Nr. 65 BEILAGE

Neuer Vorwärts

9. September 1934

Faschismus und Nazismus

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Krisen der Monarchie

Vorbemerkung der Redak- Regierung brauchte schließlich nur die was erhofft hat, während das deutsche tion: Der berühmte Historiker 30.000-40.000 Leute zufrieden zu stellen, vom Nazismus Wunder erwartete. Guglielmo Ferrero äußert sich die ihr geholfen hatten, die Macht zu ge­über die Probleme des italienischen Fa- winnen und die ihr helfen konnten, sie zu schismus und des deutschen ,, Nazis- behalten. Und das war ein leichtes Stück mus" im Genfer ,, Journal des Nations" Arbeit für eine Diktatur über ein Land in einer Weise, die auch unsere Leser mit 40 Millionen Einwohnern. lebhaft interessieren wird. Widerspro­chen werden muß aber seiner Meinung, daß Hindenburg durch die politische Situation im Januar 1933 genötigt war,

Die Lage des Nazismus war aber ge­rade umgekehrt. Ihm war es verhältnis­mäßig leicht, sich des Staates zu bemäch­

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dem Präsidenten

Von Guglielmo Ferrero

Ich glaube, in den Ereignissen, die sich vorbereiten, wird man die Folgen dieser Ein zweiter Unterschied in der Si- Verschiedenheiten beobachten können. Im tuation der beiden Parteien, der von großer Grunde gehen diese Verschiedenheiten auf Wichtigkeit ist, besteht darin, daß Ita- eine sehr wichtige und zumeist übersehene lien noch eine Monarchie, Grundtatsache zurück: nämlich daß alle Deutschland schon eine Repu- diese Bewegungen, die in so vielen Län­blik ist. Dieser Unterschied macht die dern zur Aufrichtung der Diktatur ge­Stellung des Faschismus viel solider als führt haben, keine Krisen der De­die des Nazismus. mokratie sind, wie man so oft Der hauptsächlichste Grund, warum die sagt, sondern Krisen der Mon­

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Hitler zur Macht zu berufen. Das war tigen, denn das ungeheuere Gefolge im faschistische Regierung sich so leicht archie. Alle diese Bewegungen sind umso weniger der Fall, als die Massen- Lande, das er gewonnen hatte, war eine durchsetzen konnte, besteht darin, daß entstanden und haben Erfolg gehabt ent­basis Hitlers schon damals im Schwin- gewaltige Waffe, sie die kräftigste Unterstützung durch die weder in Ländern, wo noch die absolute' die den war. Ein Staatsoberhaupt von nor- Hindenburg zu zwingen, ihm alte monarchische Legalität fand. Sie oder die halbabsolute Monarchie besteht- Macht zu übergeben. Hindenburg war ein maler geistiger und moralischer Be­oder konnte ganz und gar über die Armee ver- Italien , Jugoslawien , Bulgarien schaffenheit hätte niemals den Staat Gegner des Nazismus, aber er wurde nach fügen, über die Gendarmerie, die Gerichte, aber in Ländern, in denen 1914 noch die einer Räuberbande ausgeliefert, wie es langem Widerstand zu Beginn des Jahres die Verwaltung, die Polizei des alten Re- absolute oder die halbabsolute Monarchie Hindenburg unter Bruch seiner Treue­1933 gezwungen, ihn zur Macht zu be­gimes, dessen Fortsetzung mit Vergröbe- bestand Rußland , Deutschland , Oester­rufen, nachdem er alle anderen Kombina­pflicht und seines Eides getan hat. rung aller seiner Fehler sie geworden ist. reich- Ungarn . Und die Diktatur ist viel tionen ausprobiert hatte, weil die Nazis Die alte Legalität hat ihr gedient und sie stärker und hat es viel bequemer in Län­Man hat in Europa oft zwischen Fa- auf der einen Seite, die Kommunisten auf schismus und Nazismus Verglei- der anderen, zusammen die Mehrheit des stisch- revolutionäres Programm geglaubt lien, als in Ländern, in denen die Republik gestützt, weil sie niemals an ihr faschi- dern, die noch Monarchien sind, wie Ita­che angestellt. Gleichen sie einander oder Parlaments bildeten und es einer parla- hat. In Deutschland ist das nicht so. Hier wenigstens schon seit 1918 existiert, wie sind sie voneinander verschieden? Und mentarischen Regierung unmöglich mach- ist das revolutionäre Programm ernster zu in Deutschland . wenn sie sich von einander unterscheiden, ten, nach dem Mehrheitsprinzip zu funk­worin? Die Meinungen sind geteilt. Es tionieren. Seit er aber zur Macht gekom- übrig geblieben ist, nimmt gegenüber dem publiken, wie Frankreich und die Schweiz , nehmen, und was von der alten Legalität Im Gegensatz dazu haben die alten Re­gibt Bewunderer des Nazismus, die den men ist, findet sich der Nazismus den Faschismus verabscheuen, und Bewunde- furchtbarsten Schwierigkeiten gegenüber, Mitarbeit ein. In Italien benützt und ver- wie England, Belgien , Holland , die skan­Nazismus die Haltung einer mißtrauischen die alten parlamentarischen Monarchien, rer des Faschismus, die den Nazismus ver- die der Faschismus niemals gekannt hat: braucht der Faschismus das Ansehen und dinavischen Länder, bisher allen Ver­abscheuen. Es gibt auch Leute, die glei- er hatte eine so ungeheuere Popularität die Gesetzlichkeit cherweise den Nazismus und den Faschis - erworben, indem er Hoffnungen jeder Art Schlüssels der alten Legalität. Er kompro- gemacht wurden, Bewegungen diktatori­der Monarchie, des suchen widerstanden, die in der Absicht mus verabscheuen oder bewundern. erweckt hatte. Und jetzt sollte er seine mittiert sie und zieht sie in seine eigene schen Charakters dort zu imitieren. Die Leidenschaften, die die beiden Par- Versprechen halten. Das heißt, er sollte Illegitimität hinein. In Deutschland be- Faschismus und Nazismus sind Krank­teien in Bewegung setzen, die Ideen, zu Wunder tun. sitzt Hitler eine solche Reserve der Ver- heiten der Monarchie. Sie treten auf, ent­denen sie sich bekennen, die Mittel, die Der Faschismus und der Nazismus sind gangenheit, die er verschleudern könnte, weder während des Todeskampfes oder sie beim Regieren anwenden, sind die glei- heute von einer gewaltigen Krise der Un- nicht mehr. Er versucht, dem Nazismus sogleich nach dem Zusammenbruch einer chen. Es ist eine Mischung von populari- zufriedenheit erfaßt, die durch die Ergeb- die Unterstützung eines Restes der alten alten absoluten oder halbabsoluten Mon­siertem Bismarckismus und modernisiertem nisse ihrer Politik verursacht ist. Aber Legalität zu sichern, indem er sich durch archie. Bonapartismus. Ihr Etatismus, ihr Mili- diese Krise ist über Italien erst nach zwölf einen neuen Staatsstreich der Reichspräsi­tarismus, ihr Nationalismus sind von Bis- Jahren gekommen, über Deutschland schon dentschaft bemächtigt hat. Das ist ein marck für die Bierbank übersetzt. Die nach anderthalb. Dies deshalb, weil das Verfahren, das mit einem viel größeren zwangsmäßige Organisierung der allge- italienische Volk vom Faschismus nie et- Risiko verbunden ist. meinen Wahlen, die ständige Mobilisierung des Volkes und seiner künstlichen Begei­sterung sind Erfindungen der beiden Bona­parte. Bonaparte und Bismarck stehen in diesen beiden Bewegungen wie­der auf, verunstaltet durch eine geradezu ungeheuerliche Vergröberung.

Es gibt aber auch Unterschiede. Der hauptsächlichste ist der, daß der Nazismus in Deutschland eine große Massenbewe­gung geworden ist und daß er zu einer gewissen Zeit 1931 und 1932 die Hälfte Deutschlands hinter sich ge­bracht hat, während der italienische Fa­niemals eine SO gewichtige

schismus

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fast

Massengefolgschaft besessen hat, weder bei den Bauern noch bei den Arbeitern, noch im Mittelstand. Im Jahre 1921, vier­zehn oder fünfzehn Monate vor der Be­rufung des Faschismus zur Macht, ver-| sicherte Giolitto als Innenminister in einer Kammerrede, daß die eingeschriebe­nen Mitglieder der Fasci 160.000 seien. Die Organisation war mächtig, aber außer­halb dieser Organisation hatte der Fa­schismus im Lande keine breite Basis der Sympathien, ausgenommen in den wohl­habenden Klassen, die aber in Italien viel weniger zahlreich sind als in vielen ande­ren Ländern. Diese Situation des Faschis­mus hatte sich im Oktober 1922, als er zur Macht berufen wurde, nicht sehr ge­ändert. Es war eine kleine Minderheit, die stark organisiert war, die aber von der ungeheueren Masse des Volkes mit Feind­seligkeit, Mißtrauen oder Gleichgültigkeit

betrachtet wurde.

Dieser Unterschied ist sehr wichtig.| Er erklärt die Verschiedenheit der Lage| und Entwicklung der beiden Parteien.

Für den Faschismus war es die große

Schwierigkeit, an die Macht zu kommen, denn das hing ausschließlich vom König ab. Es hätte genügt, wenn der König im Oktober 1922 zur Zeit des Marsches auf Rom ein Dekret über den Belagerungs­zustand unterzeichnet hätte, um den Fa­schismus für alle Zeit um Verzicht auf seine Ambitionen zu zwingen. Er besaß ja keine Waffe, um von der Regierung die Machtübergabe ertrotzen zu können. Aber, nachdem er einmal zur Macht ge­langt war, war seine Aufgabe verhältnis­mäßig leicht. Das Land verlangte von ihm nichts, außer daß es nicht erschüttert und

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Nürnberg 1934

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hin hiermit erkläre ich den Parteitag für eröffnet"

Ludwig Frank

und der 4. August

In dem ausgezeichneten Charakterbild, das Karl Max in Nr. 64 des ,, Neuen Vorwärts" von Ludwig Frank entworfen hat, steht der Satz: ,, Da er Deutschland angegriffen wähnte, hieß es für ihn keine Frage, daß die Sozialdemokratie mit der Landesverteidigung ernst machen und die Kriegskredite bewilli­gen müsse..." Es scheint mir, daß diese Bemerkung, wenn sie auch nicht gerade falsch ist, doch einer Ergänzung bedarf.

Ich hatte mit Frank vor der entscheiden­den Fraktionssitzung eine sehr lange Unter­redung, in der wir das Problem nach allen Seiten durchsprachen. Es lag für ihn und uns alle nicht so einfach, daß wir hätten sagen können:, Deutschland ist angegriffen, und darum müssen wir es verteidigen". Wir wuß­ten schon damals, daß die Wiener Politik über alle Maẞen leichtfertig war, und daß die Berliner Regierung in geradezu kopfloser Weise Wien die Führung überlassen hatte. Das hatten wir bis zum Tage des Kriegsaus­bruchs oft genug gesagt und geschrieben und aufs schärfste kritisert. Aber weil wir die Schuld auf der einen Seite sahen, glaubten wir noch lange nicht an die Unschuld der ande­ren. Vor allem die diplomatischen Verhand­lungen waren vorbei, und man stand vor der Tatsache, daß Rußland marschierte!

Was das für das deutsche Volk, ganz be­sonders für die freiheitlich und sozialistisch gesinnten Arbeiter bedeutete, haben die mei­sten schon vergessen. Die Wirkung war unge­fähr dieselbe, wie sie heute in Paris wäre, wenn eines Tages Havas melden würde, daß Hitlers braune Horden in Frankreich einge­brochen seien. Rußland war das Land der Despotie, das Land der Galgen und der Ka­torga. Die Kosaken genossen ungefähr den­selben Ruf wie heute die SS und SA . In der Feindschaft gegen den Zarismus waren sich beide Richtungen der Partei einig, bei den Radikalen war sie vielleicht noch schärfer als bei den Reformisten. Niemand hatte den Haß gegen den Zarismus leidenschaftlicher gepre­digt als Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg . Darum war der Griff nach den Waffen in dem Augenblick, in dem die Kosaken über die Grenze ritten, auch für die sozialistischen Arbeiter, vielleicht gerade für sie, eigentlich nur noch eine Reflexbewegung. Indes war Ludwig Frank nicht der Mann, sich in einer Stunde der Entscheidung von Gefühlen allein bestimmen zu lassen. Neben