Neuer Vorwärts

Sozialdemokratisches Wochenblatt

Verlag: Karlsbad , Haus, Graphia" Preise und Bezugsbedingungen siehe Beiblatt letzte Seite

Nr. 65 SONNTAG, 9. Sept. 1934

Aus dem Inhalt:

Rote Sturmvögel am braunen Horizont

Der ermordete Hitlerjunge im Sack

Des Schächters letzter Bluff Ludendorff soll emigrieren

Parteitag ohne Partei

Die braune Heerschau in Dürnberg

daß der Bramarbas von seinem vorgebauten

Im Lande der unbegrenzten Unmöglich-| Das waren Versammlungen von Freien und und Masaryk , sondern an Berlin und Hit-| diesen Koloß auf tönernen Füßen gesteckt keiten ereignet sich jetzt der Fall, daß eine Gleichen, als deren höchstes Gesetz die ler, weil in Deutschland auch die Philo- hatte. Das Mittelalter repräsentierte sich Partei, die nicht mehr existiert, ihren Meinungsfreiheit galt. Keinen Vorwurf sophie unter der treusorgenden Obhut der in den Reichskleinodien, Reichsapfel, Parteitag abhält. Die NSDAP ist am 30. empfand der Parteivorstand schwerer als Geheimen Staatspolizei steht. Man sprach Reichszepter, Schwert und Krönungsstuhl, die man aus der Nürnberger Rumpelkam­Juni samt ihrem eigenen Führer durch den, daß er das Paladium der Partei, die in Prag über die Krise der Demokratie Kopfschuß erledigt worden. Als das Ge- Meinungsfreiheit, anzutasten versuche, ein schon etwas verstaubtes Thema. Wäre mer geholt hatte. Es waren allerdings nur spenst einer Partei wandelt sie jetzt durch Selbstkritik galt als Lebenselement. Wohl es nicht zeitgemäßer gewesen, von der Kopien, denn die echten Reichskleinodien die Straßen Nürnbergs . besaß ein Mann wie August Bebel unge- Krise der Diktatur zu sprechen, die mit hatte das Gangsterregime schon längst Freilich je toter die Partei ist, desto heures Ansehen und sich auf einem Par- jedem Tage fühlbarer wird? Sie ist da. durchgebracht. lebendiger sind die höheren Pg. Sie kom- teitag gegen ihn zu stellen, war nicht Vergebens hat man in Nürnberg sie mit Aber der Krönungsstuhl war echt und mulieren Aemter und Gehälter und ihre leicht. Dennoch, was hat sich auch ein Trommeln wegzutrommeln, mit Trompeten es fehlte nur, Freßwerkzeuge sind über alle Maßen ge- Bebel auf Parteitagen alles sagen lassen wegzublasen und mit Fahnen wegzuscheu- Braunau sich von sund. Ihre Begeisterung für das Dritte müssen. Es konnte nicht ausbleiben, daß chen versucht. Führeransprachen über alle Lehnsessel erhoben und die Stufen Reich ist echt. Ihr Wunsch, daß das tau- er seinen parteigenössischen Gegnern mit Sender Deutschlands , Beifallstoben und Krönungsstuhl des alten römischen Rei­send Jahre lang so bleiben möge, ist un- gleicher Münze diente, und zwar gründ- Marschgedröhn genügen nicht, die großen ches deutscher Nation emporgeschritten geheuchelt. Sie lieben ihren Führer auf- lich. Aber hätte jemand den Versuch un- außenpolitischen und wirtschaftspolitischen wäre, um sich dort häuslich niederzulassen. richtig, denn sie sind Gesellschafter der Probleme zu meistern, die sich mit jedem Vielleicht bleibt dem deutschen Volk auch diese mittelalterliche Blamage nicht er­großen Hitler- Verwertungs- Ges. m. b. H., Tage dringender anmelden. Von der ehemaligen NSDAP ist nur spart. die aus der Popularität des politischen Wundertäters das größte Geschäft noch die äußere Form, die entseelte Hülle Und angesichts dieses ganzen Mumen­Zeiten gemacht hat. Das Geschäft lebt. übrig. Mit der alten, totgesagten sozial- schanzes von anno dazumal hielt der Bra­Die Pg., bis auf einige Ausnahmen, leben demokratischen Partei ist es aber gerade marbas eine Rede, in der prophetisch ver­auch und gar nicht schlecht. Nur die Par­umgekehrt: Ihre äußere Form ist zer- kündete, daß in einem Zeitraum von Deutschland tei freilich, die ist tot. schlagen, aber der Geist ist lebendig ge- 1000 Jahren in

aller

ternommen, diese Gegner mundtot zu ma­chen, Bebel selbst hätte sich sofort im Kampfe um das Recht der freien Rede an

ihre Seite gestellt.

Merkwürdig,

daß

zum

manche Diktatur­schwärmer uns den Vorwurf machen, bei uns hätte nicht genug Meinungsfreiheit geherrscht. Aber wie dem immer sei und ob es auch nicht alle Zeit auf unseren blieben. In der kleinsten geheimen Truppe, keine Revolution mehr statt­Die NSDAP ist entstanden wie jede andere Partei auf dem Boden der Demo- Parteitagen lieblich zugegangen sein mag in der die Probleme der Demokratie und finden würde. Aber die Geschichte hat kratie, von unten herauf wachsend. Sie welche Turnierplätze geistigen Ringens des Sozialismus mit leidenschaftlichem sich noch nie um das Diktat eines Schwä­hatte zwar kein eigentliches geistiges Le­sind sie doch gewesen, welche Schulen des Eifer diskutiert werden, ist mehr geisti- tzers gekümmert und kommen wird der ges Leben als in dem konkurrenzlos da- Tag, an dem alle aufstehen werden, die politischen Denkens! stehenden Riesenmassenlärmbetrieb von Geschändeten, die Gefesselten und Gemar­beleidigen aber doch eine gewisse in­Merkwürdige Welt der der Gegensätze! Nürnberg . In jedem Angeklagten, der mit terten, alle, die heute noch hinter Kerker­nere Beweglichkeit. Sie hatte einen Führer­kreis, der die maßgebenden Beschlüsse Während in Nürnberg Hitler sprach, tagte einem Bekenntnis zu Freiheit und Sozia- mauern schweigen oder mit geballten Fäu­faßte und es war keineswegs immer Hit- in Prag unter dem Protektorate Masa- lismus die Schwelle des Zuchthauses über- sten diesem grotesken Theater zusehen ler, der dort entschied. Kurz die NSDAP ryks ein internationaler Philosophenkon- schreitet, lebt mehr sittliche Kraft, als in müssen. Und hinter diesen Männern wird greß. Dort durfte wirklich ein jeder sa- dem ganzen aufgeblähten Machtapparat dann eine lebendige revolutionäre Partei stehen, jene Partei des Sozialismus, die Seit aber die Partei den Staat eroberte, gen, was er meinte, ausgenommen natür- der Despotie. Paradox wie diese ganze Nürnberger unsterblich ist, weil der Geist unsterblich ist sie immer mehr in die Rolle des Sol- lich die deutschen Professoren. Aber daß sie das nicht durften, lag nicht an Prag Maskerade war der Rahmen, in den man ist.

ben

-

war eine Partei.

daten geraten, der seinen Gefangenen nicht mitbringen kann, weil er ihn nicht losläßt. Nicht die Partei absorbiert den Staat, son­dern der Staat absorbiert die Partei. Die­ser totale Staat der Kapitals- und General­herrschaft kann sich das Narrentreiben eines gigantischen Septemberfestes wohl

gefallen lassen, aber er kann eine wirk­liche Partei neben sich nicht bestehen las­sen. Die nationalsozialistische ebensowenig, wie irgendeine andere.

So wurde der 30. Juni, an dem die Par­teiarmee der NSDAP , die SA , in aller

Form enthauptet und

niedergetreten

Vorboten des Notwinters

Tausend singen die Internationale Handgemenge in einem Vorort Berlins Ein Frauenkampf am Schlesischen Bahnhof

wurde, zum Höhepunkt einer Entwicklung, die schon nach dem Tage der Machtergrei- rigkeiten führen zu einer wachsenden Un- Drängen die Holzarbeiter keine befriedigenden losen bestiegen den bereitstehenden Zug, aber

Die steigenden wirtschaftlichen Schwie-| braunen Gewerkschaftbonzen. Als trotz allem mit ihren Frauen und Kindern. Die Arbeits­

fung durch Hitler begann.

ruhe unter der Arbeiterschaft. Die Unzufrie­denheit der Arbeiter kommt vor allem in den der sogenannten Arbeits­Es kann in Hitler- Deutschland keine Versammlungen Partei geben, auch keine nationalsozialisti- front zum Ausdruck, zu denen die Arbeiter sche. Es kann Aemterverteilungsstellen,| kommandiert werden, aber in denen niemals Korruptionsverteilungsstellen geben, ein vernünftiges Wort über die Lohn- und Ar­kann Prätorianergarden geben und Mord­staffeln zur besonderen Verwendung des chen wird. Führers, aber eine Partei kann es nicht|

es

beitsverhältnisse der Arbeiterschaft gespro­

Ver­

Auskünfte erhalten konnten,

verließen sie geschlossen und unter Absingen der Internationale den Saal.

die Frauen stellten sich auf die Schie­nen und verhinderten so die Abfahrt des Zuges.

Diese spontane Kundgebung setzte sich noch Als der Fahrdienstleiter mit den Frauen ver­

auf der Straße fort, und sie bildete selbstver- handeln wollte: ,, Aber meine Damen, ich er­

ständlich in den nächsten Tagen das Ge- fülle doch nur meine Pflicht, lassen Sie mich sprächsthema an allen Arbeitsplätzen der doch den Zug abfertigen" kam es zu erreg­Holzarbeiter Hannovers. ten Erwiderungen: Wir sind keine Damen,

kam es zu einem Handgemenge,

Der Fahrdienstleiter alarmierte die Poli­ver­

zei, die ebenfalls zunächst im Guten

suchte, die Frauen zur Freigabe der Schienen zu bewegen. Das gelang schließlich auch. Aber auch dann konnte die Abfahrt des Zuges nicht erfolgen,

Kürzlich mußten die Holzarbeiter von Zu einem ähnlichen Zwischenfall kam es wir sind Arbeiterfrauen." ,, Arbeit habt Ihr geben. Eine Partei kann nur funktionie- Hannover zu einer derartigen ,, Gewerkschafts­in einer Bauarbeiterversammlung in einem uns nicht gegeben und jetzt nehmt Ihr uns ren im Kampfe mit anderen Parteien, sie versammlung" antreten. Es erschienen etwa Vorort in Berlin . Auch dort forderten die auch noch unsere Männer." ,, Ist das Euer Na­kann nur funktionieren in Freiheit. So 1000 Holzarbeiter, die bei Beginn der Versammelten die Besprechung ihrer gewerk- tionalsozialismus?" gering auch der Anspruch der NSDAP sammlung die Besprechung ihrer Lohn- und schaftlichen Fragen. Als der Naziredner dieser auf die belebende Wärme der geistigen Arbeitsverhältnisse verlangten. Der Versamm Diskussion auszuweichen versuchte, und wie­Freiheit war, auch sie mußte sterben in lungsleiter stellte sich auf den Standpunkt, derholt unbefriedigende Auskünfte gab, der Todeskälte der Despotie. d daß in der Arbeitsfront das Führerprinzip Wer eröffnet den Nürnberger Partei- gelte und daß daher eine Diskussion nicht in tag? Hitler! Wer schließt ihn? Hitler! Wer Frage komme. Gestattet seien lediglich An- bei dem der Nazi- Beauftragte so unglück­redet immerzu und immer wieder? Hitler! fragen am Schluß der Versammlung. Die Ver- lich stürzte, daß er eine Stunde später Hitler , der Mann der Schwerindustrie, Hit- sammelten nahmen diese Erklärung zunächst an den Folgen eines Schädelbruches ler, der Mann der Reichswehr , Hitler, der zur Kenntnis und hörten sich das Wald- und starb. Herr über Leben und Tod kann es eine Wiesen- Referat eines sogenannten, Gewerk- Besonders stark ist die Verbitterung der und bald stand der Zug leer da, während die politische Partei neben ihm geben? Nein. schaftsführers" ruhig an. Im Anschluß daran Arbeiterschaft über die rücksichtslose Ver- Arbeitslosen mit ihren Frauen und Kindern Nur eine organisierte Claque, die Heil stellten dann die Vertreter der einzelnen Be- schickung verheirateter Arbeitsloser in die wieder nach Hause zogen. Hitler ruft und Beifall heult. Das aber ist legschaften Anfragen an die Leitung über die Landhilfe. Vor einigen Wochen kam es

-

aus

weil die Frauen nunmehr ihre Männer aus den Wagen holten

In der deutschen Presse ist selbstverständ­keine Partei. Regelung ihrer Arbeitsbedingungen. Die Aus- diesem Anlaß zu einem ernsten Zwischenfall lich keine Zeile über diese Vorfälle erschienen, Wenn wir Sozialdemokraten von Partei- künfte, die ihnen sie berichtet nur über eitel Glück und Freude. von der Versammlungs- auf dem Schlesischen Bahnhof in Berlin . tagen reden, versteht sich von selbst, daß leitung gegeben, wurden, waren jämmerlich. Arbeitslose, die auf das Land verschickt In Wahrheit aber gährt und brodelt es, der wir dabei an unsere Parteitage denken. Sie bewiesen erneut die totale Unkenntnis der werden sollten, erschienen auf dem Bahnhof kommende Notwinter kündet sich an.