Nr. 70 BEILAGE

Heuer Vorwärts

14. Oktober 1934

Träume und Schäume in der Geschichte

I.

ideellen Wurzeln zu

der

Versteht er es

-

die

Scharlatane

,, Man muß träumen können." doskop der sozialen Massenträume und ihre tion oder von Charakter- und Gesinnungs-| nüchtern erscheinende Gegenwartsziele durch zur lockenden ( Lenin.) einem etwas willkür- qualitäten entschieden werden. Der Verfasser den Appell an die Phantasie lichen Gemisch wird. Soweit Fülöp- Miller reklamiert Nietzsche fürs Hakenkreuz und Vision zu machen und krankhafte, pathologi­Welche Rolle das Irrationale, das mit dem mit seinem historischen Streifzug etwas be- weiß, welche Ohrfeigen der Autor des Ueber- sche Massenstimmungen sachgerecht zu be­bloßen Verstand nicht zu Fassende, in der weisen will, so die These: alle bisherigen menschen dem Deutschtum, dem Germanen- einflussen, zu lenken und zu nutzen, wie etwa Politik spielt, hat uns in neuerer Zeit der Fa- sozialen Strömungen sind darauf ausgegan- rummel und aller antisemitischen Rassefatz- der Seelenarzt das Unterbewußtsein des Pa­schismus gelehrt. Aus dem Krankheitsboden gen, das Schicksal, das Unberechenbare zu kerei erteilt hat. Der neue Philosoph Hitlers tienten zu behandeln weiß. nothafter Jahre schießen plötzlich Bewegun- bannen, aber gerade aus dem unberechenbaren redet vom Mythos der Nation wie von etwas nicht, so besorgt es ein Kurpfuscher Es gehört zu den gen hervor, die mit scheinbar neuen Phrasen Schicksalhaften erwachsen Menschheit Bleibendem im ewigen Wechsel aller Dinge Resultate sind bekannt. nur so um sich werfen, alle intellektuelle Er- immer wieder neue Kräfte, es zwingt zum und weiß, daß es in der Entwicklung u. a. boshaftesten Witzen der Geschichte, daß sie kenntnis leugnen, sich an Denkfaulheit und Kampf, zu heroischer Lebensauffassung auch Gesetze gibt, wie die fortschreitende in Ermangelung wirklicher Führer oft die fragwürdigste Masseninstinkte wenden und und prompt landet er beim Faschismus. Und Technik, die Spezialisierung, die Vereinigung unmöglichsten Leute in Erlöserrollen drängt: trotz aller Armseligkeit und Vernunftwidrig- nun, in diesen letzten Kapiteln, beginnt ein der Menschengruppen zu immer größeren Narren, Schwindler, Dirnen, keit ihrer zusammengeflickten Gedankenwelt tolles Durcheinander der Widersprüche. Bis Einheiten, daß also zu dem Berechenbaren abnorme Leute, vom Zufall auf den Schild er­Keinerlei Enthüllung vermag ihren wachsen und herrschend werden. Menschen, dahin waren die großen leitenden Gedanken und Vorauszusehenden die wachsende Hilf- hoben. die bis dahin gewohnt waren, der Logik zu und Prinzipien einigermaßen klar, weil der losigkeit des Nationalismus gehört, dessen aus magischem Nichts entstandenen Nimbus gehorchen, pfeifen plötzlich auf kritische Ein- Verfasser aus dem vollen Ideenborn der Kul- Endlichkeit kein anderer als Mussolini mit zu zerstören. Und es sind gerade die patho­wände, laufen Rattenfängermelodien nach und turgeschichte schöpfen konnte, aber sowie er seinem internationalen Schrei nach der euro - logischsten Massenträume, die der Auflösung, geraten in einen Traum hinein, der ihnen allen Sinn für Tatsachen und Wirklichkeiten raubt. Denn Träume bestimmen nicht nur das Seelenleben des Einzelnen, sie wirken noch mächtiger, verwirrender, schöpferischer oder zerstörerischer, wenn sie ganze Gruppen, Schichten, Völker erfassen, und machen einen beträchtlichen Teil des Gefühls- und Gemüts­lebens aus. Gewiß sind es in erster Linie das materielle Sein und die rationalen Erkennt­nisse, die das politische Bewußtsein am stärk­sten formen, aber alle sozialen Zielsetzungen beginnen als Visionen, von Sehnsucht und Phantasie erschaut. Und immer wieder stei­gen aus dem Unterbewußtsein kleiner oder großer Gruppen angestaute Verdrängungen in Traumgestalt hervor, fordern Erlösung, Verwirklichung oder Bändigung und werden so durch ihre unterirdische Kraft zu einer Realität, die in ihrer Beharrlichkeit sehr oft jeder greifbaren, beweisbaren Wirklichkeit

trotzt.

II.

an

Die irrationalste aller Mächte, die Reli­gion, stammt aus Furcht und Träumen. Der Angsttraum ist so alt wie das Menschen­geschlecht. Im Schlafe löste sich seit je vom Urgrund der Menschenseele alles, was Schrecken, Gefahren, Not in ihm und um ihn war, und nahm Gestalt an. Diese Lebens­angst begleitet ihn von der Wiege bis zur Bahre, von der Urzeit bis in

unsere Tage,

denn die Traumschrecken weichen nicht mit der Nacht, sie bleiben, sie wachsen in Not­zeiten, sie kommen aus dem Unerforschlichen des großen Raumes, sie erwachsen aus der Hilflosigkeit, die das Menschengeschlecht vor den wechselnden Gewalten des Schicksals zeigte; sie weiten sich auf fortgeschrittene­ren Stufen zum ewigen Weltangsttraum und bevölkern die menschliche Phantasie mit Göt­tern und Teufeln, Dämonen und Engeln, Ge­stalten des Lichts und der Finsternis. Religionen, chiliastischen Bewegungen und Utopien sind aus dieser ewigen Lebensangst geboren; alle suchen sie die bannen, ewig brennt die Sehnsucht nach Be­seitigung dieser Angst, nach Bändigung des Bösen, Drohenden, nach dem

Retter. Aus dieser Angst vor

Alle

Schrecken zu

Heiland und

dem Uner­

Erschütte­

Steine statt Brot

HAUS DER NATIONALEN ARBEIT

UUINAGE

B

die Gedankenwelt des Faschismus umreißen| päischen Wirtschaftsverständigung

der Entlarvung, der Ueberwindung durch kritische Erkenntnisse am hartnäckigsten trotzen. Wer sich selbst betrügt, hat sich selbst überzeugt, darum besitzt der Selbst­betrug eine innere metaphysische Wahr­heit...". Der Mensch ist nicht nur eine Ver­geẞmaschine, sondern auch ein Selbstbetrugs­automat. Das Bedürfnis nach Illusionen, Blendungen und angenehmen Täuschungen ist wie alle reaktionären Massenerkrankungen beweisen mit der fortschreitenden Maschi­nisierung und Entseelung der Welt nicht ge­ringer geworden. Darum hat es die Wahrheit als die in der Politik auch meist schwerer Lüge und muß ungleich mehr Opfer bringen. Bruno Brandy.

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Vandalismus

aus Feigheit

Wenn man eben noch mit einem letzten Rest Glaubens an eine gewisse Anständigkeit und Festigkeit der Menschennatur gemeint hat, daß das im Dritten Reich Verbrochene nicht mehr überboten werden könne, straft einen der nächste Tag doch immer wieder Lüge. So wurde hier letzthin von der liebe­dienerischen Gesinnungslosigkeit der Ver­leger und Professoren gesprochen, als ob diese nicht mehr zu übertreffen wäre, aber die Tatsachen belehren uns eines anderen: der Verlag Th. Knaur Nachfolger in Berlin vereint in sich die Feigheit sei­die Scheiter­ner Berufsgenossen und haufenbarbarei jener professoralen und studentischen Henkersknechte, die die besten deutschen Bücher bespieen und ver­brannt haben.

Wir wußten von diesem Verlage Knaur schon längst, daß er sein treffliches kleines >> Konversationslexikon A- Z< un­mittelbar nach Hitlers Machtantritt aus dem Handel zog, weil dort der» Führer« als>> De­korationsmaler« verächtlich gemacht war. Man konnte die Maßnahme immerhin noch mit dem ersten Schrecken entschuldigen, der über die Deutschen im März 1933 gekommen war, aber für die neueste Niedertracht des Verlages kann diese Ausrede nicht mehr gel­ten: er läßt nämlich 30.000 jawohl, in Worten: dreißigtausend! Exemplare der> Geschichte der Kunst< von Richard Hamann einstampfen, weil der» Völkische Beobachter< das Buch verrissen hat!

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Wie sollte aber auch der» Völkische Be­obachter< ein Werk loben, das von der ersten bereits bis zur letzten Zeile ein Meisterwerk ist, ge­

Denn eine

forschlichen entstehen Wunschträume vom Reich der Glückseligkeit, von der Ueber­windung aller irdischen Aengste. rungen des sozialen Lebens gebären immer wieder Weltuntergangsvisionen, die mit chi­liastischen Hoffnungen im Kampfe liegen, schleudern Heilande und Schwärmer, Narren und Führer in den Mittelpunkt des Gesche­hens. Jünger finden sich, Massen folgen soll, beginnt der Nebel, enthüllt sich die ganze angeklindigt hat. Gewalt, Gewalt zu wel- laden mit Originalität, Wissen und wunder­ihnen besinnungslos durch dick und dünn, werfen in Fieberzuständen der großen Erwar­tung ihr Hab und Gut von sich, opfern, kreu- Phrasen wie Macht, Willen, Schicksal, Blut, zeugung. Es ist ein Buch für den hitlerdeut- noch nicht da: an tausend Seiten stark, mit zigen, geißeln, töten sich und andere. Und Heroismus, Mythos.... Wir erfahren da, daß schen Markt, und diese Erörterung lohnte 1120 zumeist neu aufgenommenen Bildern Meister der Ver- der italienische Faschismus den ,, Primat des sich lediglich deswegen, weil sich auch an geschmückt, um den Spottpreis von Mk. 4.80 heißungen, immer wieder zerschellen glühende Willens verkündet und der Nationalsozialis- dem Buch dieses Edelfaschisten zeigt, daß es jedem Interessierten erreichbar, gibt sie nicht. Illusionen an rauhen Wirklichkeiten, aber die mus den ,, Primat des Blutes" und daß der keine faschistische Theorie, kein faschi- nach überkommener Art Biographien, Stil­Sehnsucht nach Ueberwindung der Angst eine wie der andere damit der Ent person- stisches Weltbild, sondern lediglich eine von beschreibungen und Stilentwicklung, sondern bleibt und zeugt neue Träume. Manche von lichung entgegen wirke. So täuscht sich überallher zusammengeborgte braunschwarze sie stellt das künstlerische Schaffen mitten ihnen verändern die Umwelt, manche erwel- ein Kritiker der sozialen Träume über den Phraseologie gibt, die am Ende des kapitali - in den lebendigen Fluß der europäischen Ge­

immer wieder versagen

sen sich als Schäume.

III.

Diesen Wunschträumen

Leere dieser Psychosen. Plötzlich umwirbeln chem Ende? Auch Fülöp- Miller weiß darüber barer volkserzieherischer Kraft? uns Begriffe statt Gedanken, umtönen uns nichts auszusagen, und so fehlt uns die Ueber- solche Kunstgeschichte wie die Hamanns war

eigenen Kitschtraum! Einer wie Fülöp- Miller stischen Zeitalters gerade noch zu einem ver- samtkultur und zeigt immer wieder, wie weiß recht gut, daß die Faschismen aller rückten Nottraum verelendeter und verwirr- man die Kunstwerke ansehen muß und was ihren besonderen künstlerischen Wert der Menschhelt Arten überall einer Zwangsjacke glei- ter Schichten reichte. ausmacht.

IV.

Wir Sozialisten haben an der machtvollen

Sie leitet durch all das zum selbständigen

hat der österreichische Schriftsteller René chen und daß die Mechanisierung des Men­Fülöp- Miller ein Buch gewidmet: Führer, schen in Hitler- Deutschland durch die staat­Schwärmer und Rebellen"( Verlag lich organisierte Kasernierung und den Mission des sozialistischen Zukunftsstaates Miterleben und kritischen Erfassen an, wie Bruckmann, München .)

Träume

Das Buch will sich ödesten Herdenbetrieb verschärft wird erfahren, welche Werbekraft der traumhaf- es noch keine kürzere Kunstgeschichte traf, nur mit solchen Situationen beschäftigen,, wo Er behandelt den hakenkreuzlerischen My- ten, vorwärtsweisenden Utopie innewohnen und das mag in den Augen des>> Völkischen das Leben thos der Rasse" als etwas Einheitliches, Fe- kann, aber die Gefahren wirklichkeits- Beobachter« ihr eigentliches Verbrechen sein; es stes, dabei weiß er, daß Hitlers Rassetheore- feindlicher Massenträume haben aber darf es den Mitschöpfer des Buches, den die Rasse- wir nicht genügend beachtet. Es sollte zur Verleger, der einen imposanten organisato­

gestaltend

auf

der Menschheit eingewirkt haben", aber will gleichzeitig die philosophischen Zusam- tiker noch darüber streiten, ob menhänge geben, wodurch das bunte Kalei- merkmale vom Blut oder von der Konstitu- Kunst sozialistische Politik gehören, auch rischen Apparat aufgeboten hat,

um diese