Nr, 66 SONNTAG, 16. Sepi. 1934 Verlag; Karlsbad , HausGraphia" Preise und Bezugsbedingungen siehe Beiblatt letzte Seite Aus dem Inhalt: Der geniale Plan Niederlage der faschistischen Philosophie Deutsdiland hungert für Thyssen Grenzen der Gewalt Her- KrteMverllerer ohne Krtes Wer am Tage nach Schluß des Nürn­berger Parteitages die Presserevue des Deutschlandsenders hörte, konnte glau­ben, die ganze Welt habe mit angehalte- nem Atem nach Nürnberg gelauscht. In Wirklichkeit war die Interesselosigkeit, der die Nürnberger Parade überall außerhalb Deutschlands begegnete, geradezu über­raschend. Im allgemeinen hat man sich darauf beschränkt, aus den endlosen Re­den Hitlers einige der dümmsten Sätze �ie z. B. den über das kommende revo­lutionsfreie Jahrtausend abzudrucken und sich über sie lustig zu machen. Das ernste politische Interesse gehörte in diesen Tagen Genf . Als vor bald einem Jahre Deutschland den Völkerbund verließ, konnte sich Hit- kr die Genialität seiner Tat durch eine Volksabstimmung bestätigen lassen. Mög­licherweise hätte sich auch ohne Terror und Zählungsschwindel eine Mehrheit für den Austritt gefunden, denn erfahrungs- Semäß läßt sich das Volk auf keinem Ge­biet leichter zu Torheiten verleiten, als auf dem der Außenpolitik. Heute aber ist klar, daß mit demstarken Schritt" von Genf uichts von dem erreicht worden ist, was nüt ihm erreicht werden sollte, sondern dnr das Gegenteil davon. In der Wilhelmstraße hielt man vor ®inem Jahr den Völkerbund für eine ster­bende Institution. Ihr wollte man mit dem Austritt den Todesstoß versetzen. Fiel der Völkerbund , so war die Bahn frei für eine neue Bündnispolitik alten Stiles; der mili- iürisch Stärkste war dann der gesuchte- Partner und konnte für die Dienste, die er den schwächeren leistete, kassieren. eu Völkerbund zerstören und durch fie- Ucrhaftes Rüsten sobald wie möglich wie- er der Stärkste werden, das war das Ziel. Was ist nun erreicht worden? �er Völkerbund ist seit dem Austritt eutschlands nicht schwächer, sondern .rker geworden. Er hat freilich seitdem ,IIlen Charakter geändert, indem er aus !'®er im Sinne der alten Kriegsgegner- baften überparteilichen Organisation eder zu einer Organisation der Alliierten geworden ist. Die beabsichtigte Wirkung er Rückkehr zum alten Bündnissystem ist Reicht freilich in der Weise, daß sich '�egegenDeutschland verbündet uuben. Der polnische Tagesfreund, der enbei auch der militärische Verbündete rankreichs ist, vorläufig ausgeschlossen! Auf dem Ratsstuhl, den Neurath verlas- r 11 hat, läßt sich Litwinow nieder. Der Ussische Bolschewismus, vor dem Hitler �16 Welt gerettet hat, feiert diplomatische �Umphe. Daß er das tut im krassen Ge- ®usatz zu gewissen Komintern -Theorien er den Völkerbund und zur Blamage sei- er eigenen Freunde in Europa wird ihn enig kränken. Er hat den Kordon der 0ralischen Isolierung durchbrochen und auch ohne Beitritt Deutschlands zum etpakt für den Fall eines japanischen ngriffs seinen Rücken gedeckt Dem Aus- Uch des Dritten Reichs und dem Austritt e��blands aus dem Völkerbund dankt eine gewaltige Besserung seiner euro - ai8chen Situation. Er vor allen hat das '�ht, dankbar zu rufen:Heil Hitler !" Aber nicht nur er die ganze Welt, Ip�it sie in Genf versammelt ist, hat al- Grund, dem Führer und Reichskanzler s.tl Dauktelegramm zu schicken. Er hat g,6 Geeinigt Germanen, Romanen und S(�Ven' Demokraten, Faschisten und Bol- 6wisten, alle umschlingt als einigendes anci der Wille nicht hitlerisch zu werden und dem Dritten Reich keinen außenpoliti­schen Erfolg zu gestatten. Die Ablehnung des Ostpakts durch Ber­ lin kann den Gegnern Deutschlands genau so willkommen sein wie seinerzeit der Austritt aus dem Völkerbund. Der Völker­bund ohne Deutschland ist ein Bund der Sieger über Deutschland . Der Ostpakt ohne Deutschland muß automatisch zum Ostpakt gegen Deutschland werden. Und Polen ? Solange Polen der Bundes­genosse Frankreichs ist und seine Bundes­pflichten achtet, ziehen Verpflichtungen, die Frankreich im Osten übernimmt, auch entsprechende Folgen für Polen nach sich. Es besteht kein Grund zur Annahme, daß sich Polen seinen Pflichten entziehen will, desto klarer ist, daß es für ihre Erfüllung noch einmal bezahlt werden möchte. Es hält an seiner Tagesfreundschaft mit Deutschland fest, um sie so teuer wie mög­lich zu verkaufen. Polen verdankt Hitler viel. Hitler hat Polen für alle absehbare Zeit den unge­störten Besitz der ehemals deutschen Ge­biete, des polnischen Korridors, Posens und Ost-Oberschlesiens gesichert. Nicht genug damit unter Hitlers Herrschaft und mit seiner Mitwirkung ist auch der fünfzehnjährige deutschpolnische Kampf um Danzig zugunsten Polens entschieden worden. An diesen Leistungen gemessen war der Verzicht auf Südtirol , mit dem die Nationalsozialisten die Freundschaft Mus­solinis erkaufen wollten, ein Pappenstiel. Wen kann es wundem, daß Polen die Gunst der Stunde wahrnimmt und die Dummheit und Unfähigkeit der gegenwär­tigen deutschen Regierung bis zum letzten ausnutzt Ist nichts mehr zu holen, heißt es Adieu und auf Germanias Hinter backen wird neben der kräftigen Spur Mussolinis auch Pilsudskis Schuhnummer sichtbar werden. Hitler hat wahrhaftig Großes voll bracht! Er hat Oesterreich italie­nisch gemacht, Danzig pol­nisch am Ende bringt er es auch noch fertig, das lOOprozentig deutsche Saargebiet französisch zu ma­chen. Der Mann braucht gar keinen Krieg mehr zu führen er verliert ihn auch so! Deutschland ist nach anderthalb Jahren seiner Herrschaft außenpolitisch so ge schlagen, als ob es mehrere Schlachten verloren hätte. Ein italienisches Blatt schrieb neulich, vierzehn Tage Diskussions freiheit in Deutschland würden genügen, die Hitlerherrschaft zu stürzen. Wenn es noch immer Millionen Deutsche gibt, die sich willig knechten und ausplündern las­sen, so deshalb, weil diese armen Teufel ehrlich glauben, sie trügen dies für die Ehre und die Größe der Nation. Diesen Glauben können sie nur noch haben, weil sie betrogen und belogen werden schlimmer als während des Krieges! An dem Tage, an dem ihnen die Augen aufgehen, werden sie sich mit geballten Fäusten auf die Betrüger stürzen! Es gibt nur einen währen Erbfeind der Nation: Das ist der Nationalismus! Opfer des Pollzeiferrors Genosse Otto-Dresden in den Tod getrieben Der braune Terror hat in Dresden ein neues Todesopfer gefordert. Der verhaf­tete Genosse Otto hat sich in einer Zelle des Polizeipräsidiums Dresden nach gräß­lichen Mißhandlungen erhängt. Es waren Polizeibeamte, die ihn gefoltert haben! Die Untersuchung gegen Otto lag in den Händen des Kriminalkommissars Weser. Dieser Bursche hat sich aktiv an den Mißhandlungen beteiligt. Bei der Einäscherung der Leiche Ottos waren viele Teilnehmer anwesend vor allem sehr viele Frauen und Mädchen. Auch die Kriminalpolizei war zahlreich vertreten und schnüffelte. Sondergeridit Wie sie die Gefängnisse bevölkern. Das Hakenkreuzbanner Mannheim berich­tet über Verhandlungen des badischen Son­dergerichtes, in denenkleinere" Fälle ab­geurteilt wurden. Es handelt sich um Ein­zelfälle aus den vielen Tausenden, in denen ein paar Worte genügten, um die Maschine des Justizterrors in Gang zu setzen. Ein paar Worte am Wirtshaustisch, bei denen ein Spitzel zuhört, Verhaftung, monatelange Untersuchungshaft, Gefängnisstrafe, und dann? Das Naziblatt berichtet; In der Schloß-Wirtschaft in Edingen saß am 13. Juni d. J. der 27 Jahre alte Franz E. und legte los:Nur noch einige Tage, dann sind wir dran, dann jagen wir die Nazis in den Schnee. Ich kämpfe nur für eine Idee, und das ist der Kommunismus., Ich bin Kommunist und bleibe Kommunist." Und so ähnlich. E. ist wohl nie Mitglied der KPD. gewesen, mag aber mit ihr sympathisiert haben. Er gibt zu, eine Aeußerung gemacht zu haben, kann sich aber an den genauen Wortlaut nicht mehr erinnern. Acht Monate Gefängnis abzüglich drei Wochen Un­tersuchungshaft werden ausgesprochen. Der verheiratete 35 Jahre alte Gustav Z. aus Mauernhelm hatte am 1. Juni d. J. gerade Zahltag und genehmigte sich einige Halbe imAuerhahn" in Singen am Hohentwiel. Er will nach seinen Angaben betrunken gewesen sein, als er anderen Arbeltern gegenüber, die mit der heutigen Zeit zufrieden sind, geäußert haben soll: Ihr seid alle Verkäufer der Ar­beiterklasse. Warte t's mal ab, in einem Vierteljahr sind un­sere Wiesen wieder grü n." Z. meint, er sei innerlich gar nicht so einge­stellt, daß er sowas sagen könnte. Das Urteil lautet auf neun Monate Ge­fängnis, abzüglich sechs Wochen Unter­suchungshaft. Der dritte Fall spielte sich am 28. Mai imSchiff" in Freiburg und ein zweites Mal am 27. Juni imWilden Mann" in Ehrenstetten ab. An beiden Tagen hatte sich der verheiratete, in Freiburg wohn­hafte 47 Jahre alte Anton R. aus Salzstätten in abfälliger Weise über dlo heutige Regierung geäußert, will aber auch so betrunken gewesen sein, daß er nicht mehr weiß, was er geredet hat. R. erlitt im Felde eine schwere Kopf­verletzung durch einen Granatsplitter, will auch 1930 bei einem politischen Zusam­menstoß einen Schädelbruch mit einer schweren Gehirnerschütterung erhalten haben. Bez.-Arzt Dr. Kreß stellte bei dem Angeklagten verminderte Zurech­nungsfähigkeit fest, weshalb auch nur(!) auf zehn Monate Gefäng- n 1 s abzüglich einem Monat Untersuchungs­haft erkannt wurde." Soweit das Nazi-Organ. Der Vorsitzende dieses Terrorgerichts heißt Dr. Seitz, Landgerichtsrat von Hitlers Gnaden. Es ist eine Freude, an deutschen Wirtshaustischen zu sitzen! Sozialismus und Philosophie Von Siegfried Marek(Paris .) Unsere geschichtliche Epoche kennt wahrlich keine philosophische Beschau­lichkeit, kein ruhiges Ernten historischer Erfahrungen in besinnlichen Systemen. Nicht nur dem Dritten Reiche konnte ein preußischer Ministerialdirektor bestätigen, daß es nicht aus dem Geiste der Philo­sophie, sondern aus dem Geiste der SA geboren sei auch sympathischere Ge­bilde werden im geschichtlichen Kampfe aus individuellen Leidenschaften und kol­lektiven Interessen geschaffen. Erst die nachdenkende Philosophie soll dann Re­flexion und Rechtfertigung bringen. Und dennoch ist das starke, auch gelegentlich des Prager Kongresses wieder hervor­getretene Interesse für die Philosophie in einer so wildbewegten Zeit nicht nur der Ausdruck einer Flucht aus der geschicht­lichen Wirklichkeit in die Metaphysik. Sondern man sucht im Gegenteil nach Orientierung für die Zukunft und hat das richtige Gefühl dafür, wie stark auch die Politik, ja vor allem sie, von einem Gesamtweltbilde abhängig ist. Der Marxismus hat die Philosophie von ihrem nachträglichen Charakter, ihrem hinter den Ereignissen Herhinken, befreien wollen. Der Satz, daß die Philosophen die Welt nur verschieden interpretiert haben, daß es aber darauf ankommt, sie zu ver­ändern, ist nicht nur der Ausdruck einer kämpferischen Stimmung, sondern einer sich ihrer selbst klar bewußten kämpferischen Philosophie. Und doch steckt in diesemReal-Humanis- mus" oder dialektischen Materialismus auch eine antiphilosophische Tendenz; Aufhebung, Ueberflüssigmachung der Philosophie durch ihre kämpferische Selbstverwirklichung. Als eine ganz ursprüngliche wesenhafte Richtung des menschlichen Geistes aber läßt sich Philo­sophie schlechterdings nicht auflösen: weder in den Klassen­kampf für den Sozialismus, noch in die menschliche Alltagsarbeit einer verwirk­lichten sozialistischen Ordnung. Philoso­phie ist nicht eine Haltung, die nur aus der bisherigen Struktur der menschlichen Gesellschaft und ihres elenden Alltags ab­leitbar wäre, und die mit einem besseren Alltag verschwinden müßte. Sie bleibt grundsätzlich und wurzelhafte Einstellung, die über jeden denkbaren Alltag heraus­strebt. Wegen des antiphilosophischen Mo­ments im Marxismus gelingt es nicht, ein philosophisches Weltbild aus dem Geiste des dialektischen Materialismus a 1 1 e i n zu schaffen.(Wie alle Versuche dazu deut­lich gezeigt haben.) Der historische Ma­terialismus hat als Methode der Ge­schichtsforschung sein selbständiges Eigen­recht. Seine philosophische Tendenz muß sich jedoch jeweüs einordnen in eigenlich philosophische Konzeptionen, und so hat er stets bei anderen Gesamtweltbildem Anlehnung gesucht. In der heutigen Situation der Philo­sophie heben sich aus der Fülle der Rich­tungen drei besonders deutlich hervor: 1. der kritische Idealismus, 2. die erneuerte Metaphysik(die sich in ihrer wirksamsten Strömung Existenzphilosophie nennt), 3. der radikale Posivitismus und Empirismus. Die existenzphilosophische Metaphysik ist zum großen Teil(es gibt einige Aus­nahmen) heute die Modephilosophie des