Nr. 48 BEILAGE13. Mai 1934Geschichte ohne MythosDas heroische Lebensgefühl und der deutsche MenschWer heute bezweifeln wollte, daß der»heldische" und der„deutsche" Mensch identische Begriffe sind, darf fest mit dem Konzentrationslager rechnen, Staatspolitik undGeschichtswissenschaft, Jugendbildung undErwachsenendrill empfangen im Dritten Reichvom Zentraldogma der heroischen Deutschheither ihr eigentliches Licht. Der Historiker, derGeisteswissenschaftler, der Dichter, sie allesind bei Gefahr der Aechtung verpflichtet,Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft imScheine des Erhaben-Gewaltigen darzustellen,aber eine vorurteilslose Wanderung durch dieGeschichte des deutschen Geistes zeigt, daßtue ganze Zeit über, von recht wenigen Ausnahmen abgesehen, nicht der aktive, sondernfer passive Mensch im Mittelpunkte des deutschen Denkens und Wollens gestanden ist.Man berufe sich zum Gegenbeweise nichtauf Tacitus und die Helden der Völker-wanderungszeit— Mäimer ähnlichenFormates hat es bei allen Stämmen gegeben,die erobernd in fremdes Land vorbrachen, beiden Tataren, Hunnen, Magyaren, auch bei denvon jedem rechten Deutschen bestverachtetenJuden. Und im übrigen beruht die Beschlagnahme eines Wate, Hagen, Volker, Siegfried,Dietrich usw. für die Deutschen auf einerwissenschaftlich unzulässigen Gleichsetzungdieses Volkes mit den Germanen oder gar mitden.nordischen" Recken: deutsche Artund deutsches Lebensgefühl in ihrer Besonderheit begannen sich- vielmehr erst im spät-fränkischen Reiche unter den Karolingern, sofecht erst nach dem Teilungsvertrag von Ver-dun(843) auszubilden, und da war schon längst�um germanischen Wesen als nicht wegzudenkendes Ferment das Christentum hinzugetreten. Mag dieses nun jüdisch-hellenistischen oder nach Wunsch der neuesten Ge-schichtsklitterer blond-arischen Ursprungs sein,Jedenfalls machte es im höhen Mittelalter derGttonen, Salier und Staufer(um930 bis 1250) die fügsame Einordnung in Gottes Reich zur wichtigsten deutschen Tugend:vom„H e 1 i a n d", der den wilden Sachsendas neue Ideal noch in homöopathischen Dosenverabreichte, über die Lesedramen der NonneHroswitha und die Weltuntergangsdichtung Heinrichs von Melk zu WolframsP a r z i v a 1 und Walthers Kreuzliedtönt uns ein immer demütigeres, den germanischen Seelengrund immer tiefer umpflügendesChristentum entgegen; und als im späten Mittelalter das Bürgertum die geistige Führungübernahm, fand es wieder seinen eigentümlichsten Ausdruck in der himraelanweisendenGotik, in den gewaltigen Bußpredigten Ber-tholds von Regensburg und in der mystischhingebenden, allfrommen Gottsuche MeisterEckards(um 1300) und Johannes Taulers(um 1350). Nicht genug daran, verehrtendieselben Vorkämpfer des Investiturstreites,die den weltlichen Staat aus den Banden derKirche befreien wollten, unvermindert denPapst und die Geistlichkeit als Führer desseelischen Lebens, schuf sich die neue Feudalkaste der Ritter in den drei Pflichten desGottes-, Herren- und Frauendienstes die höheregeistige Legitimation— so eindeutig wies trotzNibelungenlied und Dietrichsepen das bewußteLebensgefühl der Deutschen die ungebundeneAktivität als minderwertig von sich, so entsagungsvoll bekannte es sich zu Bindungen,zur Einfügung, zum Siege über sich selbstund die eigenen herrischen Triebe. Gewiß, mantournierte, raufte, würfelte, höhnte, zechte undschlemmte trotzdem nach Noten; aber einIdealbild des„Herrenmenschen" braute manaus diesen von Tat und Gewalt nur so funkelnden Ingredienzien nicht zusammen, sondern wenn man, sie geistig-formend, künstlerisch bewältigte, so der Jugend zur Warnungund zum Schrecken— der unvergängliche„Meier H e 1 m b r e c h t" bezeugt das ambesten.Als der müde gewordenen Papstkirche im15. Jahrhundert die Führung der Geister zuentgleiten begann und in den Städten der Pendel des Lebensgefühls nach der Seite derAktivität und des Daseinsgenusses ausschlagenzu wollen schien, nahm sich ein neuer Lehrmeister der Deutschen an: das griechisch-römische Altertum im Gestalt des Humanismus. Dieser ließ auf dem Wege aus seineritalienischen Heimat über die Alpen merkwürdiger Weise gerade das hinter sich, wasdas Dritte Reich in Erbpacht genommen zuhaben erklärt: die weltgebietende Herrengebärde des Renaissancemenschen um sie nurbei ganz wenigen wie Ulrich von Hutten inschwachem Abglanz sichtbar werden zu lassen. Und dafür sah der deutsche Humanismusseine wahre Größe in etwas, was heutzutagegeächtet und bespien wird: im Streben nachobjektiver Erkenntnis, in der Forschung umihrer selbst und nicht um eines vorgesetztenZieles willen. Den Helden der WissenschaftErasmus, Paracelsus und Keplersteht als„heldischer" Mann moderner Lesartnur Luther gegenüber, aber allzu genaueBetrachtung verträgt sein Führer- und Heroen-tum nicht. Denn sein„Hier stehe ich, ich kannnicht anders" ist schön erfundene Legende,historisch erwiesen aber ist seine ewige Teufelsfurcht, sein Verrat an den aufständischenBauern den Herrschenden zuliebe und seinePreisgabe der autonomen Gemeinde- zugunstender höfischen Staatskirche.Der Schöpfer einer Bewegung, die ein sogottverlassenes Muckertum gebar wie dielutherische, kann nie ein freier,„reckenhafter"Geist gewesen sein, und ebensowenig Heldentum(und gar deutsches) atmet trotz seinesentsetzlichen Waffengeklirrs das siebenteJahrhundert, die Epoche des D re i ß i g i ä h-rigen Krieges. Was sich da auf den deutschen Thronen und Thrönchen breitmacfito undals„Herr von Gottes Gnaden" aufspielte, warschlechteste Kopie nach üblen spanischen undfranzösischen Mustern. Die durchschnittlichenLandskechtsobristen waren wilde Raufbolde,Gesinnungslumpen oder bedenkenlose Geschäftemacher, welche Sinnesarten sich nochbei den großen Feldherren der Zeit, denGustav Adolf, Wallenstein, Christian, Mansfeldund Tilly, in Spuren nachweisen lassen. Dasdeutsche Wesen in die Zukunft hinübergerettetaber haben die Stillen, Demütigen im Lande:der, fromme Liederdichter Gerhart, derHelfer der Kranken und Verfehmten Spee,die Seher ahnungstiefer Gesichte Böhme undAngelus Silesius und der Lobpreiser desEinsiedlerlebens Grimmelshausen.Man braucht nur näher hinzuhorchen, dannkann man bereits im Wirken dieser Männer,die alle die grob gesetzte Tat, die Gewalt undden äußeren Zwang aufs tiefste verabscheuten,den Strom des großen deutschen Idealismus, der Humanität und des kategorischenImperativs rauschen hören; da führt ein schöner Gedankenweg von Böhmes„Aurora" zuLeibnizens„prästabilisierter Harmonie",die alles, Welt- und Einzelgeschick, nach eingeborenen und nicht etwa nach von außen herzudiktierten Gesetzen abrollen läßt; da leitetGerharts Innigkeit und Seelenfeinheit jeneWunder der deutschen Lyrik und Musik ein,in denen die einander ablösenden bürgerlichenGenerationen des achtzehnten Jahrhundertsihr eigentlichstes Wesen immer besser ausdrücken und erkennen lernten: da arbeitet dermutige Verteidiger der Hexen, Friedrich vonSpee, dem unerbittlichen Wahrheits- und Gerechtigkeitsdrang eines Lessing, Kant undSchiller vor, und mit Grimmelshausen„Simplizissimus" setzt jene Kritik der Wirklichkeit und des sozialen Widersinns ein, dieHerder nach dem Sinne der Geschichte forschen. die Lessing und den Sturm und Dranggegen allerlei gottgesetzte Ordnungen rebellieren hieß. Der heldenhafte Tatwille dieser