die Menge loszugehen. Auf diese Weise gelang es nach einigen Anstrengungen zwar wirklich, die Umgebungen des Gerichtsge- bäudes zu säubern und die Ruhe, äußerlich wenigstens, wieder herzustellen, allein es gelang nur um den Preis neuer Verwun- düngen. Zwei Personen aus dem Volke blieben todt auf dem Platze liegen, Verwundungen von Privatpersonen dürfte es an die 30 abgegeben haben. Auch Verhaftungen wurden natürlich vorgenommen, und so hat denn der eine Prozeß gleich die Grundlage für den nächsten geliefert." Und da gibt es in Deutschland Personen— die sich oben- drein Patrioten nennen— welche durch unterrussyche Gesetze uns unterrussische Zustände bereiten wollen! — Unser Redakteur, Julius Künzel, wurde heute in erster Instanz wegen dreier Anklagen zu neun Monaten Gefäng- niß verurtheilt. Die Appellation wird angemeldet. — Mit Bezug auf die in letzter Nummer abgedruckte Er- klärung Bracke's in Sachen der Braunschweiger Candidatur Stauffenberg's haben wir zu bemerken, daß Bracke, als er die- selbe schrieb, nicht wußte, daß Herr v. Stauffenberg in einer seiner Wahlreden die Sozialdemokratie für die Lehmann-Nobi- ling- Attentate verantwortlich gemacht und auf's Schmachvollste insultirt hat.
Ausgabe
3 (23.8.1878) 99
Einzelbild herunterladen
verfügbare Breiten